dir den Scheiß doch mal durch …«
Kerschkamp zeigt auf die Stapel aus einzelnen Zeitungsseiten, die auf dem Armaturenbrett liegen. Als Appaz ihn verständnislos ansieht, beugt er sich vor und wühlt mit einer Hand zwischen den Ausschnitten, bis er gefunden hat, was er sucht. »Hier, das ist echt der Hammer! Lies mal!«
Er hält Appaz einen Artikel hin und reißt gleichzeitig das Lenkrad herum, um schlingernd auf die Hauptstraße einzubiegen.
Appaz klammert sich am Türgriff fest. Er ist lange nicht mehr mit Kerschkamp im Auto unterwegs gewesen und hat fast vergessen, dass Kerschkamps Fahrstil einiges zu wünschen übrig lässt. Wenn auch der Volvo im Gegensatz zu ihrem alten VW-Bus von damals selbst grobe Fahrfehler gutmütig zu verzeihen scheint. Wäre ich bloß selber gefahren, denkt Appaz dennoch, und: Wenn er so weitermacht, muss ich irgendwas sagen, auch auf die Gefahr hin, dass er dann sauer ist. Aber ich habe keine Lust, am nächsten Laternenpfahl zu landen!
»Lies mal!«, wiederholt Kerschkamp, nachdem er den Volvo von den Straßenbahnschienen zurück auf die Fahrbahn gezwungen hat. »Die wichtigsten Stellen habe ich angestrichen …«
Es geht um irgendeinen Bericht aus der hannoverschen Tageszeitung, der überschrieben ist mit »Der Soundtrack für die Revolution«. Darunter sind ein Bild von den Anfängen der Scorpions in den sechziger Jahren und ein Interview mit Klaus Meine, wie er das Jahr 1968 als Panzerjäger bei der Bundeswehr in Schwanewede bei Bremen erlebt hat.
Kerschkamp hat einzelne Sätze aus Meines Antwort dick mit einem gelben Filzstift markiert.
»Ich war nicht der Typ, der sich mit allen Mitteln um diese Verantwortung drückte«, fängt Appaz an zu lesen. Weiter kommt er nicht.
»Alles klar?«, fragt Kerschkamp. »Der ist auch noch stolz darauf, dass er beim Bund war! Ich habe mich nicht um diese Verantwortung gedrückt! Das ist doch unglaublich. Der sagt doch nichts anderes als dass alle, die den Scheiß nicht mitgemacht haben, Drückeberger waren. Und das sagt er heute noch, das ist das Schlimmste daran! Damit macht er alles platt, was damals an guten Sachen gelaufen ist. Und außerdem ist er ein Frog!«, setzt er hinzu und bringt den Volvo im letzten Moment vor einer Ampel zum Stehen, die schon seit geraumer Zeit Rot zeigt.
»Ein was?«, fragt Appaz irritiert und reibt sich über die Stelle an seiner Schulter, wo sich der Sicherheitsgurt bei Kerschkamps Vollbremsung gestrafft hatte.
»Ein Frog«, wiederholt Kerschkamp. »F-R-O-G, friend of Gerd, alles klar? Schröder, Mann, unser Ex-Kanzler!«
Die Ampel springt auf Grün. Aber Kerschkamp macht keine Anstalten loszufahren. Stattdessen nimmt er beide Hände zu Hilfe, um Schröders Freunde aufzuzählen.
»Erstens, ein Bauunternehmer, der mit verblüffender Regelmäßigkeit immer wieder wegen irgendwelcher Umweltskandale in der Presse auftaucht, zweitens, ein Finanzoptimierer, der mittlerweile rund eine Milliarde Euro Privatvermögen auf der hohen Kante hat, drittens, der Bumsmusik produzierende Meine, viertens, irgend so ein Havanna-Zigarren rauchender Rechtsanwalt …«
Der Wagen hinter ihnen hupt.
»Ja, ist ja gut, reg dich ab«, sagt Kerschkamp und lässt mit einem Ruck die Kupplung kommen, sodass der Volvo aufheulend über die Kreuzung schießt. Nachdem Kerschkamp ruckartig geschaltet hat, nimmt er immerhin die Hände wieder ans Lenkrad. Appaz stößt erleichtert die Luft aus.
»Wo war ich stehengeblieben?«, fragt Kerschkamp. »Ach ja, ich weiß schon wieder, Schröders Freunde. Da unten, habe ich alles gesammelt…«
Er zeigt auf die Matte vor Appaz’ Füßen, auf der sich noch mehr Zeitungsartikel stapeln.
»Alles! Wie Schröder zu seinem Geburtstag mit Gottschalk und Karl Dail und natürlich wieder dem singenden Panzerjäger Tischfußball gespielt hat. Und wie irgendein Sternekoch in einem Luxusschrebergarten Bratwürstchen für die Frogs gegrillt hat. Luxusschrebergarten, achte drauf, Alter! Und wie Schröder auf einer Party für den Finanzoptimierer mit Veronica Ferres und Ex-Spice Girl Mel C. …«
»Was soll das eigentlich?«, unterbricht ihn Appaz, während er nervös beobachtet, wie sich der Volvo schon wieder bedenklich den Straßenbahnschienen nähert. »Warum sammelst du das ganze Zeug?«
»Alles Material für ein neues Buch! Wir machen mal was ganz anderes, habe ich mir überlegt, wollte ich dir eigentlich neulich schon erzählen, aber dann warst du ja plötzlich echt weggetreten. Mann, du hattest vielleicht einen im Kahn! Aber ich auch. Aber ist ja auch egal, der Titel steht jedenfalls schon, für unser Buch, meine ich. Frogs, ist ja klar, in Großbuchstaben, F-R-O-G-S, und wir nehmen uns alle vor, jeden Einzelnen von ihnen, die ganze Bande, auch Heinz Rudolf! Schon gut, sag nichts, ich weiß, dass der nicht zu den Freunden von Schröder gehört, aber andererseits irgendwie doch wieder, verstehst du? Er muss jedenfalls unbedingt mit rein in unser Buch …«
»Warte mal«, sagt Appaz in der durchaus berechtigten Sorge, dass Kerschkamp gleich auch noch auf die angeblich getönten Haare des Ex-Kanzlers oder seine frühere Vorliebe für die Currywürste im Voss kommt. »Wer soll das Ganze hinterher lesen? Wenn wir ein neues Buch machen, sollte es schon irgendwas sein, das wenigstens ein paar Leute interessiert.«
»Wie, wer soll das hinterher lesen? Die ganze Republik natürlich! Das wird für Monate ganz oben auf der Spiegel-Liste stehen, das sage ich dir, du.«
»Aber das interessiert keinen«, wiederholt Appaz. »Außer vielleicht ein paar Leute in Hannover. Sonst gibt es sowieso niemand mehr, der Heinz Rudolf noch kennt.«
»Was?«
Kerschkamp zieht den Volvo mit quietschenden Reifen nach rechts und bringt ihn mit dem Vorderrad auf der Bordsteinkante zum Stehen.
»Du meinst, die Leute kennen Heinz Rudolf Kunze nicht mehr?«, fragt er entgeistert.
»Tausendmal berührt, tausendmal ist nichts passiert«, sagt Appaz.
»Warte mal!«, ruft Kerschkamp. »Das ist doch gar nicht von Heinz Rudolf, das ist doch von …«
»Eben. Aber es interessiert sowieso keinen mehr, das meine ich damit.«
»Aber die Scorpions, Alter!«, setzt Kerschkamp wieder an.
»Auch schon länger her, oder?«
»Mann, du kannst einen aber auch echt fertig machen.« Kerschkamp haut mit der flachen Hand aufs Lenkrad. »Und Schröder, fällt dir dazu auch irgendwas ein?«
»Nur dass ganz bestimmt keiner wissen will, ob er mit irgendwelchen Rechtsanwälten Tischfußball spielt.«
»Vielleicht hast du recht«, gibt Kerschkamp nach kurzem Zögern zu. »Ist nur schade eigentlich. Ist eine Menge gutes Material dabei, du, das kannst du mir glauben …«
Ein bisschen wehmütig blickt er auf die Zeitungsausschnitte zu Appaz’ Füßen und auf dem Armaturenbrett. »Aber die Sache ist noch nicht vom Tisch, Alter, lass uns da trotzdem nochmal drüber nachdenken …«
»Apropos Rechtsanwälte«, hakt Appaz schnell ein, weil er befürchtet, dass Kerschkamp sich sonst unerbittlich an dem einmal gefundenen Thema festbeißt, »apropos Rechtsanwälte«, sagt er also, »was meinst du, wie viel Leute von uns werden wohl Rechtsanwälte geworden sein?«
»Keine Ahnung. Nurminski ist Kinderpsychologe, das hat mir irgendjemand erzählt. Und Buchmann ist Lehrer geworden, glaube ich jedenfalls. Aber Rechtsanwalt? Keine Ahnung«, wiederholt Kerschkamp. »Höchstens Nolle vielleicht, der hatte schon damals irgendwas Perverses …«
»Nölle«, korrigiert Appaz und schüttelt den Kopf. »Nölle ist Pathologe geworden.«
»Ach, echt? Na ja, sag ich doch, passt doch. Aber das werden wir ja gleich hören, was der Rest so macht. Versicherung wahrscheinlich. Oder Bank. Und jede Menge Computer-Fuzzis, aber irgendeiner ist auch garantiert Rechtsanwalt. Trotzdem, Alter«, ruft er dann und haut Appaz begeistert aufs Knie, »ich wette, die Einzigen, die immer noch lange Haare haben, sind wir beide!«
Kerschkamp fädelt sich wieder in den fließenden Verkehr ein, indem er