William Boyd

Der Mann, der gerne Frauen küsste


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überlegte angestrengt. »All diese Mädchen waren dunkelhaarig, alle hatten sie Jobs. Und ich will nicht einfach nur bezahlten Sex, da bin ich mir sicher.« Ich erzählte ihr, dass ich in einer Londoner Telefonzelle stand, deren Scheiben mit Dutzenden Visitenkarten von Prostituierten zugeklebt waren, mit den verlockendsten Fotos von Schönheiten aller Färbungen, die um Kundschaft warben. »Ich empfand nichts. Ich hätte jede von ihnen anrufen können. Es kommt auf die Sorte Mädchen an, es geht darum, dass sie arbeiten …« Ich schaute sie ratlos an. »Vielleicht hilft eine Hypnose?«

      »Was ist denn mit deiner Hand passiert?«

      »Ich wollte meinen besten Freund zusammenschlagen.«

      »Mein Gott. Höchste Zeit, dass wir anfangen.« Sie spitzte die Lippen, trommelte mit den Fingern auf der Schreibtischplatte. »Hast du was dagegen, wenn ich mit jemandem über deinen Fall spreche? Ich hätte da eine Vermutung.«

      »14. August. Ranking Hotel, Bloomsbury. Ich bin zu Hause ausgezogen, und Stella hat um die Scheidung gebeten. Dummerweise, verrückterweise habe ich ein Mädchen mit nach Hause genommen, eine Serviererin namens Katerina, Russin, glaube ich, oder Ukrainerin. Ich sagte ihr, sie könne bei uns wohnen, zur Untermiete, wir hätten jede Menge freie Zimmer. Als sie gerade das Gästezimmer im Keller besichtigte, kam Stella zurück. Ich hatte das Mädchen nicht angerührt (obwohl ich es natürlich vorhatte). Im nachfolgenden Streit stellte sich heraus, dass John-Jo ihr von Encarnación und mir erzählt hatte. Stella war der Ansicht gewesen, dass ich mich in eine altersbedingte Satyriasis verrannt hatte, und bereit, darüber hinwegzusehen, aber damit war es nun vorbei. Sie sei angeekelt von mir, schrie sie. So ein Mädchen ins Haus zu holen! Was ich denn von ihr erwarten würde? Immerhin habe sie sich noch einen Rest Würde bewahrt. Sie verwies mich des Hauses, und ich fügte mich kleinlaut. Morgen fahre ich nach Edinburgh, vielleicht ist es am besten, das mit mir selbst zu klären.«

      III Edinburgh

      Edinburgh im Hochsommer wurde von stürmischen Winden und heftigen Regenschauern aus dem Norden gebeutelt, die immer mal wieder von strahlendem Sonnenschein und milden Lüftchen unterbrochen wurden. Im Handumdrehen trockneten die nassen Straßen, Schirme wurden zusammengeklappt, Regenmäntel abgeworfen, und in den Terrassengärten unter der düster dräuenden Burg wimmelte es plötzlich von halb nackten Sonnenanbetern, bis sich – unvermeidlich – die schieferblauen Wolken über Fife und über der Nordsee zusammenballten und die Stadt von Neuem mit kräftigen, ergiebigen Schauern überzogen.

      Ich war seit Jahren nicht dort gewesen und hatte vergessen, dass sich die Stadt jedes Jahr im August einer Invasion von Festivalbesuchern auslieferte, Princes Street und Royal Mile von vielsprachigem Geschnatter erfüllt wurden, sich Bretterzäune und Plakatwände in Flickenteppiche aus Postern und Reklame verwandelten. Doch unter all dem bunten Plunder des Kulturtourismus mit seinen kosmopolitischen Events und der knisternden Atmosphäre des Feierns und Genießens schien die alte, mürrische, verrußte Seele dieser Stadt stoisch abzuwarten, bis alles vorüber war. Nur eine Woche, dann sind diese lärmenden, lachenden Menschenmassen verschwunden, schien die Botschaft zu besagen, die man an den grimmigen, teilnahmslosen Gesichtern der Einheimischen ablesen konnte, dann können wir mit dem ernsten Geschäft fortfahren, hier unser Leben zu fristen.

      All das, die alte Stadt mit ihren harschen Gepflogenheiten, stand mir lebhaft vor Augen, als ich durch eine der öden dunkelgrauen Straßen der New Town lief und mir der Regen schon wieder ins Gesicht peitschte, während ich auf die Nummer 37 zuging und dort das Messingschild (übersät mit eisigen Tropfen) neben dem Klingelknopf erblickte, auf dem geschrieben stand: The Royal Scotch Institute of Hydrodynamic Engineering und darunter der lapidare Hinweis: Lieferanten bitte am Hintereingang klingeln.

      Eine winzige grauhaarige Frau mit übernatürlich hellen Augen öffnete die Tür und führte mich zu einem Stuhl in der großen, fast dunklen Vorhalle, wo zahlreiche gefirnisste Porträts von Ingenieurgrößen des neunzehnten Jahrhunderts auf mich herabblickten. »Mr Auchinleck ist sofort bei Ihnen«, sagte sie und huschte zurück in ihr Büro, aus dem ich kurz darauf ein Geräusch hörte, das immer seltener wird: das geschäftige Klappern einer mechanischen Schreibmaschine.

      Es war Petra Fairbrother gewesen, die mich – unbewusst – dazu veranlasst hatte, das schäbige Hotel in Bloomsbury zu verlassen und mich nach Norden aufzumachen. Sie spürte mich dort auf und erzählte mir mit aufgeregter Stimme am Telefon, sie habe einen »Anhaltspunkt«, obwohl sie selbst nicht wisse, ob er etwas hergeben werde.

      Sie hatte meine Blätter mit den Beispielen »automatischen Schreibens«, wie sie es nannte, einem Freund gezeigt, der Mathematikprofessor in Cambridge war. Ihm kamen meine Zeichnungen – die X-Figuren mit den verlängerten Armen – vage bekannt vor, und er hatte versprochen, Recherchen anzustellen. Ich malte mir lebhaft aus, wie meine Blätter in den Professorenclubs der Colleges herumgereicht wurden, wie ehrwürdige Häupter sich über meine Hieroglyphen beugten und sich in gelehrten Spekulationen ergingen … Doch wie auch immer: Nach wenigen Tagen schon meldete er sich mit der Nachricht, das fragliche Zeichen sei von einem Kollegen der Technischen Fakultät erkannt worden. Es bestehe durchaus die Möglichkeit, berichtete mir Petra Fairbrother, dass das Zeichen, das ich zehntausend Meter über dem Atlantik zu Papier gebracht hatte, ein Konzept darstelle, das in der Hydrodynamik als »Andreas-Welle« bezeichnet werde.

      Ein paar Stunden Recherche in einer lokalen Bibliothek förderten die wesentlichen Fakten über die Andreas-Welle zutage. Sie bezeichnet ein Phänomen, das der schottische Ingenieur Findlay Smith Quarrie 1834 entdeckt hatte. Eines Nachmittags ritt er am Ufer des Union Canal bei Edinburgh entlang und bemerkte, als ein Lastkahn plötzlich gestoppt wurde, dass sich das Wasser nach kurzer heftiger Aufwallung beruhigte und dann eigenständig als gleichmäßige Welle fortpflanzte – so als bewegte sich der Lastkahn noch vorwärts und als fände die durch seine Fortbewegung verursachte Wasserverdrängung weiterhin statt. An jenem besonderen Tag hatte Quarrie seinem Pferd die Sporen gegeben und war der Welle über mehrere Meilen gefolgt. Sie war auf rätselhafte Weise real, obwohl sie wie von Geisterhand ausgelöst schien. Es war, bemerkte Quarrie in der Abhandlung, die er mit der Bitte, den anthropomorphen Charakter seiner Beobachtungen zu entschuldigen, beim Institute of Hydrodynamic Engineering einreichte, »als ob sich das Wasser an die Einwirkung des Lastkahns erinnerte«.

      In seiner Abhandlung schlug er ein mathematisches Symbol zur Bezeichnung dieses Phänomens vor: zwei parallele Linien, die sich infolge eines Energiewechsels in der Mitte kreuzten. Er nannte es Andreas-Welle, weil die daraus resultierende Form an eine verlängerte Version des weißen X auf blauem Grund, nämlich die schottische Flagge, erinnerte, die gemeinhin als Andreaskreuz bekannt ist.

      Ich saß genauso unvoreingenommen wie erwartungsfroh in der halbdunklen Vorhalle des Instituts und wartete auf Mr Auchinleck. Warum es mich nach Edinburgh gezogen hatte und was ich hier herauszufinden hoffte, war mir nicht ganz klar, aber zumindest war ich aktiv geworden und hatte etwas in Angriff genommen. Vielleicht führte dieser Besuch zu irgendeiner besonderen Erkenntnis, und mein sechster Sinn sagte mir, dass sie in der längst verblichenen Person von Findlay Smith Quarrie zu suchen war.

      Ein Geräusch quietschenden Gummis nahte auf dem gebohnerten Parkett des Instituts, bevor Mr Auchinleck in Erscheinung trat: ein Mann Anfang dreißig mit einer Fülle wellig-krausen braunen Haars. Er trug einen grauen Anzug und ein Hemd im Schottenkaro ohne Krawatte. Das Quietschen kam von seinen groben Sandalen, deren Sohlen offenbar aus Autoreifen geschnitten waren. Ich konnte mir nicht verkneifen, nach unten zu schauen, und sah mit einiger Bestürzung, dass seine übermäßig langen Zehennägel wie gekrümmte gelbe Krallen unter den Querriemen der Sandalen hervorschauten.

      Auchinleck war ein umgänglicher Zeitgenosse – »nennen Sie mich Gilles«, bot er mir sofort an – und erfreut zu erfahren, dass ich mich für Findlay Smith Quarrie und die Andreas-Welle interessierte.

      »Ein faszinierender Mensch«, sagte Auchinleck. »Seiner Zeit voraus, gewissermaßen. Ich glaube nicht, um ehrlich zu sein, dass er wirklich wusste, was er mit seiner Welle entdeckt hatte.« Er grinste. »Heute sagen wir, alles ist wellenförmig, nicht wahr? Atome sind sowohl Welle als auch Teilchen«, referierte er in gelehrigem Singsang. »Angeblich ist sogar das Denken ein Wellenphänomen.«