ersten Drittel und dann wieder in den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auf sich gezogen hat. Seit etwa 1900 suchten vereinzelte Historiker in Frankreich wie in Deutschland die Geschichtswissenschaft durch Sozial- und Kollektivpsychologie zu erweitern. Andere postulierten, oft mit Rückgriff auf Nietzsche, einen unhintergehbaren Zusammenhang zwischen Geschichtsschreibung und Poesie.3 Geschichte wurde darüber zu einer veränderlichen Größe, und das Maß ihrer Veränderung war jeweils in der Gegenwart zu finden: „Jeder große Mensch hat eine rückwirkende Kraft: alle Geschichte wird um seinetwillen wieder auf die Waage gestellt, und tausend Geheimnisse der Vergangenheit kriechen aus ihren Schlupfwinkeln – hinein in seine Sonne. Es ist gar nicht abzusehen, was Alles einmal noch Geschichte sein wird. Die Vergangenheit ist vielleicht immer noch wesentlich unentdeckt! Es bedarf noch so vieler rückwirkender Kräfte!“ Nietzsche4 spricht hier zwar von den „großen“, also den geschichtsprägenden Individuen, die nicht nur Mit- und Nachwelt in eine neue Richtung zwingen, sondern auch auf ihre Vorwelt neues Licht werfen. Aber mancher Historiker hat rasch begriffen, dass ihm selbst eine vergleichbare Macht über die Vergangenheit zukommt. Einflussreich waren hier etwa die zum Jahrhundertbeginn vielgelesenen Schriften des Philosophen Benedetto Croce. Natürlich gab es Nietzsche-Leser auch unter den Kunst- und Literarhistorikern. „Es ist notwendig, das Gedankenwerk einer einheitlichen Historie zu zerstören, jede Zeit schafft sich ihre Geschichte, durch die ihr gemäße Auswahl.“ So bestimmte 1910 Carl Einstein – avantgardistischer Poet und Pionier einer modernen Kunstgeschichte – den aktuellen Stand der Kunsthistorie.5
In den zwanziger Jahren begann der Psychologe Frederic Bartlett daran zu zweifeln, dass die Erinnerung ihre Gegenstände so aus dem Gedächtnis greifen könne, wie man des Abends einen guten Wein aus dem Keller holt. Seine Experimente ließen eher auf eine aktiv rekonstruierende Tätigkeit schließen: im aktuellen Vorgang des Erinnerns werden Erinnerungsreste neu zusammengesetzt und dabei unvermerkt dem gegenwärtigen Stand von Wissen, Ansichten und Bedürfnissen angepasst. Ebenfalls auf die Regentschaft der Gegenwart über die Vergangenheit stieß der Soziologe Maurice Halbwachs: in ungeahntem Ausmaß hängt jede individuelle „Rekonstruktion der Vergangenheit“ von dem kollektiven Gedächtnis ab, dem das erinnernde Individuum gerade angehört. Der Kunsthistoriker Aby Warburg entwarf die Geschichte der kulturellen Erinnerungen als ein gefahrenreiches Drama: von Epoche zu Epoche erneuert sich der Kampf zwischen magischem Bann und rationaler Distanz, zwischen Selbstverlust und Stabilisierung des Selbst.
Bartlett, Halbwachs und Warburg fanden nur zögernd Gehör. Und der tastende Entwurf, zu dem Friedrich Heer kurz nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Titel einer Europäischen Geistesgeschichte Religions-, Philosophie-, Kunst-, Psycho- und Sozialgeschichte in eins zu arbeiten versuchte, blieb als ein umschwiegener Monolith am Wege liegen. Am Ausgang des Jahrhunderts aber wurden die Anstöße der zwanziger Jahre wieder aufgegriffen. Paul Ricoeur legte auf dem Grund aller Geschichtsschreibung ihre narrativ erzeugte Einheit frei. Jan Assmann unterteilte Maurice Halbwachs’ kollektives Gedächtnis in die „kommunikative“ und die „kulturelle Erinnerung“. Die kommunikative Erinnerung lebt aus dem persönlichen, mündlichen Umgang der Menschen. Die kulturelle Erinnerung vermittelt sich über Riten, Symbole, Bilder und Texte; auf ihr gründen Religion, Recht und jede politische Organisation. Der Gestaltwandel der Erinnerung, den die Erfindung der Schrift mit sich bringt, eröffnete neue Möglichkeiten in all diesen Bereichen – die Erforschung der kulturellen Erinnerung gerät so in Kontakt mit den neuen, rasch ausgreifenden Medienwissenschaften. Besondere Aufmerksamkeit hat die Wirkung von Bildern und Figuren in den letzten Jahren daher vor allem dort gefunden, wo sie sich mit dem Aufkommen neuartiger Medien verband. Ein Beispiel bieten die in der Reformationszeit geradezu inflatorisch genutzten Flugblätter. Sie waren durch die Erfindung des Buchdrucks rasch und billig herzustellen. Ihre weithin propagandistische Absicht ließ die Künstler auf eine möglichst effektvolle und affekterzeugende Gestaltung achten. Ihr massenhafter Vertrieb machte es möglich, wirkungssteigernde Techniken durch Erprobung zu erkennen und fortzuentwickeln. Die Ergebnisse hat Aby Warburg – analog zu „Schlagworten“ – als „Schlagbilder“ bezeichnet.6 Solche Techniken gehören überwiegend in den Bereich der Bildrhetorik, doch entfalteten auch bestimmte figurale Motive eine starke Durchschlagskraft; so etwa die Denunziation der katholischen Kirche als „Hure Babylons“, die nicht nur in Luthers Schriften, sondern auch in der Ikonographie der Flugblätter eine beherrschende Position erlangte. Epochenübergreifend hat sich dann der Teufel als die beliebteste Hauptfigur in der propagandistischen und satirischen Graphik durchgesetzt. Obwohl er dabei weit in Gefilde vordrang, deren Bewohner den Teufelsglauben entschieden von sich gewiesen hätten, will der Kunsthistoriker Ernst H. Gombrich darin keine rein metaphorische Verwendung sehen:7 „Je mehr wir von Gefühlen gepackt sind, desto größer ist die Versuchung, in irrationale Anschauungen zurückzufallen, die einen Teil unseres Kulturerbes ausmachen.“
Der Siegeszug eines neuen Mediums hängt freilich nicht nur von den technischen Möglichkeiten ab, sondern auch von den aktuellen Bedürfnissen. In der Reformationszeit schuf der Meinungskrieg der Konfessionen ein solches Bedürfnis. Während der Französischen Revolution löste dann die Radierung den Kupferstich als das beliebteste Medium ab: da sie ungleich rascher verfertigt wurde, konnte sie prompter auf die öffentliche Diskussion einwirken. Zwar war die Radiertechnik schon im 16. Jahrhundert erfunden worden, aber erst das revolutionäre Bedürfnis nach Aktualität brachte ihre technische Überlegenheit zum Tragen. Die Auswertung dieser weitverbreiteten wirkungsstarken Bilder, Figuren und Szenen für die Erforschung der Französischen Revolution wie der Entstehung des Nationalbewusstseins und des Nationalgefühls8 geht wohl nicht zufällig mit dem Aufblühen der Medienwissenschaften Hand in Hand.
Einen anderen Zugang zum kulturellen Gedächtnis eröffnete Pierre Nora mit seinem Konzept der „Lieux de memoire“, der „Erinnerungsorte“. Den Begriff entlehnte er einer Technik, mit der die antike Rhetorik das Auswendiglernen einer Rede erleichterte: Der memorierende Redner geht im Geiste durch einen ihm wohl bekannten Raum und „befestigt“ jede Etappe seines Textes an einer bestimmten Stelle; während er die Rede dann hält, schreitet er insgeheim diese „Erinnerungsorte“ wieder ab. Entsprechend sammelt Nora Gegenstände des französischen Kollektivgedächtnisses, an welche die nationale Erinnerung immer wieder zurückkehrt oder französisches Selbstgefühl sich unwillkürlich bindet – von der Krönungskathedrale in Reims bis zur Gestalt Napoleons, von der Encyclopedie der Aufklärer bis zum Pariser Café –, und fügt sie so zum „Haus“ der französischen Erinnerung zusammen. Etienne Francois und Hagen Schulze haben dieses Konzept soeben auch an der deutschen Geschichte erprobt. Wird von „Orten“ dabei in übertragenem Sinne gesprochen, so hatte Maurice Halbwachs sich bereits 1941 realen Orten zugewandt: den heiligen Stätten Palästinas. An diesen scheinbar uralt-dauerhaften Orten entdeckt der Historiker über die Jahrhunderte einen Wandel der Bedeutungen, aus dem er Wandlungen im kollektiven Gedächtnis der christlichen Pilger ablesen kann. Auch sonst provoziert der konkrete Raum in besonderem Maße die Anlagerung kollektiver Erinnerungen: Im Vergleich zwischen verschiedenen Kulturen, Nationen und Epochen zeigte Simon Schama, wie Grundelemente der Landschaft für die kollektive Erinnerung beansprucht werden.
All diese Untersuchungen kommen darin überein, dass in jeder Erinnerung konstruktive Kräfte am Werk sind, welche Direktiven und Antrieb von der Gegenwart der erinnernden Individuen und Kollektive empfangen. Die Erinnerung holt ihre Gegenstände nicht unverändert aus Speichern oder Kellern, sondern geht – teils unbewusst, teils bewusst – durchaus schöpferisch mit den ihr verbliebenen Gedächtnisspuren um. Nun war das den Historikern zwar auch früher schon bekannt, hatten sie doch von jeher ihre Mühe und Plage mit all den Verderbnissen, die eine „kreative“ Erinnerung in ihren kostbaren Quellen angerichtet hatte. Ihre Haltung war aber grundsätzlich kritisch: Wer herausfinden wollte, „wie es eigentlich gewesen“ ist, der musste seine Quellen so weit als irgend möglich von diesen Verderbnissen reinigen. Allenfalls sah er noch nach den Interessen, die sich an bewussten Manipulationen ablesen ließen: „cui bono?“, „wem nützt es?“ ist der Geschichtswissenschaft von alters her eine geläufige Frage.
Diese kritische Grundhaltung wurde weiter verschärft von den drei großen „Meistern des Zweifels“:9 Marx betrachtet die ganze Sphäre des Geistigen, einschließlich von Kultur und Religion, als einen