Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe)
machen, aber alle Kräfte meiner Seele verlassen mich bei dem bloßen Gedanken an diese eine Möglichkeit.
Ich sehe, wie wenig Grund ich habe, mich zu beunruhigen, und kann es doch nicht vermeiden. Ich fühle, entfernt von Ihnen, immer bitterer meine Leiden, und als wären sie nicht schon hinreichend, um mich danieder zu drücken, schmiede ich mir neue in der Einbildung, welche die Bitterkeit der anderen noch steigern. Zuerst war meine Unruhe minder groß. Der Wirrwarr des plötzlichen Aufbruchs, die Aufregung der Reise spielten mir meinen Unmuth aus dem Sinne; in der stillen Einsamkeit kehrt er mit neuer Kraft zurück. Ach! ich kämpfte; ein tödtlicher Stahl hat meine Brust durchbohrt und der Schmerz macht sich lange nach der Verwundung erst fühlbar.
Hundert Mal habe ich bei Romanen über die frostigen Klagen getrennter Liebenden gelacht. Ach, ich wußte damals nicht, wie unerträglich mir eines Tages die Trennung von Ihnen sein würde. Ich fühle jetzt, wie wenig eine ruhige Seele geeignet ist, über Leidenschaften zu urtheilen, und wie unsinnig es ist, über Gefühle zu lachen, die man nicht erfahren hat. Soll ich es Ihnen aber sagen? Ich weiß nicht, was für ein tröstliches, süßes Gefühl in mir die Bitterkeit Ihrer Entfernung mildert, indem ich mir sage, daß es auf Ihr Geheiß so ist. Die Leiden, die mir von Ihnen kommen, sind mir minder schmerzlich, als wenn sie mir vom Schicksal zugetheilt waren; wenn sie dazu dienen, Sie zufrieden zu stellen, so wünsche ich nicht, sie nicht zu fühlen; sie tragen die Bürgschaft in sich, daß sie mir vergolten werden, und ich kenne Ihr Herz zu gut, um zu glauben, daß Sie um nichts und wieder nichts barbarisch sein sollten.
Wenn Sie mich auf die Probe stellen wollen, wohl, ich murre nicht; es ist billig, daß Sie erfahren, ob ich beständig, geduldig, fügsam, mit Einem Worte, der Güter werth bin, die Sie mir aufsparen. Himmel! wenn das Ihr Gedanke wäre, so würde ich mich nur beklagen, daß ich zu wenig leide. O! nein, um in meinem Herzen eine so süße Erwartung zu nähren, erfinden Sie, wo möglich, Leiden, die ihres Lohnes noch würdiger sind.
Zwanzigster Brief.
Von Julie.
Ich erhalte Ihre beiden Briefe zu gleicher Zeit; und ich sehe aus der Unruhe, welche Sie in dem zweiten über das Schicksal des anderen zu erkennen geben, daß, wenn die Einbildungskraft den Vorsprung hat, die Vernunft ihr nicht nachkommen kann und oft sie ganz laufen läßt. Haben Sie denn gedacht, als Sie in Sion ankamen, daß ein Courier nur eben für Sie bereit stünde, um mit Ihrem Briefe abzugehen, damit ich diesen Brief gleich bei seiner Ankunft erhielte, und daß sich für meine Antwort die Gelegenheit nicht weniger günstig darbieten würde? Es geht nicht so, mein allerliebster Freund. Ihre beiden Briefe sind mir gleichzeitig zugekommen, weil der Courier, der nur einmal die Woche geht, erst mit dem zweiten abging. Die Austheilung der Briefe erfordert einige Zeit; mein Commissionair braucht Zeit, um mir den meinigen heimlich zuzustellen, und der Courier geht von hier nicht sogleich am Tage nach seiner Ankunft wieder ab. Also, richtig gerechnet, sind acht Tage nöthig, wenn der Abgang des Couriers wohl in Acht genommen wird, um Antwort von einander zu erhalten; ich setze Ihnen dies auseinander, um Ihre lebhafte Ungeduld ein für alle Male zu beschwichtigen. Während Sie gegen das Schicksal und meine Nachlässigkeit declamiren, sehen Sie, ziehe ich genaue Erkundigung ein über Alles, was unseren Briefwechsel sicher stellen und Ihre Besorgnisse zur Ruhe bringen kann. Ich überlasse Ihnen, zu entscheiden, auf welcher Seite die liebreichste Fürsorge ist.
Reden wir nicht mehr von Leiden, mein lieber Freund! Ach, ehren und theilen Sie vielmehr die Freude, welche ich empfinde, nach acht Monaten Abwesenheit den besten Vater wieder zu sehen. Er kam Donnerstag Abend an, und ich habe seit diesem glücklichen Augenblick nur an ihn [Das Vorangehende beweist, daß sie lügt.] gedacht. O du, den ich nächst den Urhebern meiner Tage am meisten auf der Welt liebe, warum betrübst du mit deinen Briefen, deinen Klagen meine Seele, und störst die ersten Freuden der Wiedervereinigung einer Familie? Du möchtest, daß sich mein Herz ohne Unterlaß nur mit dir beschäftigte; aber sage mir, könnte das deinige eine unnatürliche Tochter lieben, die über ihre Liebesglut die Rechte des Blutes vergäße und die die Klagen ihres Geliebten für die Liebkosungen eines Vaters unempfindlich machten? Nein, mein würdiger Freund, vergifte nicht durch ungerechte Vorwürfe die unschuldige Freude, die mir ein so süßes Gefühl einflößt. Du, dessen Seele so zärtlich und so fein fühlt, begreifst du nicht, welcher Zauber darin liegt, in dieser reinen, heiligen Umarmung zu fühlen, wie dascVaterherz freudig an der Tochter schlägt? Ach! glaubst du, daß in solchem Augenblick das Herz sich theilen könne, ohne der Natur etwas zu vergeben?
Sol che son figlia io mi rammento adesso. [“Als Tochter fühl' ich mich und nur als Tochter.“] Denken Sie indessen nicht, daß ich Sie vergesse. Hat man je vergessen, was man einmal geliebt hat? Nein, auch die lebhaftesten Eindrücke, denen man sich einige Augenblicke überläßt, verwischen deshalb nicht die anderen. Nicht ohne Leid habe ich Sie abreisen sehen, nicht ohne Freude würde ich Sie wiederkommen sehen. Aber .... gedulden Sie sich, wie ich mich gedulde, weil es sein muß, und fragen Sie nicht weiter. Sein Sie überzeugt, daß ich Sie so bald als irgend möglich zurückrufen werde, und bedenken Sie, daß, wer am lautesten über die Trennung klagt, nicht immer Der ist, welcher am meisten leidet.
Einundzwanzigster Brief.
An Julie.
Was habe ich ausgestanden, als ich ihn in Empfang nahm, diesen heiß ersehnten Brief! Ich erwartete den Courier auf der Post. Kaum ist das Packet geöffnet, nenne ich meinen Namen, werde dringend; man sagt mir: es ist ein Brief da, ich zittere vor Freuden, ich fordere ihn, von tödtlicher Ungeduld getrieben; endlich erhalte ich ihn. Julie, ich sehe die Züge deiner angebeteten Hand! Die meinige zittert, indem ich sie ausstrecke, um dies kostbare Pfand zu empfangen. Ich hätte sie tausendmal küssen mögen, diese gebenedeiten Schriftzüge: o Furchtsamkeit einer schüchternen Liebe! ich habe nicht den Muth, den Brief an meinen Mund zu führen, noch ihn vor Zeugen zu öffnen. Ich eile hinweg. Meine Knie zittern unter mir: meine wachsende Aufregung läßt mich kaum auf meinen Weg achten. Hinter der ersten Ecke öffne ich den Brief; ich durchfliege ihn, ich verschlinge ihn; und kaum bin ich bei den Zeilen, wo du so schön die Freude deines Herzens bei der Umarmung deines verehrungswürdigen Vaters schilderst, so zer gieße ich in Thränen; man sieht mich an; ich schlüpfe in einen Baumgang, um den Beobachtern zu entrinnen: dort theile ich deine Rührung; ich umarme mit Entzücken diesen glücklichen Vater, den ich kaum kenne; und indem die Stimme der Natur mich an den meinigen erinnert, vergieße ich auch dessen verehrtem Andenken Thränen.
Und was für Belehrung, unvergleichliches Mädchen, wolltest du denn in meinem trübseligen, eiteln Wissen schöpfen? Ach! Von Ihnen, Julie, muß man lernen, was nur Gutes, Edles in ein menschliches Herz kommen kann, und vor Allem dieses himmlische Beisammensein von Tugend, Liebe und Natürlichkeit, das sich so noch nirgend wie in Ihnen fand. Nein, es giebt keine gesunde Liebesregung, die nicht in Ihrem Herzen eine Statt hätte, die sich in ihm nicht durch die Zartheit auszeichnete, welche Ihnen eigen ist, und wenn ich mein eigenes Herz aus den rechten Weg leiten will, so sehe ich wohl, ich muß, wie ich alle meine Handlungen Ihrem Willen unterworfen habe, so auch alle meine Gefühle den Ihrigen unterthänig machen.
Welcher Unterschied aber zwischen Ihrer Lage und der meinigen! o, übersehen Sie es nicht. Ich spreche nicht von Ihrem Rang und Vermögen; das gleichen Ehre und Liebe alles aus: aber Sie sind umgeben von Menschen, die Ihnen theuer sind und von denen Sie angebetet werden: die Sorgen einer zärtlichen Mutter, eines Vaters, dessen einzige Hoffnung Sie sind; die Freundschaft einer Cousine, die nur für Sie zu athmen scheint; eine ganze Familie, deren Zierde Sie sind; eine ganze Stadt, die stolz darauf ist, daß sie Sie werden sah, alles das heischt und theilt Ihre zärtlichen Gefühle; und was der Liebe übrig bleibt, ist nur der geringste Theil unter dem allen, was ihr die Rechte des Blutes und der Freundschaft entziehen. Aber ich, Julie, ach! umherirrend, ohne Familie, und fast ohne Vaterland, ich habe nur Sie auf Erden und die Liebe allein ist mein Alles. Wundern Sie sich also nicht, mag auch Ihre Seele die gefühlvollere sein, daß