William Boyd

Der Mann, der gerne Frauen küsste


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die Form zweier einander überlagernder Peitschenriemen hatte und das, noch weiter vereinfacht, eine merkwürdig verflachte und abgerundete X-Gestalt annahm. Zudem schlug er vor, das Phänomen fortan als »Kilmaron-Welle« zu bezeichnen, und er reiste von Holland nach Edinburgh zurück, um seine Abhandlung »Über ein Phänomen turbulenten Wassers« im neu gegründeten Institute of Hydrodynamic Engineering vorzutragen. Bei der Ankunft musste er jedoch feststellen, dass Findlay Smith Quarrie wenige Wochen schneller gewesen war: In der kleinen Welt der hydrodynamischen Technik wurde Quarries erstaunliche Andreas-Welle mit all ihren Implikationen bereits eifrig diskutiert.

      »18. August. Der Vernunftwidrigkeit dessen, worüber ich schreiben will, bin ich mir vollkommen bewusst. Ich weiß, welche Gefahr sie für mich darstellt, wie sie mein Bild in der Öffentlichkeit verändern wird, aber ich bin mir sicher, und das mit der ganzen Gewissheit meines Herzens und meines Verstandes, dass alles, was mir seit jenem Tag im Mai geschah, als meine Hand Symbole zu malen begann, dass all das mit Wallace Kilmaron und seinem Tod im Jahr 1840 zu tun hat.«

      Als ich las und rekonstruierte, was Wallace Kilmaron nach der Entdeckung seiner Kilmaron-Welle widerfahren war, wusste ich, dass diese Ereignisse, die hundertfünfzig Jahre zurücklagen, systematisch mein Leben zerstörten – aufgrund welcher Umstände auch immer. Die letzte Gewissheit stellte sich ein, als ich am Ende eines der Nachrufe las, dass Wallace Kilmaron, sechs Monate bevor er starb, sein Zimmermädchen, eine Sarah McBride, geheiratet und ihr sein Vermögen vererbt hatte. Kilmarons Familie hatte diese Verbindung nie anerkannt und später vor Gericht bezeugt, Kilmaron habe die Heirat und die Testamentsänderung in einem »Zustand der Trunkenheit und Demenz« verfügt.

      IV Biarritz

      Didier Visconti lächelte; seine große, sonnengebräunte Hand strich mir kurz über die Schulter.

      »Nicht der Rede wert, Alex«, sagte er. »Du hast für alles bezahlt. Alle werden darüber reden. Ich werde berühmt. Ich sollte dir dankbar sein.«

      Mir war zum Heulen zumute – vor Dankbarkeit. Am liebsten hätte ich diesen stattlich-jovialen Franzosen umarmt, ihm erzählt, er habe mir das Leben gerettet. Stattdessen sagte ich: »Ich kann es dir nicht erklären – oder doch, aber es wäre sinnlos, du würdest mich für verrückt halten. Sagen wir, ich musste es einfach tun.«

      Didier schaute auf die gusseiserne Tafel hinab, die am Rand des vierzehnten Abschlags in den Rasen eingelassen war. Ich hatte sie in sechs Sprachen beschriften lassen – Französisch, Englisch, Deutsch, Niederländisch, Italienisch, Spanisch –, und der Text lautete: »Die Wasser-Schikane bei diesem Loch ist einzigartig im Golf. Sie beruht auf einem Phänomen des turbulenten Wassers, das 1834 von dem schottischen Ingenieur Wallace Kilmaron entdeckt wurde und als Kilmaron-Welle bezeichnet wird.«

      Wir folgten einer mäandernden Vierergruppe schwedischer Damen mittleren Alters den Fairway hinab zum vierzehnten Green. »Les Cerisiers« war ein neuer Golfplatz, angelegt von seinem Eigentümer Didier Visconti, einem reichen Bauunternehmer, und landschaftlich gestaltet von Harrigan-Rief Associates. Meinen Plänen zufolge war ein Bach in einen schmalen Kanal mit flacher Böschung umgeleitet worden, der mehrere Hundert Meter am Rand des vierzehnten Fairways verlief und ihn kurz vor dem vierzehnten Grün kreuzte – um als tückische Wasserschikane zu fungieren (alle Bälle, die hineinfielen, waren unwiederbringlich verloren) – und dann unterirdisch fortgeführt wurde, um den künstlichen Teich vor dem Clubhaus (Architekt: John-Joseph Harrigan) zu speisen.

      In den Monaten des Baus und der Landschaftsgestaltung waren Didier Visconti und ich dicke Freunde geworden, und ich entwickelte eine große Vorliebe für diesen Teil der Atlantikküste. Als ich Didier am Telefon die Änderung der Wasserschikane am vierzehnten Loch vorschlug, hatte er sofort eingewilligt, und ich war mit Fotokopien der einschlägigen Seiten in Kilmarons Buch gen Süden geflogen.

      Zwei örtliche Handwerker, ein Zimmermann und ein Schmied, hatten eine verkleinerte Kopie der von Kilmaron konstruierten wellenerzeugenden Plattform angefertigt (die von einem Benzinmotor bewegt wurde), und ich ließ sie an der Stelle einbauen, wo der Bach in meinen künstlichen Kanal umgewandelt wurde. Das Ganze funktionierte recht gut und erzeugte Serien von wandernden Wellenbergen, die sich über die ganze Länge der Wasserschikane fortsetzten.

      Didier und ich standen in der Abendsonne und sahen den Kilmaron-Wellen nach, die sich durch den Kanal bewegten, während die schwedischen Golferinnen ihre Bälle mit hackenden und stümperhaften Schlägen auf das Green beförderten.

      »Glaubst du, dass sie von den Wellenbewegungen aus dem Konzept gebracht werden?«, fragte Didier. »Dass die Ablenkung zu groß ist?«

      »Genau deshalb nennt man es Wasserschikane«, sagte ich. »Ich prophezeie: In zehn Jahren siehst du diese Kilmaron-Schikanen überall. Die Amerikaner werden sie lieben. Sie sind neu – und ein Stück lebendige Geschichte.«

      »Wir machen einen Deal«, sagte Didier und hatte schnell einen Vorschlag parat. »Du bekommst Prozente, okay?«

      »Die Rechte gehören dir«, sagte ich. »Mach ein paar Millionen mehr damit.«

      Didier lachte und schüttelte mir die Hand. Dann umarmte er mich mit großer Geste. »Warum machst du mir so ein Geschenk? Du könntest damit reich werden!«

      Ich dachte darüber nach und verfolgte die Kilmaron-Wellen, die stetig und wie von selbst an meinen Füßen vorbeitrieben.

      »Sagen wir einfach«, ich überlegte kurz, »es dient meinem Seelenfrieden.«

      Die Wissenschaft ist voll von solchen bizarren Zufällen, dass zwei oder mehr Leute dieselbe Entdeckung machen und zeitgleich zu einem übereinstimmenden Beweis, Axiom oder Theorem gelangen. Dass zwei schottische Ingenieure im Jahr 1834, ohne voneinander zu wissen, im Abstand von wenigen Wochen das Phänomen des turbulenten Wassers entdeckten und beide den Ruhm für sich beanspruchten, ist für die Wissenschaftsgeschichte kaum von Bedeutung. Durch Glück oder geographische Gegebenheiten kam Quarrie seinem Kollegen Kilmaron zuvor und konnte der Entdeckung einen Namen seiner Wahl geben: Andreas-Welle, nicht »Quarrie-Welle«, wohlgemerkt, und ich bin sicher, dass darin die Ursache von Kilmarons tiefer Verbitterung lag. Quarrie war ein reicher Mann – seine Bergwerkspumpe sollte ihn zum Millionär machen –, und als »Quarrie-Pumpe« war sie schon weltweit verbreitet. Wallace Kilmaron, der als unbekannter Techniker in den feuchten Niederungen von Südostholland arbeitete, hatte geglaubt, sich mit seiner Entdeckung einen Namen machen zu können. Aber seine Hoffnungen wurden jäh zerstört. Für manche Menschen, für manche zerbrechlichen Seelen, sind solche Enttäuschungen nicht zu verkraften.

      »2. September. Cap Ferret. Ich sitze im Schatten dieser Strandhütte und schaue auf die anrollenden Brecher. Meine Fahrt an der Atlantikküste entlang, von Biarritz nach Norden, verläuft langsam und mit vielen Zwischenstationen wie dieser – und ich hoffe, glaube, rede mir ein, dass es vorbei ist, dass ich wieder der Alte bin.

      Gestern Abend rief ich Stella an: ›Ich glaube, ich bin wieder gesund‹, erklärte ich ihr. ›Ich möchte nach Hause kommen.‹ Sie sagte Nein – sofort und eiskalt. Sie wolle mich nie wiedersehen, sie habe keine Lust auf neue Demütigungen. Ich erzählte ihr von Kilmaron, und sie lachte. ›Du armseliger Wicht‹, sagte sie. ›Zu glauben, dass du mich mit diesem Unsinn an der Nase herumführen kannst!‹ Wenn meine Geschichte über Wallace Kilmaron und wie ich seinen verderblichen Einfluss aus meinem Leben verbannt hatte also überhaupt etwas bewirkt hatte, dann höchstens, dass sie noch wütender wurde: ›Du bist krank‹, sagte sie voller Abscheu. ›Such dir Hilfe. Aber halte dich fern von mir und den Jungen.‹

      Immer wieder geht mir der Gedanke durch den Kopf – während ich nach Antworten für das suche, was mir in den letzten Monaten passiert ist –, dass die Theorie der Kilmaron-Welle vielleicht von noch größerer Tragweite ist. So wie die Kilmaron-Welle eine nachhaltige physische Manifestation der Erinnerung an das Boot oder die Turbulenz ist, die es verursachte, so – vermute ich jetzt – könnten auch Menschen einen ähnlichen Effekt auslösen, eine Wellenwirkung, die sich durch die Zeit erstreckt.

      Wallace Kilmaron starb in einem Zustand der Verbitterung und Enttäuschung, von Findlay Quarrie um seine kleine Portion Entdeckerruhm und wissenschaftliche