Hanne-Vibeke Holst

Seine Frau


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bis hinunter in die Massai-Ebene an einem warmen, sonnenflimmernden Tag vor langer Zeit. Einem Blick, der sie zu dem Punkt in der Geschichte zurückführt, an dem sich alles wendete und Gert die Oberhand gewann. Dem Punkt in der Geschichte, als Gert in der Massai-Ebene einen Löwen mit einem Schuss erlegte und ihr Vater anschließend behauptete, ihn selbst erlegt zu haben, obwohl die ganze Jagdgesellschaft Zeuge geworden war, dass er vorbeigeschossen hatte.

      »Hättest du ihn wirklich erschossen?«, fragt Ole-Stig und erinnert sich an den Augenblick, in dem Gert das Gewehr gehoben, auf seinen Vater angelegt und mit einer Stimme wie Trockeneis gesagt hatte, dass die nächste Kugel für ihn sei, wenn er nicht sofort zugab, dass das gelogen war.

      »Ja«, Gert schwenkt den Cognac im Glas. »Das hätte ich.«

      »Tough guy«, nickt Ole-Stig.

      »Meinst du ihn oder mich?«, fragt Gert säuerlich.

      »Ihn! Unseren Vater. Er war ein harter Mann«, sagt Ole-Stig.

      Gert zuckt mit den Schultern.

      »Für Mutter war es schlimm. Und für dich.«

      »Du hast es doch auch abbekommen!«, wirft Ole-Stig ein.

      »Aber ich konnte es aushalten.«

      Schweigend ziehen sie an ihren Zigarren. Ole-Stig hat Schwierigkeiten, seine am Brennen zu halten; als integrierter Lifestyle-Amerikaner hat er schon vor Jahren das Rauchen aufgegeben. Das sollte Gert auch. Zwanzig King ohne Filter pro Tag fordern ihren Preis. Falten, Krebs und Raucherlunge, schön wird das nicht. Hinzu kommen noch die Sonnenschäden aus der Kindheit. Er sollte sich auch auf Hautkrebs testen lassen. Ole-Stig hat damit angefangen, sich Muttermale entfernen zu lassen. Prophylaktisch.

      »Eigentlich glaube ich nicht, dass irgendein Kind das aushalten kann«, ermannt er sich zu sagen. Sie haben noch nie darüber gesprochen. Über die Misshandlungen, die Gewalt. Den Gürtel, die Kleiderbügel. Die Demütigungen. Die Verwirrung darüber, dass der eigene Vater Arzt, Christ und gleichzeitig gewalttätig war. Das passte nicht zusammen. Schon gar nicht in Ole-Stigs empfindsamem Gemüt. Er ist geneigt, seinem shrink recht zu geben, dass seine eigene Entscheidung für die Medizin mit seinem lebenslangen Versuch zu tun hat, einen Zusammenhang zu schaffen. Er hätte ein Arzt für die Armen und nicht für die Reichen werden müssen, hätte etwas in der großen Rechnung begleichen sollen.

      »Man wird vermutlich abgehärtet. Lernt, Widerstand zu ertragen, zurückzuschlagen. Ziemlich nützlich in der Politik«, sagt Gert und schneidet hinter dem Zigarrenrauch eine sarkastische Grimasse.

      »Ist das so?«, fragt Ole-Stig.

      »Ist was so?«

      »Die Politik? Geht es nur darum, sich schlagen zu können?«

      Gert legt die Zigarre in den Aschenbecher, pult Tabak von der Zunge.

      »Mmm. Im primitiven Sinn, ja. Wenn du dich nicht schlagen kannst, hast du in der Politik nichts verloren. Das ist hart. Brutal. Genau wie damals im Dorf. Dort konnten die Schwachen auch nicht überleben, oder? Sie gingen drauf. Das wärst du auch ...«

      »Wenn ich dich nicht gehabt hätte! Ich war schließlich nur ein kleiner, rothaariger Jammerlappen, sag es ruhig.«

      Ole-Stig hält lächelnd eine abwehrende Hand hoch. Jetzt sind sie zurück in der Welpenzeit. Zwei gleichaltrige Brüder, die einander aufziehen, miteinander streiten und aufeinander eifersüchtig sind, letztendlich aber Zusammenhalten.

      »Kannst du dich erinnern, wie wütend er geworden ist, als du dein Fahrrad verliehen hast? Wie viel hast du noch mal zusammenbekommen? Du bist steinreich geworden!«

      Gert lacht.

      »Zuerst habe ich es gratis gemacht ...«

      »Um sie auf den Geschmack zu bringen! Du warst schon immer ein Finanzgenie!«

      »Danach habe ich zehn Cent die Minute genommen! Das war billig! Und die Ärmsten bekamen Rabatt. Ich habe das Geld für einen edlen Zweck gespart! Kannst du dich nicht mehr erinnern? Ich wollte Geld für Ekomodo verdienen ...«

      Ole-Stig schaudert. Ekomodo war das Ungeheuer des Dorfs. Ein von der Syphilis zerfressener Krüppel, der mit seinem entstellten Gesicht und dem in Fäden aus den Mundwinkeln hängenden Speichel durch die Gegend trottete. Sein kleiner Neffe hat ihn herumgeführt, alle anderen hatten entweder Angst vor ihm oder schossen mit der Steinschleuder Steine nach ihm. Außer Gert, der sich als Einziger von den weißen Kindern herabließ, mit ihm zu reden. Manchmal gab er ihm sogar Zigaretten, die er dem Vater gestohlen hatte, oder Mais aus ihrem Küchengarten hinter dem Haus.

      »Ich hatte viele Jahre Albträume von ihm«, murmelt Ole-Stig.

      »Ja, und doch war er so friedlich wie nur ... Ein armer Ausgestoßener. Dafür brauchte ich das Geld. Kannst du dich erinnern, wie arm er war? Er hatte nicht einmal eine Decke zum Schlafen.«

      »Mutter hat ihm doch einmal eine gegeben, nicht wahr?«

      »Ja. Und ich wollte ihm ein Radio kaufen. Ihm die Überraschung seines Lebens bereiten, verstehst du?« Gert sieht auf seine Zehen hinunter. Bewegt sie hin und her. Sie sind schön und wohlgeformt wie seine Finger.

      »Aber das zu erklären, habe ich nie geschafft, nicht? Die Prinzipien hinter der Umverteilung ... Vater hat geglaubt, dass ich die kleinen Negerkinder ausgebeutet habe, nicht?«

      Die beiden Brüder drehen ihre Zigarre zwischen den Fingern. Auch Ole-Stig pult sich etwas Tabak aus dem Schnäuzer. Er färbt ihn seit Kurzem. Lächerlich. In Skandinavien ganz besonders.

      »Großvater war wohl auch kein großer Pädagoge«, meint er schließlich. Als eine Art Verteidigung.

      »Der Pfarrer?«, sagt Gert spöttisch. »Noch so ein selbstloser Humanist.«

      »Erinnerst du dich an die Geschichte mit dem Betttuch?«, fragt Ole-Stig schaudernd, während der Albtraum der Kindheit sich rührt.

      »Nicht wirklich. Wie war das noch?«

      Ole-Stig seufzt. Eigentlich ist das keine Geschichte, an die er sich erinnern möchte. Da sie paradoxerweise seine eigene bedingt.

      »Vater hat ins Bett gemacht, bekam Prügel, damit er aufhört, aber es hat nicht geholfen. Dann hat Großvater Großmutter verboten, seine Unterhose, seine Schlafanzughose und sein Betttuch zu wechseln. Vater hatte die Wahl, seine stinkenden, vollgepinkelten Sachen zu tragen oder nach draußen zu gehen und sie in einem Eimer auf dem Hofplatz zu waschen. Er hat sich zu Letzterem entschlossen, und da stand der kleine fünfjährige Knirps mitten im Winter mit nacktem Hintern und wusch seine Sachen im eiskalten Wasser. Keiner durfte ihm helfen, und obwohl Großmutter und das Dienstmädchen in der Küche standen, weinten und die Hände rangen, wagten sie nicht, ihm beizustehen. Er musste selbst das Betttuch auf die Wäscheleine hieven, und bevor er fertig war, war er natürlich selbst klatschnass und durchgefroren. Und als er eine Lungenentzündung bekam, war das die Strafe Gottes!«

      »Der Mann war ein Sadist!«, entscheidet Gert kategorisch, als ginge es um eine besondere, prähistorische und seit Langem ausgestorbene Rasse, die in keiner Weise etwas mit ihm zu tun hat.

      »Ja«, gibt Ole-Stig zu. »Er war ein Sadist. Aber das Unheimliche ist doch, dass der Fluch sich weitervererbt hat, nicht?«, sagt Ole-Stig zu spät, um sich in die Zunge zu beißen. So war das nicht gemeint. Aber so wird es auch nicht aufgefasst, denn Gert scheint in seine eigenen Gedanken versunken.

      »Anyway«, fährt Ole-Stig fort und sieht wieder seinen Vater vor sich, an diesem Tag in der Ebene, unmittelbar vor Sonnenuntergang, die Sonne als rote Scheibe im Hintergrund. In seinem kakifarbenen Anzug mit dem breitkrempigen Lederhut auf dem Kopf, das Gewehr im Triumph erhoben. »Es war trotzdem gut, dass du ihn nicht erschossen hast. Trotz allem.«

      »Hmm. Darüber könnte man diskutieren.«

      Ole-Stig klinkt sich in Gerts Gedankenreihe ein, jedenfalls glaubt er das. Er spürt, dass Gert über die Kausalrelation nachdenkt. Denn hätte er damals ihren Vater erschossen, wäre ihre Mutter später nicht an der