das Grab befand, wohl aber aus dem Umfeld der Mythen und Sagen stammten, die zunehmend Geschichtsbild und Handeln bestimmten. Die Fiktionen dienten zumeist dem Überlebenskampf der Gemeinschaften gegen benachbarte Klöster, Bischöfe und Laien. Die Erinnerung zielte somit auf reale politische Wirkung. Doch auch Missachtung, Spott und Hohn blieben nicht aus. Auch hinter ihnen stand soziale Wirklichkeit. Rebellen durften nun – anders als im einstigen Leben, doch der tatsächlichen Königsferne des Südens gemäß – über den unbesieglichen Karl triumphieren. Gerade die im Süden weit verbreiteten „Chanson de geste“ bildeten ein beliebtes Genus sowohl der Heroisierung als auch der Destruktion dieses Königs.
Selbst Juden konnten sich im Hochmittelalter auf diesen Frankenkönig berufen.7 Einem Lichtstrahl gleich spiegelten ihre Geschichten sein Gedenken. Sie schrieben ihm ihre Ansiedlung im Süden Galliens zu. Die Chronik des Abraham ben David (Sefer Ha-kabalah, Buch der Überlieferung) etwa wusste zu berichten, dass Karl seinerzeit bei Harun al-Rashid einen Rabbi aus dem Hause Davids erbeten habe, der tatsächlich nach dem Westen gezogen sei und, nachdem Karl die Stadt Narbonne von den Sarazenen erobert hatte, dort ein Drittel der Stadt erhalten und die Schule von Narbonne gegründet habe. Ein Privileg des Königs habe alles bestätigt und unter königlichen Schutz gestellt.
Die Geschichte wird in ein wenig anderer Gestalt, gleichwohl noch im 12. oder frühen 13. Jahrhundert auch von den Gesta Karoli Magni ad Carcassonam et Narbonam erzählt, die sowohl auf Lateinisch als auch auf Provençalisch verbreitet waren. Danach hätten die Juden der Stadt Narbonne, als Karl sie belagerte, 70 000 Mark Silber geschickt und ihm angeboten, er könne die Stadt an dem Mauerteil erstürmen, den sie zu schützen hätten. Als Gegenleistung wünschten sie allein, dass ihr „König aus dem Geschlechte Davids“ immer in der Stadt bleiben dürfe. Karl versprach es; und nachdem er die Stadt erobert hatte, bestieg er, das Zepter in der Hand und von einem großen Gefolge umgeben, den königlichen Thron, rief Aimeric von Narbonne vor sich und sprach: „Aimeric, ein Drittel der Stadt gebe ich dem Erzbischof, ein Drittel den Juden, der Rest ist euer.“ Auch jetzt sicherte er alles mit einem Privileg. Noch andernorts wurde diese Geschichte, abermals ein wenig anders, erzählt.
Alle diese Erzählungen verdeutlichen, wie die Not des Augenblicks in schutzheischender Absicht die Erinnerung an Karl den Großen heraufbeschwor, wie sie ihn zur Wirklichkeit des Symbols erhob, des Imaginationen und Hoffnungen weckenden, gestaltenden, lenkenden Heros. Hinter der Legende stand mancherlei an einstiger Realität: schutzbedürftige jüdische Gemeinden im Süden, der Jude Isaac, der tatsächlich an Karls Hof in Aachen lebte, der Gesandtenaustausch mit Harun al-Rashid, bei welcher Gelegenheit Karl den Aufsehen erregenden Elefanten Abul Abas zum Geschenk erhalten hatte, die echten Schutzprivilegien für die spanischen Flüchtlinge, Karls fehlgeschlagener Kriegszug nach Spanien, die tatsächliche Eroberung Barcelonas und natürlich auch die Eroberung Narbonnes durch den anderen Karl, den Martell. Nichts davon hatte sich in die Geschichten des hohen Mittelalters gerettet. Gleichwohl wirkte eine zur Unkenntlichkeit verformte Erinnerung fort und gestaltete die Realität ihrer Zeit. Der erinnerte Karl gab das Muster ab, an dem man sich handelnd orientierte oder orientieren sollte.
Der Osten, wie gesagt, brauchte einige Zeit, um an die historische Herrschergestalt anzuknüpfen. Das geschah erst durch Otto den Großen, einen Sachsen, der, um das auf Selbstständigkeit drängende Lotharingien, zu dem Aachen damals gleich Köln und Trier gehörte, zu gewinnen, sich ein zweites Mal in Aachen salben und krönen ließ und demonstrativ den Thron Karls des Großen bestieg, der tatsächlich noch heute im Aachener Münster steht. Dort zeigte er sich dem Volk. Seitdem beschworen auch die Könige des sächsisch-fränkischen, ostfränkisch-deutschen Reiches in legitimierendem Rückgriff die Erinnerung an den großen Karolinger. Ein Vierteljahrhundert später ließ Otto dort auch seinen gleichnamigen Sohn zum König salben und krönen; seitdem war das Königtum fest mit Aachen und Karl dem Großen verbunden. Dieses „Aachener Königtum“ gab dem frühdeutschen Reich geradezu seine ideelle Mitte.
Der dritte Otto auf dem Thron, Sohn und Enkel der beiden vorangegangenen, schloss sich noch enger an Karl den Großen an. Ihn machte er zu einem Muster seiner Kaiseridee; an ihm orientierte er sein Kaisertum. „Unser Thron“ stehe in Aachen, „wo ihn unser Vorgänger Karl, der hochberühmte erhabene Kaiser“ errichtet habe, ließ Otto als sein Sprachrohr den Erzbischof Heribert von Köln verkünden.8 Aachen sollte neben Rom ein Brennpunkt seines Reiches sein. Der Sohn eines sächsischen Vaters und einer byzantinischen Mutter eignete sich das Siegelbild des Franken Karl an, um das Römische Reich zu erneuern. Karls Gedenken ließ er in Aachen wie das der eigenen Eltern feiern.9 Und mehr als das alles: Otto dürfte nämlich bereits die Kanonisation des fränkischen Kaisers betrieben haben.
Sein Nachfolger Heinrich II., einstiger Herzog der Bayern, musste, ob er wollte oder nicht, daran anknüpfen und erklärte sich zu einem Nachkommen des großen Karl. Es geschah zur Legitimation seiner umstrittenen Thronbesteigung. Zudem griff auch er auf ein Karlsbild zurück, um seine Erhöhung zu imaginieren. Es war freilich ein Bild Karls II. Auch Heinrichs Nachfolger, der König und Kaiser Konrad II. und seine Gemahlin Gisela, zwei Franken, deren Familien sich tatsächlich auf Karl zurückführen konnten, erinnerten an Karl. An Konrads Sattel hingen Karls Steigbügel, wurde damals propagiert.10 So floss das Karlsgedächtnis, von Otto I. und Otto III. so sichtbar erneuert, als immer wieder benutzter, aber nie für immer gefasster Legitimationsquell durch die Jahrhunderte.
Insgesamt freilich erschöpften sich auch diese Evokationen der Vorbildlichkeit Karls in eher episodischen, additiven Aspekten. Sie fanden die längste Zeit zu keinen kontinuierlichen und systematischen, über das Personale hinausweisenden Geschichtskonzepten. Karl spielte die mögliche Rolle des Gründungsheros nicht. Das Reich der Sachsen war eben doch – trotz der erinnernden Karlsbeschwörung – kein Reich der Franken. Die fränkischen Salier, die Nachfolger der Ottonen auf dem Kaiserthron, sollten es bitter zu spüren bekommen. Es bescherte ihnen Bürgerkrieg und Gegenkönigtum, durchmischte den Papst-Kaiser-Konflikt des hohen Mittelalters mit dem uralten sächsisch-fränkischen Konflikt und brachte das Reich an den Rand des Abgrunds.
Das 12. Jahrhundert verdeutlicht abermals den Vorsprung Frankreichs in der Karlsverehrung, obgleich mit der Thronbesteigung der Kapetinger im Jahr 987 zunächst die Kontinuität zu Karl dem Großen abriss und keine königliche Erinnerungspflege sie gewährleistete. Der Makel der Illegitimität haftete als dunkler Fleck an den frühen Kapetingern, die seinerzeit, um den Thron zu besteigen, einen legitimen Karolinger von demselben hatten verdrängen müssen. Das erneuerte Karlsgedenken ging nicht von ihnen aus, lastete vielmehr lange Zeit als ‚Wiedergutmachungsdruck‘ auf ihnen und hielt spät, nämlich erst gegen Ende des 12. und zu Beginn des 13. Jahrhunderts, dann aber umso nachhaltiger seinen Einzug bei ihnen. Doch blieb es in nichtköniglichem Milieu während des 11. und 12. Jahrhunderts präsent. Frankreich war schlechthin „Karlsland“, Kerlingen. Die „Chansons de geste“, ihrerseits Zeugnisse einer lebendigen, sich der Schrift und der Mündlichkeit bedienenden Erinnerungskontinuität unter den Sängern, trugen sein Gedächtnis auch in illiterate Kreise. Das Königtum griff dasselbe dann bei der ersten sich bietenden Gelegenheit auf.
Die berühmteste aller Chansons, die anonyme „Chanson de Roland“, bewahrte, von biblischen und neutestamentlichen Mustern überformt, mehrstufige, erstmals vielleicht durch den Erzbischof Hinkmar von Reims gefilterte Erinnerungsspuren des 8. und 9. Jahrhunderts bis zu ihrer ältesten erhaltenen schriftlichen Fixierung um 1100. Sie sang dann das Loblied der dulce France, der France dulce, la bele (Vers 1695), der France l’asolue, des süßen, des schönen, des freien Frankreich, dessen Herr Li empereres Carles de France dulce (Vers 16) war, Carles li reis, nostre emperere magne (Vers 1), den, als er schlief, auf Gottes Geheiß der Engel Gabriel beschützte (Vers 2525–7). Diese „Chanson“ spiegelte die Zeit und den Geist der Kreuzzüge, der durch Frankreich wehte. Bernhard von Clairvaux predigte ihn später und verkündete weithin vernehmbar das „Lob der neuen Ritterschaft“, der religiösen Ritterorden nämlich, die sich zum Kampf gegen die Ungläubigen bereiteten. Der Heros Karl aber, der Heidenkämpfer und Gottgeliebte, der schon fast heilige, eilte ihnen allen voran.
Bestimmte religiöse Zentren wie Saint-Denis, die Grablege der französischen Könige, betrieben aus diversen Gründen – etwa, um