Peter Paul Kaspar

Die wichtigsten Musiker im Portrait


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Klangmöglichkeiten unterlegen – so ist sie doch ihr weltliches, alltägliches, billigeres und beinahe universell einsetzbares Gegenstück.

      Da die Orgel ihren wichtigsten Ort in der Kirche und ihren wichtigsten Anlass im Gottesdienst hat, versteht man die Bedeutung der Improvisation. Noch heute kann ein Organist sich um keine wichtige Stelle in der Kirchenmusik bewerben, wenn er nicht professionell und gewandt improvisieren kann. Das geschah vor allem über kirchliche Themen und Lieder, über gregorianische Melodien, zu bestimmten Anlässen von der Hochzeit bis zum Begräbnis. Ein guter Teil der historischen Musik für Orgel ist aus solchen Anlässen entstanden: das Choralvorspiel (zu einem Kirchenlied), die Choralvariationen (auch Partita über …), Versetten und Fugen zum abwechselnden Spiel mit Sängern (der früher gern gepflegten Alternatimspraxis) und dann die großen Formen, die zum feierlichen Ein- und Auszug und zu ähnlichen Anlässen, aber auch im Konzert zu spielen waren: Präludium, Toccata, Fantasie und Fuge: Canzona, Chaconne, Passacaglia …

      Die Fuge als Königsgattung der Barockmusik spielt für das Cembalo und für die Orgel eine ähnlich wichtige Rolle. Sie ist die strengste und zugleich die kunstreichste Gattung, in der ein Thema durch seine Wiederkehr in den verschiedenen Stimmen und in verschiedenen Formen nach einem kontrapunktischen Regelkanon eine regelrechte Verfolgungsjagd veranstalten kann (lateinisch fuga/Flucht). Auch eine Fuge im langsamen Tempo kann spannungs- und geistreich gelingen. Bachs »Wohltemperiertes Klavier« mit zweimal 24 Präludien und Fugen durch sämtliche Tonarten ist ein ähnliches Jahrhundertwerk wie die berühmte und unvollendete »Kunst der Fuge« – deren Instrumentarium von Bach nicht festgelegt wurde. Daneben waren die Sonate und die Suite, aber auch die Variation, die Chaconne und die Passacaglia wichtige Gattungen der barocken Cembalomusik. In den beiden letzten Formen wird ein gleichbleibendes Bassthema fantasievoll variierend beibehalten.

      Die Claviermusik, die sich – mit dem »Aussterben« des Cembalos – in die Klavier- und die Orgelmusik teilte, bekam in der Wiener Klassik ihr pianistisches Gepräge. Haydns frühe Sonaten lassen sich am besten am Cembalo darstellen, manche sogar auf der Orgel – die späten sind eindeutige und unverwechselbare Klaviersonaten. Jetzt ereilte die Sonate das Schicksal der Sinfonie: Sie erreichte in der Klassik, bei Haydn, Mozart, Beethoven – und zuletzt bei Schubert eine Höhe, dass die Nachkommen nur mit großem Respekt Sonaten wagten. Haydn schrieb beispielsweise etwa 60 Klaviersonaten (Mozart 20, Beethoven 32, Schubert 15) – Schumann, Chopin und Brahms je drei Sonaten. Neben diesen gewichtigen Sonaten wurde gern die kleinere Form gepflegt – einzeln, aber auch in Zyklen, virtuos für den Konzertgebrauch und weniger schwierig für die Hausmusik.

      Das 19. Jahrhundert war eine Epoche der Klaviermusik. Die bürgerliche Bildung stellte das Klavier in die Mitte der Hausmusik – für reine Klaviermusik, für das Klavierlied und für die kleine Kammermusik. Die Musikverleger verlangten von den Komponisten Werke aller drei Bereiche, möglichst mit einem mittleren Schwierigkeitsgrad, nicht in Ges-Dur, wie das berühmte Impromptu von Schubert, das man deshalb gleich nach G-Dur transponierte. Musikkritiker klagten über die epidemischen Ausmaße des häuslichen Musizierens in den aufstrebenden Bürgerfamilien. Wovor sie sich fürchteten, wird nicht recht klar. Das Klavier im Salon, das mehrbändige Konversationslexikon und ab der Jahrhundertmitte die Zeitschrift »Die Gartenlaube« wurden zu den Symbolen bürgerlicher Bildungsemanzipation. Hinzu kamen Mendelssohns Lieder ohne Worte, Schumanns Wald- und Kinderszenen und Klavierlieder von Schubert, Schumann und Mendelssohn.

      Doch in den Konzertsälen regierte das Virtuosentum. Die doppelte Klaviertechnik – im Instrumentenbau und im Virtuosentum – brachte zwar viele Sensationslüsterne in die Konzerte, in denen gerne Opernparaphrasen und artistisches Virtuosentum präsentiert wurden. Außerdem kamen viele Musikfreunde, die selten oder nie ein Orchester oder eine Oper hören konnten, auf diese Weise in den Genuss von Klaviertranskriptionen. Liszt fertigte solche für alle neun Sinfonien Beethovens an – tongetreu, ohne Virtuosengeflunker, und doch von hohem pianistischen Anspruch. Die vielen Bearbeitungen großer Werke für Klavier und für Kammermusik hatten im 19. Jahrhundert eine ähnliche Funktion wie heute die Tonträger: Sie brachten wichtige Werke der Kunst an ein Publikum, das sie sonst nie kennengelernt hätte.

      In den Klavierauszügen der Opern und Sinfonien, aber auch in den Paraphrasen und Transkriptionen schließt sich der Kreis der Musik für Tasteninstrumente. Sie wollten Ähnliches, wie schon im 16. Jahrhundert in den alten Tabulaturen geschah: Sie wollten dem neugierigen Hörer auch jene Musik nahebringen, die im Original aufwändig und teuer und deshalb selten zu hören gewesen wäre.

      3 FAVOLA PER MUSICA

      MUSIKTHEATER UND ORATORIUM

      Reine Musik sind eigentlich nur textlose Klänge. In dem Augenblick, in dem das Wort zu den Tönen tritt, sind es bereits zwei Künste, die sich verbinden. Wenn nun auch noch ein dramatisches Geschehen, Tanz, eine Szene mit Bühnenbildern, handelnde Personen samt Kostümen, vielleicht sogar noch künstliche Beleuchtung und Theatermaschinen dazukommen, dann handelt es sich um einen Sonderfall der Musik – das Musiktheater mit seinen vielen Verzweigungen: Oper, Singspiel, Operette, Musical, Ballett, aber auch die Gattung mit nur imaginierter Szene – das Oratorium – und die wahrscheinlich älteste vertonte dramatische Handlung unserer Kultur: die Passion. Wenn man es ganz genau nimmt, gehört sogar der Film als multimediales Ereignis dazu. Eine ganz frühe Bezeichnung aus der Zeit um 1600, als die Oper entstand, bringt es gut auf den Punkt: eine in Musik gesetzte Geschichte – Favola per musica (so Monteverdis »Orfeo«).

      Die Musikgeschichte kennt die Zeit um 1600 als eine wichtige Wendezeit: Mit dem Versuch, in musikalischer Weise Geschichten zu erzählen und darzustellen, bekam der Gesang eine neue Qualität. Hier wurden nicht nur Silben mit schönen Noten verbunden, sondern hier wird die Sprache – samt ihrem Klang und Rhythmus, ihrer Poesie und Dramatik, ihrem Zauber und ihrer Leidenschaft – zu Musik. Denn jeder gute Text hat schon Klang und Rhythmus. Wenn der Komponist dem nachspürt und es in Töne setzt, dann entsteht Musik von großer Intensität der Klangrede. Die musikalische Rhetorik wird hier zu einem Kompositionsprinzip. Wort und Musik verschmelzen zu einer Einheit. Von nun an kann man nicht mehr ohne Weiteres einem vertonten Text Worte einer anderen Sprache unterlegen. Wenn es dennoch gelingt, kann man von einem Glücksfall sprechen.

      Die Entstehungsgeschichte der Oper ist mit einer zweiten Gattung verbunden, die man als den spirituellen Zwilling des Musiktheaters verstehen kann: Das Oratorium ist »Theater im Kopf«. Diese gleichzeitig als geistliche Entsprechung für den kirchlichen Bereich entstandene Gattung verzichtet auf Szene, Kostüme, Tanz und Bühnenbild. Das macht das Oratorium nicht unbedingt ärmer: Denn durch den Verzicht auf visuelle Reize, die ja dominanter sind als akustische, kann die Musik mehr in die Tiefe gehen. Während einem Zuschauer im sichtbaren Musiktheater vor lauter Sehen das Hören vergeht, kann man im Oratorium beruhigt die Augen schließen. Und wenn man dabei nicht schon besser hört, kann man wenigstens besser schlafen. Tatsächlich kann man immer wieder szenische Aufführungen von Oratorien sehen und konzertante Darbietungen von Opern hören. Deshalb ist auch ein szenisches Oratorium häufig nur eine langweiligere Form der Oper.

      Ein Sonderfall des Oratoriums ist die Passion – eine vorwiegend evangelische Gattung der Kirchenmusik. Die Leidensgeschichte Jesu aus den vier Evangelien wurde schon im Mittelalter im Gottesdienst – vor allem am Karfreitag – von Klerikern gesungen (gregorianische Passion). Im ausgehenden Mittelalter gab man den Personengruppen (Apostel, Volk) auch mehrstimmige Partien, dann sang der Evangelist einstimmig nach Art der Gregorianik und alle Personen in direkter Rede mehrstimmig (responsoriale Passion), später sang man den ganzen Bibeltext nach Art einer Motette (motettische Passion – was der Wortdeutlichkeit nicht gut bekam). Bei Heinrich Schütz finden wir den Text der einzelnen Sprecher (Evangelist, Jesus, Pilatus, Petrus) einstimmig vertont, die Personengruppen ebenso wie den Anfang und den Abschluss mehrstimmig – alles ohne Instrumente. Im 17. Jahrhundert nahm die Passion die Form des Oratoriums an (oratorische Passion) – so kennen wir sie von Bach, Telemann und den Zeitgenossen. Als man später den Bibeltext (auch aus einem eigenartigen Respekt vor dessen Heiligkeit) gegen poetische Passionstexte zeitgenössischer Autoren austauschte (Passionsoratorium), fiel die Passion zeitgebundener und bisweilen allzu schwülstiger Poesie – und damit der Vergessenheit – anheim. Alle derartigen Passionen des 19. Jahrhunderts sind