ich mir vorstellen..."
"Das möchte ich bezweifeln, Bount."
Rogers wandte sich von der Reling ab und ging ein paar Schritte.
Bount folgte ihm und zündete sich dabei eine Zigarette an, was bei dem kräftigen Wind, der über die Fluten des Hudson fegte, gar nicht so einfach war.
"Der Tote ist übrigens Clint Leonard", sagte Rogers. "Der Schiffsführer hat sofort bemerkt, dass etwas nicht stimmte und die Maschinen abgestellt. Wäre er weniger aufmerksam gewesen, hätten wir vielleicht Schwierigkeiten bekommen, ihn zu identifizieren, aber so war sein Gesicht noch eindeutig zu erkennen..."
Bount hob die Arme zu einer abwehrenden Geste. "Tu mir einen Gefallen und erspar mir die Details, Toby. So schön sind die nun wirklich nicht."
Ein mattes Lächeln ging über Rogers’ Gesicht.
"Sorry."
"Wie ist es passiert?", hakte Bount nach. "Wisst ihr schon etwas?"
"Er schwimmt wahrscheinlich schon die ganze Nacht im Hudson", erwiderte Toby Rogers. "Aber eins steht schon fest: Er ist nicht ertrunken, sondern starb durch einen Schuss. Noch haben wir keine Ahnung, wo das geschehen sein könnte." Er zuckte mit den Schultern. "Er wurde umgebracht und dann ins Wasser geworfen..."
"Ein Killer, der sein Handwerk versteht, hätte der Leiche ein paar Steine um den Hals gebunden, damit sie nicht wieder auftaucht..." meinte Bount.
"Und du meinst, dieser hier verstand sein Handwerk nicht so besonders?"
Bount zuckte die Achseln. "Ich schätze, dass Clint Leonard für seine Auftraggeber einfach zu heiß wurde."
"Wie auch immer: Jedenfalls war Leonard der Mörder von Steve Tierney. Das steht nach dem Vergleich zwischen den Projektilen, die in den Körpern von Tierney, dem Fotohändler und Detective Ramirez steckten, wohl fest. Alle drei wurden mit derselben Waffe erschossen."
Dann blickte Rogers an Bount hinunter und meinte plötzlich: "Ich habe das Gefühl, du warst schon mal näher am Stand der Mode, Bount. Oder ist der Gammel-Look wieder in und ich hab's nicht mitgekriegt?"
Bount lächelte dünn. "Ich hatte eine ziemlich unerfreuliche Begegnung mit einem Kerl, der es vorzog, sein Gesicht nicht zu zeigen."
Rogers hob die Augenbrauen.
"Eine Warnung an deine Adresse?"
"Ja, etwas in der Art. Vielleicht auch schon mehr."
18
Karen Tierney schaute nervös auf die Uhr. Michael hätte längst zu Hause sein müssen. Sie rief in der Schule an, aber dort war er nicht mehr.
Vielleicht war er noch mit Freunden unterwegs, obwohl sie ihm eingeschärft hatte, gleich nach Hause zu kommen. Der Wagen war unglücklicherweise in der Werkstatt, sonst hätte sie ihren Sohn abgeholt.
Eine halbe Stunde, das ist nicht viel, redete sie sich ein. Das konnte alles mögliche bedeuten. Irgendetwas Harmloses vermutlich...
Aber sie konnte ihre Sorgen nicht einfach so abstreifen. Es half nichts, sich immer von neuem einzureden, dass das alles nichts bedeuten musste. Sie hatte sich nichts vorzuwerfen. Sie hatte sich an das gehalten, was man ihr gesagt hatte und dafür hatte man ihr zugesichert, dass ihr nichts geschehen würde. Und natürlich auch ihrem Jungen nicht. Das war das Allerwichtigste für sie.
Karen Tierney biss sich die Lippe und unterdrückte die Tränen, die einfach so aus ihr herauslaufen wollten. Nur kühlen Kopf bewahren!, wies sie sich selbst an. Nur nicht den Verstand verlieren!
Sie hätte schreien können, aber obwohl sie allein in der Wohnung war, tat sie es nicht. Stattdessen ging sie zum Telefon und klapperte die Reihe von Michaels Freunden ab. Zumindest diejenigen, von denen sie wusste. Nichts. Immer wieder nichts.
Sie fragte sich, was sie unternehmen konnte.
Die Polizei schied aus - und dieser Reiniger? Nachdem sie ihn derart abserviert hatte? Was soll's!, dachte sie. Er weiß ohnehin schon eine Menge oder reimt es sich zusammen. Warum soll er nicht auch den Rest wissen?
Aber wenn sie Michael wirklich in ihre Gewalt gebracht hatten, dann konnte es für den Jungen das Ende bedeuten. Skrupellose Leute waren das, denen eine Leiche mehr oder weniger keine besonderen Kopfschmerzen machte.
Plötzlich hörte sie einen Wagen vorfahren. Eine Autotür wurde geöffnet und fiel wieder ins Schloss. Dann Schritte. Sie glaubte schon fast, sich verhört zu haben und spürte ihr Herz wie wild schlagen. Sie kannte diese Schritte ganz genau. Es war Michael.
Sie rannte zur Tür, öffnete und nahm ihren Sohn in die Arme, während sie flüchtig mit den Augenwinkeln eine Limousine davonfahren sah.
"Warum weinst du, Mum?", fragte der Junge.
"Ich weine überhaupt nicht", behauptete sie. "Mit wem bist du gerade gekommen?"
"Ein Mann. Er war sehr nett und hat mich mitgenommen."
"Aber ich habe dir doch gesagt, du sollst nicht einfach mit irgendjemandem, den du nicht kennst, mitgehen!"
"Aber er hat gesagt, dass er dich und Dad kennt, Mum!"
Sie atmete tief durch. Im Augenblick hatte sie nicht den Nerv, das auszudiskutieren. Dann ging das Telefon.
Karen Tierney ließ es ein halbes Dutzend Mal klingeln, ehe sie aus ihrer Starre erwachte und sich bewegte. Mit zitternder Hand nahm sie den Hörer ab.
"Ja?"
Sie hörte das Atmen eines Menschen. Karen wollte am liebsten in die Muschel hineinschreien und die Person auf der anderen Seite der Leitung auffordern, sich doch endlich zu melden.
Aber sie ließ es. Ein Kloß steckte ihr im Hals und verhinderte, dass auch nur ein einziger Ton über ihre zusammengepressten Lippen kam. Schließlich machte es 'klick!' und die Leitung war unterbrochen.
Karen Tierney ließ den Hörer sinken und fühlte den kalten Schweiß auf ihrer Stirn. Angst kroch ihr den Rücken hinauf wie eine kalte, glitschige Qualle.
Aber sie hatte verstanden.
Dies war eine Warnung, vielleicht die letzte. Man wollte ihr klarmachen, dass sie keine Chance hatte, sich herauszuwinden. Nicht die Geringste! Sie konnten jederzeit zuschlagen, wenn sie wollten. Und sie wussten genau, wie Karens Achillesferse hieß: Michael.
19
"Ich komme einfach nicht über die Subway-Karten nach Wall-Street hinweg",