doch Paul, der Supervater, legt ihr schnell eine verständnisvolle Hand aufihren nackten Arm.
»Weißt du«, sagt er und zieht sie von mir fort. »Meine Frau ist heute ein wenig erregt. Wollen wir ihr nicht lieber ein bißchen Ruhe gönnen? Und ihr eine Schmerztablette geben?«
»Das müssen Sie natürlich selbst entscheiden«, sagt sie schmollend und schüttelt sich, als er sie losläßt. Sie hat eine Gänsehaut bekommen. So eine Wirkung hat er auf Frauen. Sobald sie das Bettchen hinausgerollt haben und ich allein im Zimmer bin, hole ich meine Handtasche unter dem Nachttisch hervor. Suche meine Kosmetiktasche, lege Minimal-Make-up auf – Eyeliner, Mascara und Lippenstift – und verfalle über dem Fragment von Gesicht, das ich im Spiegel sehe, ins Grübeln. Meine Augen sind blutunterlaufen, und meine Haut ist gefleckt wie bei einer Kinderkrankheit. Beides hat seine Ursache in der Überanstrengung, wie mich dieselbe Lernschwester vor einiger Zeit belehrt hat. Ich habe Ränder unter den Augen und gerissene Lippen, und trotz meiner sorgfältigen Bemalung sehe ich ungefähr so frisch und gesund aus wie eine russische Fabrikarbeiterin in einer überfüllten Morgenmetro. Mit einem leichten Kopfschütteln lege ich die Kosmetiktasche weg und lese statt dessen in einer der Zeitungen, die Paul mir am Kiosk gekauft hat. Meine Augen gleiten über die auffälligen Titelzeilen – eine erneut gebrochene Waffenruhe in Bosnien, amerikanischer Wahlkampf, EU-Debatte – ohne an den Worten einen Halt zu finden, sie lösen sich auf und werden zu Druckerschwärze, Buchstaben, Konsonanten und Vokalen, die eine Welt beschreiben, die mit einem Mal so unendlich fern ist. Ich beginne von vorn. Buchstabiere mich voran und zwinge mein Gehirn zur Konzentration. Das darf nicht wahr sein, daß ich im Laufe von weniger als einem Tag von diesem Universum weggezogen worden bin, das meines war, seit ich selbständig denken kann. Das darf nicht wahr sein, daß meine gesamte Konzentration darauf ausgerichtet ist, auf Schritte auf dem Flur zu lauschen, da ich hier mit einer abgekämpften Erleichterung darüber liege, allein zu sein, die mir überhaupt nichts nützt, weil ich mich gleichzeitig leer fühle wie eine verlassene Kathedrale. Diese Veränderung erschreckt mich – und als ich endlich vertraute Schritte und das Holpern über die Türschwelle höre, halte ich die Zeitung wie ein Schild vor mir aufgeschlagen. »Hallo!« sage ich über den Rand und muß mich dennoch gleichzeitig beherrschen, nicht aufzustehen und sie aus dem Bettchen zu ziehen. Ich muß sie sehen, sie riechen, sie fühlen. »Wie ist es gelaufen? Hat sie gepinkelt?«
»Et cetera! Schwarzes Mekonium! Wie im Lehrbuch!« sagt Paul stolz über ihr erstes Produkt und hebt sie aus dem Bett. Zu abrupt in seiner Begeisterung, so daß sie einen erschrokkenen Schrei von sich gibt, der mir direkt in die Gebärmutter fährt. Jetzt kann ich ihr nicht länger widerstehen.
»Sie hat sicher Hunger«, sage ich beiläufig und knöpfe mich auf.
»Wird sie wohl«, sagt Paul und legt sie zu mir. »Die vollgeschissenen Windeln darf man wechseln! Aber wenn es wirklich darauf ankommt, ist man doch zu nichts nutze!«
Ich kichere verschämt, wie eine, deren heimliche Gefühle durchschaut werden. Vielleicht hat er es ja noch nicht entdeckt – ich habe es ja selbst kaum bemerkt –, aber von jetzt an ist er auf den zweiten Platz verwiesen.
»C’est la vie!« sage ich, während er uns wieder hilft. Und gerade in dem Moment, als ihr angstvolles Weinen von einem sanften Saugen abgelöst wird, wird Heidi hereingefahren.
Ohne Kind, wie ich sofort bemerke. Und bin beunruhigt, denn mit ihrem geschwollenen Gesicht und den angeschwollenen, halbgeschlossenen Augen sieht sie aus wie jemand, der im letzten Moment den Folterknechten der Militärjunta entrissen wurde.
»Heidi?« frage ich leise, als sie an ihrem Platz ist.
Sie öffnet langsam die Augen, versucht unter Schwierigkeiten, mich zu fokussieren, bis sie mit dem frischen Vollmilchlächeln, das ihr besonderer Vorzug ist, ein schwaches »Hallo!« ausstößt.
»Erkennst du mich wieder?« frage ich.
»Ja!« nickt sie. »Du bist ... Therese! Die von gestern, oder? Was hast du gekriegt?«
»Ein Mädchen«, sage ich und kann nicht vermeiden, daß ich mein trinkendes Kind anlächle. Paul ist Gott sei Dank diskret. Trotz seiner offensichtlichen Neugier hält er sich so sehr im Hintergrund, daß er fast nicht mehr zugegen ist.
»Ich habe einen Jungen«, sagt sie. »Er liegt im Wärmebett unten auf der Neo-wie-heißt-das-noch ...«
»Neo-natal!« werfe ich ein, erleichtert darüber, daß sie überhaupt ein Kind hat.
»Neo-natal, ja. Aber nicht, weil irgendwas nicht stimmt, weißt du. Er ist nur ’n bißchen klein. Und dann haben sie noch geglaubt, er hat Gelbsucht ... Aber das hat er garantiert nicht«, sagt sie und bricht plötzlich in ein rauhes Krähengelächter aus.
»Nee?« Paul und ich wechseln Blicke. Das Baby läßt die Warze los. Lauscht dem krächzenden Lärm. Wir haben das Gefühl, als balancierten wir auf einem Seil über der Katastrophenschlucht.
»Das hab ich ihnen auch gesagt – ›Das Kind hat keine Gelbsucht‹, hab ich gesagt, ›es ist nur ’n Vietnamese!‹« Heidi lacht wieder, roh und häßlich, während sie sich an die Stirn faßt.
»Das war vielleicht verrückt! Ihr hättet die Gesichter sehen sollen!« sagt sie und bezieht Paul mit ein, dessen Mundwinkel zucken.
»Aber Heidi«, sage ich und beiße mir auf die Lippen, um nicht selbst loszulachen. »Dein Freund, der René, ist er denn Vietnamese?«
»Nein, zum Teufel, nein!« gluckst sie.
»War er dabei? Hat er es noch geschafft?« frage ich.
»Ja, und wie er dabei war. Er hat vor Rührung Rotz und Wasser geheult, als das Kind rausgekommen ist und er gesehen hat, daß es ein Junge war!«
»Ja, und dann?« frage ich weiter. »Ich meine, als du ...«
»Ja, und dann?« Ihr Lachen verstummt jäh. »Er ist Amok gelaufen. Hat mich verdroschen ...«
»Verdroschen?« murmelt Paul, der Gentleman.
»Ja, ich habe reichlich eins in die Fresse gekriegt! Das ist ja eigentlich auch ganz in Ordnung, oder? Also, ich kann das verdammt gut verstehen, daß der Mann sauer geworden ist. Aber als er auf den Kleinen losgehen wollte, das konnte ich nicht mehr ab. Da bin ich vom Bett runter. Ich glaube, ich hätte ihn totschlagen können! Aber ich habe ihm nur in die Eier treten können, dann sind die Bullen gekommen und haben ihn rausgeschafft ... Das ist die viel größere Scheiße«, fügt sie nachdenklich hinzu, während Paul und ich sie mit offenen Mündern anstarren. Der reinste Comic: virtual reality.
Paul ist nicht umsonst Reporter. Er hakt nach, während ich mich im Gesicht meines Kindes verliere.
»Du mußt doch mit der Möglichkeit gerechnet haben, oder?« fragt er. »Ich meine, du mußt doch gewußt haben, daß eine gewisse Möglichkeit bestand, daß René nicht der Vater war?«
»Wer nicht wagt, der nicht gewinnt!« wirft sie leicht hin und fragt, ob man hier wohl rauchen dürfe?
Das darf man auf keinen Fall, betont die Lernschwester, als sie das Abendessen, Eisentabletten und Codymagnyl verteilt. Heidi wirft den schlaffen Scheiben unter dem Metalldeckel einen wählerischen Blick zu und schlurft dann aus dem Zimmer, um im Aufenthaltsraum »ein bißchen Nikotin zu inhalieren«.
»Ein außergewöhnlicher Charakter!« bemerkt Paul mit einer dieser aristokratischen Untertreibungen, die seine Klassenzugehörigkeit hervorheben. Ich gebe ihm leicht lächelnd recht – Heidi ist offensichtlich sehr einfach und lustig, aber andererseits ist sie eigentlich nicht theatralischer als die turbantragende Frauengestalt, die kurz darauf mit einem teilweise von einer riesigen Sonnenbrille verdeckten Gesicht hereinflattert: meine Mutter.
»Nein, was ist sie entzückend!« bricht sie bereits auf dem ersten Meter ins Zimmer aus, so daß die Scheiben zittern und ein erschrockener Zug über das zarte Gesicht des Babys huscht.
»Psst!« weise ich sie mit dem Finger auf dem Mund zurecht, und Mutter entschuldigt sich mit Commedia-dell’arte-Mimik und einer Kußhand für Paul, der wie immer in Mutters