Jean Jacques Rousseau

Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe)


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der Leiden, welche ihre Last unerträglich macht; und die Seele widersteht weit leichter heftigen Schmerzen als lang anhaltender Trübsal. Dies ist, mein Freund, die schwere Art Kampf, die wir fortan zu bestehen haben werden: nicht heldenmüthige Thaten legt uns das Schicksal auf, sondern einen noch heldenmütigeren Widerstand gegen unablässige Kümmernisse.

      Ich hatte es nur zu gut vorhergesehen: die Zeit des Glückes ist vorübergegangen wie ein Blitz; die Zeit des Unglücks beginnt, und, nichts kommt zur Hülfe, um zu erkennen, wann sie enden wird. Alles beunruhigt und entmuthigt mich; eine tödtliche Abspannung bemächtigt sich meiner Seele; ohne daß ich recht eigentlich Ursache hätte, zu weinen, entfallen unwillkürlich Thränen meinen Augen: ich lese nicht unausweichliches Unglück in der Zukunft; aber ich pflegte die Hoffnung und ich sehe sie alle Tage mehr verwelken. Was nützt es, ach, das Bäumchen zu begießen, wenn es an der Wurzel abgeschnitten ist?

      Ich fühle es, mein Freund; die Last der Trennung drückt mich danieder. Ich kann nicht ohne dich leben, ich fühle es; das ängstiget mich am meisten. Ich laufe hundertmal des Tages überall hin, wo wir mit einander verweilten, und nirgend finde ich dich. Ich erwarte dich zur gewohnten Stunde, die Stunde geht vorüber, und du kommst nicht. Alles, was ich sehe, erinnert mich an dich und mahnt mich, daß ich dich verloren habe. Du hast nicht diese schreckliche Marter. Dein Herz allein kann dir sagen, daß ich dir fehle. Ach, wenn du wüßtest, wie viel größer die Qual ist, am Orte zu bleiben, wenn man sich trennt, wie würdest du deine Lage der meinigen vorziehen!

      Und wenn ich noch zu seufzen wagte, wenn ich von meinen Leiden sprechen dürfte, so würde die Klage mein Weh lindern; aber außer einigen Seufzern, die ich verstohlen in den Busen meiner Cousine aushauche, muß ich alle anderen ersticken; ich muß meine Thränen zurückhalten; ich muß lacheln, während ich vergehe.

      Sentirsi, oh Dei! morir, E non poler mai dir: Morir mi sento!

      [Sich fühlen, o Götter, vergehn Und nimmer dürfen gestehn: Es bricht mein Herze,

       Metastasio.]

      Das Schlimmste ist, daß alle diese Leiden mein Hauptübel unaufhörlich verschlimmern; und daß ich nur immer lieber an dich denke, je mehr mich dein Andenken in Verzweiflung bringt. Sage mir, Freund, mein süßer Freund, fühlst du wohl, wie sehr die Wehmuth das Herz zärtlich stimmt und wie die Liebe in der Trübsal höher aufwallt?

      Ich wollte mit Ihnen von tausend Dingen reden; aber außer dem, daß es besser ist, zu warten, bis ich bestimmt weiß, wo Sie sind, ist es mir nicht möglich, diesen Brief fortzusetzen, in dem Zustande, in welchem ich mich beim Schreiben befinde. Adieu, mein Freund; ich scheide von dem Papier, aber, glauben Sie mir, nicht von Ihnen.

      Billet.

      Ich schreibe durch einen Schiffer, den ich nicht kenne, unter der gewöhnlichen Addresse, um anzuzeigen, daß ich Meillerie zu meinem Aufenthalte gewählt habe, am gegenüberliegenden Ufer, um mich wenigstens an dem Anblicke des Ortes zu erfreuen, dem ich nicht zu nahen wage.

      Sechsundzwanzigster Brief.

       An Julie.

       Inhaltsverzeichnis

      Wie hat sich mein Zustand in wenigen Tagen verwandelt! Wie viel Bitteres mischt sich in das süße Gefühl, Ihnen näher zu sein! Was für trübe Gedanken belagern mich! Was für Widerwärtigkeiten zeigt mir meine bange Ahnung in der Ferne! O Julie! was für ein unseliges Geschenk des Himmels ist eine empfindsame Seele! Wem eine solche zu Theil geworden, der sei darauf gefaßt, auf Erden nichts als Kummer und Schmerz zu haben! Ein elendes Spielzeug der Luft und des Wetters; Sonne oder Nebel, bedeckter oder heiterer Himmel machen sein Geschick, und er ist freudig oder traurig, je nachdem der Wind steht. Ein Opfer der Vorurtheile, findet er in abgeschmackten Grundsätzen ein unübersteigliches Hinderniß seiner gerechten Herzenswünsche. Die Menschen strafen ihn dafür, daß er ein richtiges Gefühl von jeder Sache hat und sie mehr nach dem beurtheilt, was wahrhaft, als nach dem, was herkömmlich ist. Alleinstehend hätte er schon daran genug, um elend zu sein, daß er sich unkluger Weise dem himmlischen Zuge des Rechten und Schönen überläßt, während die schweren Ketten der Nothwendigkeit ihn an die Schmach binden. Er trachtet nach dem höchsten Glücke, und bedenkt nicht, daß er ein Mensch ist; sein Herz und seine Vernunft sind in ewigem Streite, und schrankenlose Begierden legen ihm ewige Entehrungen auf.

      Dies ist die grausame Lage, in welche ich gestürzt bin, ich, den das Schicksal niederdrückt, während mich mein Gefühl emporreißt, ich, den dein Vater verachtet, während du die Wonne und die Qual meines Lebens bist. Ohne dich, unselige Schönheit, würde ich niemals diesen unerträglichen Gegensatz von Hoheit im Innersten meiner Seele und Niedrigkeit in meiner äußerlichen Stellung empfunden haben; ich hätte ruhig gelebt und wäre zufrieden gestorben, ohne es des Blickes werth zu achten, welchen Rang ich auf der Erde eingenommen hatte. Aber dich gesehen haben und dich nicht besitzen können, dich anbeten und nichts sein als ein Mensch, geliebt sein und nicht glücklich sein dürfen, an demselben Orte leben und nicht mit einander leben dürfen! .... O Julie, der ich nicht entsagen kann! o Schicksal, das ich nicht bewältigen kann! welche furchtbaren Kämpfe regt ihr in mir auf, ohne daß ich jemals weder meiner Begierden noch meiner Ohnmacht Meister werden kann!

      Wie wunderbar und unbegreiflich ist das! Seit ich Ihnen näher bin, wälze ich, nur finstere Ahnungen in meinem Geiste umher. Vielleicht trägt der Ort, an dem ich mich befinde, zu meiner Schwermuth bei: er ist trübselig und schauerlich; er stimmt nur desto besser zu dem Zustande meiner Seele, und ich würde an einem angenehmeren nicht so geduldig aushalten. Eine starre Felskette läuft am Ufer entlang und umgiebt meine Wohnung, die der Winter noch schauriger macht.. Ach, ich fühle es, wenn ich Ihnen entsagen müßte, meine Julie, würde kein anderer Wohnort mehr, keine andere Jahreszeit mehr für mich sein.

      In der gewaltsamen Aufregung, in welcher ich mich befinde, habe ich nirgend Ruhe; ich laufe, steige mit Anstrengung, schwinge mich auf die Felsen, durchlaufe die Gegend mit hastigen Schritten und finde überall in den Gegenständen außer mir denselben Graus, der in meinem Innern herrscht. Man sieht kein Grünes, das Gras ist gelb und welk, die Bäume sind blätterlos, der Dürrwind [Séchard, Nordost.] und der grimmige Nord häufen Schnee und Eis, und die ganze Natur ist meinen Augen todt, wie die Hoffnung im Grunde meiner Seele.

      Unter den Felsen an diesem Strande habe ich in einem einsamen Winkel eine kleine Bergplatte entdeckt, von wo man die ganze Stadt überblickt, die glückselige Stadt, in der Sie wohnen. Denken Sie, mit welcher Gierde meine Augen nach dem geliebten Orte späheten. Den ersten Tag machte ich unsägliche Anstrengungen, um Ihre Wohnung heraus zu erkennen; aber die große Entfernung machte es mir unmöglich, und ich nahm wahr, daß meine Einbildungskraft die ermüdeten Augen zum Besten halte. Ich lief zu dem Pfarrer, um mir ein Fernglas zu leihen, mit dessen Hülfe ich Ihr Haus sah oder zu sehen glaubte; und seitdem bringe ich die ganzen Tage damit hin, an dieser verborgenen Stätte nach den glücklichen Mauern zu schauen, welche den Quell meines Lebens umschließen. Ungeachtet der Jahreszeit gehe ich früh Morgens hin und kehre erst bei der Nacht heim. Laub und etwas dürres Reis, das ich anzünde, dient mir, nächst Auf- und Niederlaufen, mich vor der scharfen Kälte zu wahren. Ich habe mich so in diesen wilden Ort verliebt, daß ich sogar Tinte und Papier hinnehme; und ich schreibe dort jetzt diesen Brief auf einem Block, den der Frost vom nächsten Felsen losgesprengt hat.

      Dies ist der Ort, meine Julie, wo dein unglücklicher Liebster vielleicht die letzten Tropfen der Freude trinkt, die ihm in dieser Welt bescheert war. Von da aus erkühnt er sich, durch die Luft und Mauern hindurch verstohlen bis in dein Gemach zu dringen. Deine lieblichen Züge treffen noch sein Auge; deine zärtlichen Blicke beleben noch sein sterbendes Herz; er vernimmt den Ton deiner süßen Stimme, wagt noch einmal in deinen Armen jenen Wahnsinn zu suchen, der ihn damals in jenem Gebüsche trunken machte: Eitles Trugbild einer aufgeregten Seele, die in ihrer Sehnsucht irre schweift! Bald gezwungen, wieder zu mir selbst zu kommen, will ich dich wenigstens in allen Einzelheiten deiner unschuldigen Lebensweise mir vergegenwärtigen: ich folge von fern deinen verschiedenen Beschäftigungen