Wolfram Hanel

Der Junge, der mit Jimi Hendrix tanzte


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eise« singt, stellt Appaz die Musik noch lauter, als sie ohnehin schon ist. Aber so hört er wenigstens das wütende Gehupe hinter ihnen nicht mehr.

      Sie sind tatsächlich auf dem Weg zu diesem Klassentreffen, von dem Kerschkamp im Voss erzählt hat. Gleich am nächsten Tag hat er noch mal bei Appaz angerufen und so lange ein mehr oder weniger haarsträubendes Argument nach dem anderen vorgebracht, bis Appaz schließlich zusagte, wenn auch mit deutlich gemischten Gefühlen. Die Zeit auf dem Gymnasium war nicht gut gewesen, und er sah eigentlich keinen Grund dafür, das alles noch mal aufzuwärmen. Andererseits reizte es ihn plötzlich, ein paar Leute von früher wiederzusehen. Und zusammen mit Kerschkamp könnte das Ganze vielleicht sogar Spaß machen. Hat er neulich am Telefon noch gedacht.

      Jetzt ist er sich nicht mehr so sicher. Kerschkamp scheint nicht gerade sonderlich gut drauf zu sein. Appaz kennt solche Phasen bei ihm schon, immer wenn Kerschkamp irgendwelche Probleme hat, neigt er dazu, anderen unbedingt die Welt erklären zu wollen. Und die Idee jetzt mit dem Buch über Schröder und Schröders Freunde aus der Boulevard-Presse läuft genau in diese Richtung. Kerschkamp regt sich über irgendetwas auf, was eigentlich völlig ohne Bedeutung ist, und will gleich blindlings um sich schlagen: Wir nehmen sie uns alle vor, jeden Einzelnen von ihnen! Aber wozu, denkt Appaz, es ist ein Unterschied, ob wir uns abends in der Kneipe darüber einig sind, dass in den letzten zehn oder zwanzig Jahren ein paar Sachen deutlich aus dem Ruder gelaufen sind, ohne dass wir es eigentlich so richtig mitgekriegt haben, oder ob wir deswegen gleich alle von unserer Sicht der Dinge überzeugen wollen. Und wenn, dann bestimmt nicht mit einem Buch über den Ex-Kanzler und den singenden Panzerjäger, von Heinz Rudolf mal ganz zu schweigen. Das ist kleinlich und riecht verdammt nach Frustration, denkt er, und womöglich nach Neid. Das haben sie nicht nötig. Sie haben es ja beide hingekriegt, sie schaffen ganz gut den Spagat, das nötige Geld zum Leben zu verdienen, ohne ihre Haltungen aufzugeben. Und dass sie sich hartnäckig allem verweigern, was nach Karriere riecht, das wollen sie so und können es wahrscheinlich auch gar nicht anders. Also haben sie auch keinen Grund, sich zu beschweren, nicht wirklich jedenfalls. Andererseits ist es wichtig, die Wut zu behalten und immer wieder das Maul aufzumachen, da hat Kerschkamp schon recht. Sonst würden sie über kurz oder lang entweder einfach nur resignieren oder in selbstgefälliger Versunkenheit Whiskey schlürfend vor dem offenen Kaminfeuer sitzen, das sie beide nicht haben …

      Drei Romane hat Appaz bisher abgeliefert, zwei Theaterstücke, zwei Hörspiele. Von denen das eine immerhin einen Preis gewonnen hat, der ihm ermöglicht hat, eine Weile lang einfach so vor sich hinzuschreiben, ohne ständig Sorge haben zu müssen, dass die eher mageren Vorschüsse nicht bis zum nächsten Vertrag reichten. Von den Verkaufszahlen allein kann er nicht leben, aber mit Hilfe einer wöchentlichen Glosse in einer überregionalen Frauenzeitschrift und zwei bis drei Jerry-Cotton-Heften pro Jahr kommt er ganz gut über die Runden. Sowohl die Glosse als auch den Jerry Cotton schreibt er unter verschiedenen Pseudonymen, bis auf Kerschkamp und Appaz’ frühere Frau weiß kaum jemand etwas von diesen schriftstellerischen Nebenschauplätzen, und das soll möglichst auch so bleiben.

      Kerschkamp arbeitet als Fotoreporter für eine Bildagentur. Trotz oder vielleicht gerade wegen des Glasauges hatte er damals nach der Schule alles daran gesetzt, eine Ausbildung zu machen, die für ihn eher nicht in Frage zu kommen schien. Und er hat es geschafft. Auch finanziell kann er nicht klagen, zumal Susanne als Übersetzerin regelmäßig etwas dazuverdient. Aber sie haben auch drei halbwüchsige Kinder mit ziemlich teuren Hobbys, vor kurzem erst ist die Rede davon gewesen, dass Kerschkamps Älteste ein Pferd bekommen soll. Appaz ist froh, dass seine Tochter nie auf diesem Trip war. Obwohl sie sich seit Neuestem anscheinend für alles interessiert, was mit Snowboarden oder Surfen zu tun hat - und soweit Appaz weiß, kann auch das eine Menge Geld kosten. Wenn sie am nächsten Wochenende wieder bei ihm ist, wird er mal mit ihr darüber reden, was sie überhaupt so vorhat. Noch drei Wochen, dann würde sie ihr Abi in der Tasche haben. Und sie hat mal irgendwas gesagt, dass sie im Sommer vielleicht gerne eine Zeitlang an dem neuen Projekt mitarbeiten würde, das er mit Kerschkamp geplant hat.

      Vor einigen Jahren haben Appaz und Kerschkamp nebenher einen Kleinst-Verlag für schräge Bildbände gegründet, Kerschkamp liefert die Fotos und Appaz schreibt die Texte, das Layout machen sie gemeinsam. Mit einigen Titeln sind sie ziemlich auf die Nase gefallen, sie haben immer noch eine Garage voll mit nicht verkauften Exemplaren, aber ihr Hit ist ein Buch über Badezimmer, »Der Deutsche auf dem Klo«, das mittlerweile in der vierten Auflage erscheint. Als Nächstes will Appaz unbedingt ein Buch über Turnschuhe machen, »Stinkfoot« ist der Arbeitstitel. Dass Kerschkamp jetzt plötzlich mit der völlig hirnrissigen Ex-Kanzler-Idee ankommt, ärgert Appaz. Manchmal ist es schwierig, mit Kerschkamp zu arbeiten.

      Anstrengend, denkt Appaz. Genauso anstrengend, wie neben ihm im Auto zu sitzen. Und dunkel zu ahnen, dass Kerschkamp in seiner momentanen Stimmung es wahrscheinlich darauf anlegen wird, auf dem Abitreffen allen endlich mal die Meinung zu sagen. Während er selber gar nicht weiß, ob ihm wirklich daran gelegen ist, die Rechnung, die sie beide mit den anderen noch offen haben, nach so vielen Jahren jetzt zu begleichen.

      Vielleicht wäre es sinnvoller, das alles zu vergessen und nach vorne zu blicken, denkt er, und macht gleich darauf die Augen zu, als vor ihnen die Einmündung auf den Schnellweg auftaucht und Kerschkamp den Volvo im dritten Gang bis an die Drehzahlgrenze zwingt.

      Appaz tastet nach seinem Handy in der Jackentasche, das leicht vibriert. Das könnte sie sein, denkt er, obwohl sie es wahrscheinlich nicht ist, aber wenn doch, dann brauche ich wenigstens nicht mehr zu überlegen, wie ich sonst an ihre Nummer komme. Oder unter welchem Vorwand ich im Krankenhaus auftauchen kann. Tatsächlich hat er schon erwogen, sich wie zufällig nach dem Alten mit dem Beil im Kopf zu erkundigen. Weil er gerade in der Nähe sei oder so was, aber er hat Bedenken gehabt, dass der Alte vielleicht wirklich noch da ist und er dann nicht umhin kann, sich mit ihm zu unterhalten. Was nun absolut nicht das ist, was er eigentlich will…

      Eine SMS. Von ihr!

      »Sorry dass ich mich nicht schon eher gemeldet habe. Ich habe erst deine Karte suchen müssen. Du weißt ja, wie es auf meinem Schreibtisch aussieht.«

      Quatsch, denkt Appaz, ich habe die Karte doch mittendrauf gelegt! Weiter …

      »Hier ist die Hölle los. Lass mal was von dir hören. LG. Darleen«

      Appaz fängt sofort an zu tippen.

      »Was macht unser gemeinsamer Freund? Hast du noch was von ihm gehört?«

      Das ist gut, denkt er. Das macht den Eindruck, als wäre ihm wirklich wichtig, was mit dem Alten mit dem Beil im Kopf passiert ist. Und außerdem knüpft es geschickt an ihr gemeinsames Erlebnis an. Nicht schlecht, denkt er, cool. Aber auch nicht zu cool.

      »LG zurück. Kurt«

      Und abschicken.

      Offensichtlich hat sie erwartet, dass er sich sofort meldet. Ihre Antwort kommt innerhalb der nächsten Minute.

      »Unser Freund war heute zur Nachuntersuchung hier. Diesmal nur mit einem blauen Auge und einer blutenden Lippe. Was machst du gerade?«

      »Bin auf dem Weg zu einem Abitreffen«, tippt Appaz. »Weiß aber noch nicht, ob ich überhaupt Lust dazu habe. Würde lieber in einem ganz bestimmten Arztzimmer sitzen und mir die Zunge an heißem Kaffee verbrennen.«

      Nein, stopp! Das ist zu schnell, denkt er. Gar nicht cool. Weg mit dem letzten Satz. Löschen. So noch mal…

      »Sag mal«, unterbricht ihn Kerschkamp. »Ist alles in Ordnung mit dir? An wen schreibst du da die ganze Zeit? Irgendjemand, den ich kenne?«

      »Kennst du nicht. Hat was mit neulich nachts zu tun. Mit dem Typen mit dem Beil im Kopf, hab ich dir ja erzählt.«

      »Und?«

      »Nichts und. Bin gleich so weit.«

      Er fängt wieder an zu tippen.

      »Melde mich später noch mal. Grüß den zugekifften Zivi von mir. Kurt«

      Bescheuert, denkt er, aber egal. Und ab damit.

      »Scheint ja sehr wichtig zu sein«, meint Kerschkamp und wechselt auf die linke Spur, um einen