ich will weggehn und werde auch weggehn“, sagte Karl, „und will jetzt nur von Fräulein Klara Abschied nehmen.“ „So“, sagte der Diener und Karl sah ihm wohl an, daß er kein Wort davon glaubte, „warum zögern Sie also Abschied zu nehmen, kommen Sie doch.“
„Wer ist auf dem Gang?“ ertönte Klaras Stimme und man sah sie aus einer nahen Tür sich vorbeugen, eine große Tischlampe mit rotem Schirm in der Hand. Der Diener eilte zu ihr hin und erstattete die Meldung, Karl gieng ihm langsam nach. „Sie kommen spät“, sagte Klara. Ohne ihr vorläufig zu antworten, sagte Karl zum Diener leise, aber, da er seine Natur schon kannte, im Ton strengen Befehles: „Sie warten auf mich knapp vor dieser Tür!“ „Ich wollte schon schlafen gehn“, sagte Klara und stellte die Lampe auf den Tisch. Wie unten im Speisezimmer schloß auch hier wieder der Diener vorsichtig von außen die Tür. „Es ist ja schon halb zwölf vorüber.“ „Halb zwölf vorüber“, wiederholte Karl fragend, wie erschrocken über diese Zahlen.
„Dann muß ich mich aber sofort verabschieden“, sagte Karl, „denn punkt zwölf muß ich schon unten im Speisesaal sein.“ „Was Sie für eilige Geschäfte haben“, sagte Klara und ordnete zerstreut die Falten ihres losen Nachtkleides, ihr Gesicht glühte und immerfort lächelte sie. Karl glaubte zu erkennen, daß keine Gefahr bestand, mit Klara wieder in Streit zu geraten. „Könnten Sie nicht doch noch ein wenig Klavier spielen, wie es mir gestern Papa und heute Sie selbst versprochen haben?“ „Ist nicht aber schon zu spät?“ fragte Karl. Er hätte ihr gern gefällig sein wollen, denn sie war ganz anders als vorher, so als wäre sie irgendwie aufgestiegen in die Kreise Pollunders und weiterhin Macks. „Ja spät ist es schon“, sagte sie und es schien ihr die Lust zur Musik schon vergangen zu sein. „Dann wiederhallt hier auch jeder Ton im ganzen Hause, ich bin überzeugt, wenn Sie spielen, wacht noch oben in den Dachkammern die Dienerschaft auf.“ „Dann lasse ich also das Spiel, ich hoffe ja bestimmt noch wiederzukommen, übrigens, wenn es Ihnen keine besondere Mühe macht, besuchen Sie doch einmal meinen Onkel und schauen bei der Gelegenheit auch in mein Zimmer. Ich habe ein prachtvolles Piano. Der Onkel hat es mir geschenkt. Dann spiele ich Ihnen, wenn es Ihnen recht ist, alle meine Stückchen vor, es sind leider nicht viele, und sie passen auch gar nicht zu so einem großen Instrument, auf dem nur Virtuosen sich hören lassen sollten. Aber auch dieses Vergnügen werden Sie haben können, wenn Sie mich von Ihrem Besuch vorher verständigen, denn der Onkel will nächstens einen berühmten Lehrer für mich engagieren – Sie können sich denken wie ich mich darauf freue – und dessen Spiel wird allerdings dafür stehn, mir während der Unterrichtsstunde einen Besuch zu machen. Ich bin, wenn ich ehrlich sein soll, froh, daß für das Spiel schon zu spät ist, denn ich kann noch gar nichts, Sie würden staunen, wie wenig ich kann. Und nun erlauben Sie daß ich mich verabschiede, schließlich ist ja doch schon Schlafenszeit.“ Und weil ihn Klara gütig ansah und ihm wegen der Rauferei gar nichts nachzutragen schien, fügte er lächelnd hinzu, während er ihr die Hand reichte: „In meiner Heimat pflegt man zu sagen: Schlafe wohl und träume süß.“
„Warten Sie“, sagte sie, ohne seine Hand anzunehmen, „vielleicht sollten Sie doch spielen.“ Und sie verschwand durch eine kleine Seitentür, neben der das Piano stand. „Was ist denn?“ dachte Karl, „lange kann ich nicht warten, so lieb sie auch ist.“ Es klopfte an die Gangtüre und der Diener, der die Türe nicht ganz zu öffnen wagte, flüsterte durch einen kleinen Spalt: „Verzeihen Sie, ich wurde soeben abberufen und kann nicht mehr warten.“ „Gehen Sie nur“, sagte Karl, der sich nun getraute, den Weg ins Speisezimmer allein zu finden, „lassen Sie mir nur die Laterne vor der Tür. Wie spät ist es übrigens?“ „Bald dreiviertel zwölf“, sagte der Diener. „Wie langsam die Zeit vergeht“, sagte Karl. Der Diener wollte schon die Türe schließen, da erinnerte sich Karl, daß er ihm noch kein Trinkgeld gegeben hatte, nahm einen Schilling aus der Hosentasche – er trug jetzt immer Münzengeld nach amerikanischer Sitte lose klingelnd in der Hosentasche, Banknoten dagegen in der Westentasche – und reichte ihn dem Diener mit den Worten: „Für Ihre guten Dienste.“
Klara war schon wieder eingetreten, die Hände an ihrer festen Frisur, als es Karl einfiel, daß er den Diener doch nicht hätte wegschicken sollen, denn wer würde ihn jetzt zur Station der Stadtbahn führen? Nun, da würde wohl schon Herr Pollunder einen Diener noch auftreiben können, vielleicht war übrigens dieser Diener ins Speisezimmer gerufen worden und würde dann zur Verfügung stehn. „Ich bitte Sie also doch ein wenig zu spielen. Man hört hier so selten Musik, daß man sich keine Gelegenheit sie zu hören, entgehen lassen will.“ „Dann ist aber höchste Zeit“, sagte Karl ohne weitere Überlegung und setzte sich gleich zum Klavier. „Wollen Sie Noten haben?“ fragte Klara. „Danke, ich kann ja Noten nicht einmal vollkommen lesen“, antwortete Karl und spielte schon. Es war ein kleines Lied, das wie Karl wohl wußte ziemlich langsam hätte gespielt werden müssen, um besonders für Fremde auch nur verständlich zu sein, aber er hudelte es im ärgsten Marschtempo hinunter. Nach der Beendigung fuhr die gestörte Stille des Hauses wie in großem Gedränge wieder an ihren Platz. Man saß wie benommen da und rührte sich nicht. „Ganz schön“, sagte Klara, aber es gab keine Höflichkeitsformel, die Karl nach diesem Spiel hätte schmeicheln können. „Wie spät ist es?“ fragte er. „Dreiviertel zwölf.“ „Dann habe ich noch ein Weilchen Zeit“, sagte er und dachte bei sich: „Entweder oder. Ich muß ja nicht alle zehn Lieder spielen, die ich kann, aber eines kann ich nach Möglichkeit gut spielen.“ Und er fieng sein geliebtes Soldatenlied an. So langsam, daß das aufgestörte Verlangen des Zuhörers sich nach der nächsten Note streckte, die Karl zurückhielt und nur schwer hergab. Er mußte ja tatsächlich wie bei jedem Lied die nötigen Tasten mit den Augen erst zusammensuchen, aber außerdem fühlte er in sich ein Leid entstehn, das über das Ende des Liedes hinaus, ein anderes Ende suchte und es nicht finden konnte. „Ich kann ja nichts“, sagte Karl nach Schluß des Liedes und sah Klara mit Tränen in den Augen an.
Da ertönte aus dem Nebenzimmer lautes Händeklatschen. „Es hört noch jemand zu!“ rief Karl aufgerüttelt. „Mack“, sagte Klara leise. Und schon hörte man Mack rufen: „Karl Roßmann, Karl Roßmann!“
Karl schwang sich mit beiden Füßen zugleich über die Klavierbank und öffnete die Tür. Er sah dort Mack in einem großen Himmelbett halb liegend sitzen, die Bettdecke war lose über die Beine geworfen. Der Baldachin aus blauer Seide war die einzige ein wenig mädchenhafte Pracht des sonst einfachen, aus schwerem Holz eckig gezimmerten Bettes. Auf dem Nachttischchen brannte nur eine Kerze, aber die Bettwäsche und Macks Hemd waren so weiß, daß das auf sie fallende Kerzenlicht in fast blendendem Widerschein von ihnen strahlte; auch der Baldachin leuchtete wenigstens am Rande mit seiner leicht gewellten, nicht ganz fest gespannten Seide. Gleich hinter Mack versank aber das Bett und alles in vollständigem Dunkel. Klara lehnte sich an den Bettpfosten und hatte nur noch Augen für Mack.
„Servus“, sagte Mack und reichte Karl die Hand. „Sie spielen ja recht gut, bisher habe ich bloß Ihre Reitkunst gekannt.“ „Ich kann das eine so schlecht wie das andere“, sagte Karl. „Wenn ich gewußt hätte, daß Sie zuhören, hätte ich bestimmt nicht gespielt. Aber Ihr Fräulein“ – er unterbrach sich, er zögerte „Braut“ zu sagen, da Mack und Klara offenbar schon mit einander schliefen. „Ich ahnte es ja“, sagte Mack, „darum mußte Sie Klara aus New-York hierherlocken, sonst hätte ich Ihr Spiel gar nicht zu hören bekommen. Es ist ja reichlich anfängerhaft und selbst in diesen Liedern, die Sie doch eingeübt hatten und die sehr primitiv gesetzt sind, haben Sie einige Fehler gemacht, aber immerhin hat es mich sehr gefreut, ganz abgesehen davon, daß ich das Spiel keines Menschen verachte. Wollen Sie sich aber nicht setzen und noch ein Weilchen bei uns bleiben. Klara gib ihm doch einen Sessel.“ „Ich danke“, sagte Karl stockend. „Ich kann nicht bleiben, so gern ich hier bliebe. Zu spät erfahre ich, daß es so wohnliche Zimmer in diesem Hause gibt.“ „Ich baue alles in dieser Art um“, sagte Mack.
In diesem Augenblick erklangen zwölf Glockenschläge, rasch hintereinander, einer in den Lärm des andern dreinschlagend, Karl fühlte das Wehen der großen Bewegung dieser Glocken an den Wangen. Was war das für ein Dorf, das solche Glocken hatte!
„Höchste Zeit“, sagte Karl, streckte Mack und Klara nur die Hände hin ohne sie zu fassen und lief auf den Gang hinaus. Dort fand er die Laterne nicht und bedauerte dem Diener zu