Daniel Marc Segesser

Der Erste Weltkrieg


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bis 1914 groß, so dass die Bilanz der industriellen Entwicklung des Landes sehr zwiespältig ausfiel. Dem erheblichen Ausbau der Infrastruktur stand in den letzten Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg ein nur sehr langsamer Aufbau einer eigenen Industrie gegenüber.

      Das größte Problem des Osmanischen Reiches bildete allerdings die Tatsache, dass die meisten seiner Bewohner nicht bereit waren, sich selbst in erster Linie als Teil des Staates und damit als Osmanen zu verstehen. Mehr und mehr setzte sich die Vorstellung durch, dass ein Zusammenleben der verschiedenen ethnischen, sprachlichen und religiösen Gruppen in Zukunft nicht mehr möglich sein werde. Die Entwicklung wies schon seit dem 19. Jahrhundert auf eine räumliche Trennung und eine Entflechtung der jeweiligen Gruppen hin. Dass dieser Prozess nicht gewaltfrei verlaufen würde, war dabei vielen Zeitgenossen klar. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und bis 1908 wurden gemäß Schätzungen etwa 5 Millionen Muslime im Rahmen von Fluchtbewegungen und Vertreibungen aus den europäischen Teilen des Reiches vertrieben und meistens in Anatolien angesiedelt (Karpat 1985, 11). Dennoch verblieben auch 1914 noch große Gruppen von Armeniern und Griechen im Kernbereich des Osmanischen Reiches, was während des Ersten Weltkrieges und danach fatale Konsequenzen haben sollte (siehe 4.4 und 6). Die meisten christlichen Minderheiten vermochten sich jedoch im Verlauf des 19. Jahrhunderts von der osmanischen Herrschaft zu befreien. Ausgangspunkt dieses Prozesses bildeten die Impulse aufklärerischer Ideen sowie der Französischen Revolution, die bei den neu entstehenden Bildungseliten auf dem Balkan eine Art von »Erweckung« auslöste. Diese erfolgte allerdings in den meisten Fällen nicht zuerst in den jeweiligen Gebieten selbst, sondern unter im Exil in Westeuropa lebenden Intellektuellen, deren Ideen sich erst nach und nach auf dem Balkan verbreiteten. Herausragende Vertreter dieser Generation waren in Griechenland Admantios Korais (1748-1833), Vuk Stefanovic Kradzic (1787-1864) in Serbien, Neofit Rilski (1793-1881) in Bulgarien oder Samuil Clain (1745-1806) und Gheorghe Sincai (1754-1816) in Rumänien. Vorerst waren die Versuche, sich von der Herrschaft des Osmanischen Reiches zu lösen allerdings nicht erfolgreich. Nur Griechenland vermochte sich, wohl nicht zuletzt dank einer großen Begeisterung für die griechische Kultur in der Öffentlichkeit der europäischen Großmächte schon in den 1820er Jahren von der osmanischen Herrschaft zu befreien. In den übrigen europäischen Teilen des Osmanischen Reiches mussten sich die Minderheiten vorerst mit einer nicht immer genau definierten und daher prekären Form von Autonomie begnügen. Rumänien und Serbien wurden schließlich nach dem von Aufständen in weiten Teilen des Balkans begleiteten Russisch-Türkischen Krieg von 1877/78 am anschließenden Berliner Kongress als souveräne Staaten anerkannt. Bulgarien wurde solches zu diesem Zeitpunkt jedoch trotz Unterstützung Russlands verweigert, so dass die Anerkennung als souveräner Staat erst 1908 erfolgte.

      Außen- wie wirtschaftspolitisch blieben die Balkanstaaten während des gesamten 19. und auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu großen Teilen abhängig von den europäischen Großmächten. Dies hing nicht zuletzt damit zusammen, dass die Gesellschaftsstruktur in den meisten Fällen agrarisch war und viele Intellektuelle ihre Ideen aus dem Ausland in die verschiedenen Gebiete hineintrugen. Es setzte ein Transformationsprozess ein, bei welchem die Bevölkerung in den meisten Gebieten des Balkans auf die aktive Hilfe der europäischen Großmächte angewiesen war. Einerseits handelte es sich dabei um militärischen und diplomatischen Beistand bei der Ablösung vom Osmanischen Reich, andererseits aber auch um finanzielle und technische Hilfe bei der Erneuerung der rückständigen Infrastruktur und dem Aufbau einer eigenständigen Industrie. Dass diese Hilfe keineswegs uneigennützig gewährt wurde, zeigte sich schon bald. Sowohl die Habsburgermonarchie als auch Russland, aber auch die geografisch weiter weg gelegenen Staaten wie Frankreich, das Deutsche Reich oder Großbritannien suchten die von Seiten der Balkanstaaten erbetene Hilfe zu nutzen, um eigene politische und/oder wirtschaftliche Interessen durchzusetzen. Der Balkan wurde deshalb im Verlauf des 19. Jahrhunderts zum Spielfeld der europäischen Mächte und zum Experimentierfeld für Teile des europäischen Investitionskapitals. Angesichts der immer wieder aufflammenden Konflikte bemühten sich die europäischen Großmächte um einen möglichst hohen Grad an Kontrolle über die politische Entwicklung in den neu gebildeten und neu entstehenden Balkanstaaten. Dies wurde in ihren Augen am besten dadurch gewährleistet, dass in den jeweiligen Ländern Monarchen eingesetzt wurden, die aus westeuropäischen Dynastien stammten. Diese verfügten zwar nicht über große Kenntnisse der politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und religiös-kulturellen Zustände in ihren Staaten, aber ihnen wurde zugetraut, dass sie eine Vermittlerrolle zwischen den inneren Parteiungen einnehmen könnten. Der Erfolg dieser Idee blieb allerdings bescheiden. Einzig in Serbien vermochte sich eine einheimische Dynastie aus der Führungselite des Aufstandes zu etablieren. Deren Position blieb allerdings prekär, da nicht alle Angehörigen der einheimischen Eliten bereit waren, den Anspruch der betreffenden Familie zu akzeptieren. Begründet unter Anderem in den fortgesetzten innenpolitischen Spannungen auf dem Balkan versuchten die Eliten, die aufgeheizten Massen durch Expansionspolitik von den innenpolitischen Problemen abzulenken. Die weiterhin bestehende Schwäche des Osmanischen Reiches weckte dabei Begehrlichkeiten, ließ aber gleichzeitig die im gemeinsamen Abwehrkampf des 19. Jahrhunderts noch bestehende Solidarität der nun in neuen Staaten organisierten christlichen Minderheiten schwinden. Dieser Konflikt wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts primär in Makedonien ausgetragen, wo ein erbitterter Volkstums- und Kulturkampf tobte (Hösch 2004, 72). Es kam dabei immer wieder zu Gewalttaten und Massakern, dies sowohl vor als auch während der Balkankriege von 1912/13. Nach dem ersten dieser Kriege musste sich das Osmanische Reich fast vollständig aus seinen europäischen Besitzungen zurückziehen. Der zweite Krieg zwischen den ehemaligen Verbündeten führte schließlich im bisher primär auf Russland ausgerichteten Bulgarien nach dessen Niederlage dazu, dass sich das Land verstärkt an die Habsburgermonarchie anlehnte, während Serbien, welches im 19. Jahrhundert enge Verbindungen zu Österreich-Ungarn gepflegt hatte, mehr und mehr die Unterstützung Russlands suchte, welches sich umgekehrt mit der Situation konfrontiert sah, dass ihm fast nur noch Serbien als Bündnispartner auf dem Balkan verblieb.

      Russland selbst war 1914 zwar noch weitgehend ein agrarisch geprägtes Land, die Industrialisierung war in den letzten Jahrzehnten des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts allerdings stark vorangeschritten. Dies zeigen die hohen Wachstumsraten von 8 % pro Jahr in den 1890-er Jahren und von immerhin noch 6 % in den Jahren 1909 bis 1914. Diese Entwicklung war einerseits auf eine bewusste staatliche Förderung speziell der mit dem Bau und Betrieb von Eisenbahnen und der Produktion von Rüstungsgütern zusammenhängenden Schwerindustrie zurückzuführen, andererseits aber auch auf die Einführung des Goldstandards im Jahre 1897. Letzteres schuf die Voraussetzung für die Stabilität der russischen Währung und damit für feste Wechselkurse, was den Außenhandel und vor allem den Zufluss ausländischen Kapitals erheblich erleichterte. Russland wurde in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg so zu einem der weltweit größten Schuldner und weite Teile des Industriekapitals sowie der russischen Banken befanden sich in dieser Zeit in ausländischer Hand. Dass Russland im Unterschied zum Osmanischen Reich oder zu China dadurch nicht in die Abhängigkeit seiner Gläubiger geriet, lag einerseits darin begründet, dass sein wichtigster Bündnispartner und Geldgeber Frankreich mindestens ebenso auf Russland angewiesen war wie umgekehrt. Andererseits war der wichtigste Außenhandelspartner des Landes das Deutsche Reich, dessen wirtschaftspolitische Interessenlage verhinderte, dass Russland in eine einseitige ökonomische Abhängigkeit von Frankreich geriet. Auch bezüglich seines politischen Besitzstandes war es Russland trotz einer Reihe von zum Teil schmerzlichen militärischen Niederlagen – so im Krimkrieg von 1853-1856 oder im Russisch-Japanischen Krieg von 1904/05 – gelungen, diesen sowohl in Europa als auch im Fernen Osten weitgehend zu wahren und seinen Einflussbereich in Zentralasien gleichzeitig erheblich zu erweitern. 1914 war das Russische Reich so groß wie niemals zuvor und wie nie mehr danach. Sein Einfluss reichte von Polen bis nach Wladiwostok und vom Eismeer bis an den Hindukusch und den Kaukasus. Zum Symbol der Durchdringung der Weiten des Reiches wurde der zwischen 1891 und 1904 erfolgte Bau der Transsibirischen Eisenbahn. Im Gegensatz zur bis zum Russisch-Japanischen Krieg von 1904/05 auf rasche Expansion ausgerichteten Politik in Asien, blieben die russischen Zaren in Europa nach der Niederlage im Krimkrieg eher tendenziell zurückhaltend, dies besonders wo französische, britische oder auch österreichische Interessen betroffen waren. Während der Aufstände im Balkan nach 1875 und durch den russisch-türkischen Krieg von 1877/78 versuchte das Zarenreich seinen Einfluss auch in diesem Teil Europas erheblich zu erweitern, doch