Morgen war das Gespenst in die Erde verbannt. Aber in der nächsten Nacht kam sie zurück, die Angst, die vielleicht eine neue Angst vorm Sterben war, eine Verletzlichkeit, die ich nie zuvor gekannt hatte. Und seitdem sind die Nächte voller Furcht, voller Alpträume mit deformierten Geschöpfen, siamesischen Zwillingen, mit Katzenkörpern geboren, einbalsamierten Föten in Schuhkartons. Ich werde von Krämpfen in den Beinen geweckt, muß aufstehen, Wasser trinken, pinkeln und zu mir selbst kommen. Mich zur Vernunft bringen, spüren, wie das Kind den Rücken bewegt und den Fuß streckt, ein lebendes Dementi, das mich im Morgengrauen aus dem Totenreich zurückholt.
Paul meint, es sei Moskau, das mich einholt. Daß ich gezwungen sei, mich der Angst zu stellen, die ich fühlte, als ich kurz davor gewesen war, von meinem ganz besonderen Mafiafreund, Alexander Kuznetsow, umgebracht zu werden. Sascha, unter Freunden.
»Du mußt deine Angst zulassen!« forderte er mich auf, als wäre er in einem Seelenklempnerkurs gewesen. »Du warst kurz vorm Sterben, Lady! Und dann gib doch endlich zu, daß der Krankenhausaufenthalt kein Picknickausflug war! Du mußt nicht immer die starke Frau sein!«
Ich gebe zu, daß ich neben den hormonal bedingten Gemütsschwankungen an den Nachwirkungen eines Schocks leide, wie damals, als ich vom Fahrrad geholt wurde. Ich gebe auch zu, daß die Wochen im Krankenhaus retrospektiv mit einer Reise durch den Vorhof der Hölle zu vergleichen sind. Aber ich bin, was die Strategie angeht, ganz anderer Meinung. Meiner Meinung nach gehört der Urschrei auf den Therapiemarkt, wo die Leute sich herzlich gerne auf dem Boden wälzen und brüllen sollen, wenn sie meinen, das gäbe ihnen einen Kick. Ich persönlich kenne eine sehr viel effektivere und wirksamere Kur: Arbeit.
»Müßiggang ist die Wurzel allen Übels«, antwortete ich auf seine Diagnose, als wir Ende August das Ferienhaus verschlossen, um in die Stadt zurückzukehren. »Ich habe einfach zuviel Zeit. Ich muß was zu tun haben. Ich kann nicht so herumlaufen und warten und von morgens bis abends in meinen Eingeweiden herumwühlen.
»Du hast was zu tun!« beharrte er. »Du mußt ein Nest bauen!«
»I prefer intellectual work!« Ich verdrehte die Augen wie meine russische Freundin Swetlana, die dieses Argument als Entschuldigung für ihre praktische Faulheit zu verwenden pflegt. Übrigens hat sie gerade überglücklich aus Moskau angerufen. Sie hat einen Job als Übersetzerin und Sekretärin in einer amerikanischen Beratungsfirma bekommen, »so soon I’ll be living in New York!«.
Aber ich weiß nur zu gut, daß ich mich nicht weigern kann. Ich muß ein Nest bauen. Während ich im Krankenhaus war, bekam Paul endlich die Carte blanche, um meine Wohnung zu räumen und zu vermieten. Ich war matt und geschwächt und unterschrieb den Mietvertrag mit dem fatalistischen Gefühl, entmündigt zu werden. Und jetzt, hinterher, wo ich eigentlich damit einverstanden bin, daß Paul und ich mit unserem Kind zusammen in seiner Wohnung leben werden, weil sie größer und schöner ist als meine, bin ich dennoch nicht ganz frei davon, mich hintergangen zu fühlen. Wenn es also schon schwierig war, mich zu überwinden, auszuziehen, so ist es noch schwieriger, einzuziehen. Paul hingegen hat den Weg dazu bereitet, indem er rigoros seine eigenen Sachen aussortiert hat, damit Platz für mich ist. Regalplatz, Schrankplatz, Schubladenplatz. Sogar Wandplatz für meine Pinnwand, als ob das einen Unterschied machen würde. Mein Leben als Single ist vorbei, ganz gleich, wie wir die Tatsache auch beschönigen. Als wir auf dem Land waren, war es nur ein undramatischer Entwicklungsschritt, aber hier in der Stadt, wo ich die ganze Zeit mit den Kulissen meines alten Lebens konfrontiert bin, scheue ich vor dem Neuen wie vor einem Hindernis. Ich kann mich nicht zu dem endgültigen Sprung, der Kapitulation, überwinden, wie sinnlos es auch in diesem Stadium erscheint. Also ist mein Leben immer noch in Umzugskartons verpackt, unästhetisch in Pauls hübschen Zimmern aufgestapelt. Irgendwie tue ich, als wäre ich nur zu Besuch und könnte, wann immer ich wollte, mich aus dem Terrain zurückziehen. Zu mir.
Dem Kind gegenüber kann ich mich jedoch merkwürdigerweise einfacher verhalten. Ich kann akzeptieren, daß es vernünftig ist, rechtzeitig einen Kinderwagen zu kaufen, und aufgrund meiner Initiative fahren wir zu einem Babyausstattungsgeschäft am Roskildevej. Ich bin es auch, die Paul unter Druck setzt, den »Gründungskredit« anzunehmen, den Ernst, sein reicher Vater, uns großzügig anbietet. »Zins- und gebührenfrei«, so daß hier von einem regulären Sponsoring die Rede ist, auch wenn Paul sich etwas anderes einbildet. Ich persönlich habe keine Skrupel, im Gegenteil: Ich wüßte nicht, wie wir sonst eine Investition in die Zukunft hätten bewerkstelligen können.
»Weißt du, daß wir uns dieses Projekt eigentlich gar nicht leisten können?« warf ich ein, als wir im Geschäft standen und auf einen Kurier warteten, der Kinderwagen, Wiege, Wickeltisch, Badewanne, Wipper und Babyphone in die Nørre Søgade bringen sollte.
»Natürlich können wir das«, sagte er. »Wenn nicht wir, wer dann?«
»Eine Packung Pampers kostet fast hundert Kronen! Wir werden kaum noch Geld fürs Kino haben!«
Paul lächelte satanisch.
»Wir werden keine Zeit fürs Kino haben!«
Das machen wir dafür im voraus. Und gehen ins Café und in die Galerien, in Geschäfte und in den Wald – und zur Beerdigung eines lieben, pensionierten Kollegen. Er war einer der Grand Old Men der Auslandskorrespondenten, gerecht, humorvoll und so großzügig, daß er gern sein Wissen mit den Jungen teilte, wenn er beim Sender »mal reinschaute«. Ich war eine derjenigen, die er aufgrund ihres Mutes respektierte, aber aufgrund meines Übermutes ermahnte, wie er selbst sagte. Als ich also in der vollen Kirche saß, fiel mir auf, daß ich den feinen, älteren Herrn gern gemocht hatte, und an dem gebeugten Kopf des Generals ein paar Reihen vor mir sah ich, daß auch er gerührt war. Die Witwe dankte hinterher gerührt, daß ich gekommen war und sie an den »Lebenskreis« erinnert hatte, und ihre warme Rede über die Freude nach der Trauer war so unerwartet bewegend, daß ich Paul am Arm packte und ihm sagte, wir müßten sofort gehen.
»Und was ist mit dem Leichenschmaus?« fragte er flüsternd.
»Ich halte es nicht aus. Es ist zu traurig«, brachte ich heraus und entschuldigte meine Unpäßlichkeit. »Das sage ich dir – die Wartezeit geht mir auf die Nerven. Ich muß was zu tun haben! Warum geht es nicht endlich los? Ich bin schon sechs Tage überfällig!«
»Weil du dich nicht traust!« sagte Paul und lotste mich zum Alfa auf dem Parkplatz. Von meinem Platz auf dem Beifahrersitz aus erwiderte ich ein Winken des Generals, der aus seinem heruntergekurbelten Fenster fragte, ob es denn ein Mammut wäre, mit dem ich niederkommen sollte.
»Zwei!« rief ich zurück, während Paul schäumte. »Mußt du mit ihm auf diese Art und Weise flirten?«
»Flirten? Nun mal ehrlich, Paul, du hast doch gehört, was ich gesagt habe. Das war nicht just sexchikane!«
»Er soll mein Kind nicht ein Mammut nennen!« schnaubte Paul daraufhin, während ich lachte.
»Warum schlägst du ihn dann nicht nieder? Ein für allemal?«
»Irgendwann werde ich das auch tun!« sagte er unheilschwanger und trat aufs Gas, daß der Kies unter den Reifen wegspritzte. Paul, sonst die Geduld in Person, gleich, ob ich fettige Haare oder geschwollene Knöchel hatte, unleidlich und empfindlich war, beginnt, mich jetzt auch erwartungsvoll anzusehen, wenn ich eine der langen Vorwehen bekomme, die wir inzwischen »Narrenwehen« nennen. Aber es passierte nichts, so die niederschmetternde Mitteilung, wenn Kiki, meine Schwester, mindestens zweimal am Tag anruft und Mutter überraschend aus den Proben vorbeischaut, um zu hören, ob es etwas Neues gibt. Birgitte hat vorgeschlagen, wir sollten »es losbumsen«, die Prostaglandine im Samen des Mannes wirkten wehenfördernd, was die Ärztin zögernd bestätigte. Aber das erste Mal, seit wir uns kennen, kann Paul nicht. Ganz gleich, welche Verführungskünste ich auftische, er bleibt schlaff wie ausgekochte Spaghetti.
»Nicht, daß du nicht wahnsinnig süß bist«, entschuldigt er sich. »Aber ich habe irgendwie das Gefühl, als wäre das Kleine dabei und würde zugucken.«
Birgitte schnalzt bedauernd mit der Zunge, als sie von seiner Impotenz hört.
»Ihr solltet es aber trotzdem genießen, denn hinterher