zu untersuchen ist, kraft welcher Wirkungen Figuren zu Schlüsselfiguren heranwachsen, werden die Gestalten der eigentlichen Mythen ausgeklammert. Deren Entstehung verliert sich in einer frühen Ferne, in die kein forschender Blick dringt; Thomas Mann hat das mit der „Höllenfahrt“ in den „Brunnen der Vergangenheit“, am Anfang seiner Joseph-Romane, sehr schön vor Augen geführt. Die Forschungsprobleme bleiben für die Antike ohnehin auch dann noch immens, wenn man sich auf geschichtswissenschaftlich zugängliche Zeiträume beschränkt. Zwar ist das Aufschießen von Schlüsselfiguren deutlich zu beobachten. Für die genauere Analyse ihrer Wirkung aber bleibt die Quellenlage im besten Fall karg. „Nur mühsam“, so schrieb Georges Duby bei ähnlicher Gelegenheit12 „tastet sich der Historiker auf schwierigem Terrain voran, dessen Grenzen bei jedem Schritt zurückweichen.“ Die Beiträger mussten mancherlei Umwege beschreiten, um der zentralen Frage bis in diese frühe Zeit nachzustellen.
Zu Anfang präsentiert Stefan M. Maul den ersten Übertritt von der Geschichte in den Mythos, zu dem die Wissenschaft zurückreicht. GILGAMESCH ist der Heros des ältesten Epos, das uns schriftlich erhalten blieb. Dazu haben wir auch Spuren von einem historischen Gilgamesch, der um 2750 vor Christus König von Uruk war. Das Epos basiert auf Erzählungen, deren mündliche Tradition wohl weit ins dritte Jahrtausend vor Christus zurückläuft. Zwei schriftliche Fassungen besitzen wir aus dem zweiten Jahrtausend, aus dem sich im übrigen Textzeugen und Übersetzungs-Stücke quer durch den Vorderen Orient finden. Und noch im Babylon des Hellenismus haben die Schüler die Keilschrift auch an Geschichten aus dem Gilgamesch-Epos gelernt. Die Verbreitung des Werkes war also gewaltig. Was war es, das sich derart an die drei Jahrtausende in der Überlieferung erhielt? Zunächst war Gilgamesch ein Gründerheros, wie er vielen Mythen geläufig ist: Ihm werden die Mauern von Uruk zugeschrieben, der ältesten Stadt des Zweistromlandes. Aber er ist auch eine tragische Figur. Als Halbgott will er den eigenen Tod überwinden, scheitert und macht die urmenschliche Erfahrung unentrinnbarer Sterblichkeit. Am Ende muss er sich der Pflicht des Königs beugen: nicht dem eigenen Ich hat seine Sorge zu gelten, sondern der rechten Ordnung der Menschen und dem Dienst für die Götter. Dieses Ineinander aus Urerfahrung der Sterblichkeit und Ethos der Selbstbescheidung wurde dann mit dem Epos weitergereicht durch den Gang der Jahrhunderte.
Zwei Jahrtausende näher steht uns HOMER, und doch wissen wir über ihn fast nichts. Nicht nur dass die antiken Homer-Biographien dem Gegenstand ihrer Darstellung bereits viel zu fernstehen, als dass sich aus ihnen noch glaubwürdige Daten gewinnen ließen; die moderne Forschung zerfällt sogar immer noch über der Frage, ob es Homer als einen großen Dichter überhaupt gegeben habe oder ob die homerischen Dichtungen bloße Kompilationen älterer Einzelepen aus mündlicher Tradition sind. Wie heftig die Philologen darüber allerdings auch streiten, übereinkommen sie doch in ihrer Missachtung der antiken Homer-Viten. Barbara Graziosi will dieser Missachtung entgegenwirken: Zwar kann man aus den Viten nichts über einen „historischen“ Homer erfahren, aber doch vieles über das Bild Homers bei jenem griechischen Publikum, für das er Klassiker, Schullektüre und – quer durch die zahlreichen Städte und Kolonien – ein Garant für die kulturelle Einheit war. Zahlreiche Städte wetteiferten um das Privileg seiner Geburt. Recht verschiedenen Zeiten wurde sein Leben zugeordnet. Die antiken Lebensbilder suchten, entgegen den modernen Erwartungen, diese Divergenzen nicht zu beseitigen, sondern verzeichneten sie getreulich und umfassend: für sie erwies sich Homer gerade darin als ein Autor der ganzen griechischen Welt. In dieselbe Richtung wirkte das Erzählen von Homers Blindheit. Sie distanzierte ihn von jedem konkreten Einzelpublikum und machte ihn, kraft ihrer Übereinstimmung mit seiner Hilfsbedürftigkeit und Armut, zu einem Mann der breiten Volksschichten.
Eine einzigartige Episode aus der Wirkungsgeschichte Homers demonstriert Hans-Joachim Gehrke an ALEXANDER DEM GROSSEN. Wie viele andere junge Griechen und Makedonen hat der junge Alexander Homers Ilias verschlungen und studiert. Aber wie kein anderer hat er das eigene Leben erfolgreich nach dem Muster des homerischen Achilles entworfen. Aus Homer bezog er den heroischen Kodex von Ehre und Freundschaft, aus Homer das agonale Ideal, immer und überall der Erste sein zu wollen. Gehrke zeigt, wie Alexander seinen Zug ins Perserreich durch zahllose symbolische Gesten in die Nachfolge des Krieges um Troja setzt und wie er selbst in entscheidenden Situationen in der Nachfolge des Helden Achilles handelt. Mit dem alle Erwartungen übertreffenden Erfolg des Zuges nach Osten verwandelt sich diese Nachfolge dann zusehends zum Agon. Alexander begibt sich in den Wettstreit mit den mythischen Heroen, und hier nun vor allem mit Herakles, dem Größten der Helden, den der Mythos nach dem Tode in den Kreis der olympischen Götter erhöht. Schon die Zeitgenossen notierten diesen Zug zur Selbst-Mythisierung. Das alles hätte nicht wirklich werden können ohne ein außerordentliches Maß an rationalem Kalkül, militärischer Planung und logistischer Organisation, und es wurde begünstigt durch mancherlei glückliche Umstände. Dass es aber überhaupt denkbar geworden war, das rührte von der ungewöhnlichen Direktheit, mit der Alexander sein Handeln nach dem Maß mythischer Helden zu realisieren vermochte.
Der RAUB DER SABINERINNEN zählt zu den Mythen, die modernes Empfinden an die Ferne und Fremdheit der Antike erinnern können. Von Frauenraub und Vergewaltigung würden neuere Zeiten nicht leicht freiwillig in der eigenen Gründungsgeschichte erzählen. Der Mythos, so Susanne Gödde, spielt historisch vor dem Hintergrund der langwierigen Auseinandersetzungen der Römer mit ihren sabinischen Nachbarn, die letztlich in der Niederwerfung und Integration der Sabiner endeten. Die geschilderte Gewaltanwendung ist aber auch ein Kulturen übergreifendes Muster vieler Gründungsmythen. Bereits die augusteische Zeit fühlte dann das Bedürfnis, die moralisch irritierenden Züge der Geschichte zu entschärfen. Der Frauenraub wurde durch die Macht der Not legitimiert, die Anwendung von Gewalt unter Förmlichkeiten von Recht und Ehrfurcht verborgen. Auch hob man hervor, wie rasch die Geraubten zu vorbildlichen römischen Matronen erwuchsen. Die Pointierung auf Hochzeit und Ehe legte nun aber ein Muster frei, das möglicherweise schon bei der Entstehung des Mythos eine Rolle gespielt hat: in der Tradition griechischer Mythen und Riten erscheint jede Hochzeit als ein erzwungener und erlittener Übergang der Braut von der Herkunftsfamilie ins Haus des Ehemannes. Unter eine noch ganz andere Perspektive rückt Ovid die Geschichte in seiner Liebeskunst: Angst und Flucht erhöhen für den verfolgenden Mann noch die Schönheit der Frau, und der Widerstand steigert die Lust an der Überwindung. So gewinnt derselbe Mythos seine Faszination selbst in zeitlicher Nachbarschaft aus höchst unterschiedlichen Motiven.
CAESARS Größe hat nicht nur seine Zeitgenossen überwältigt, sondern die Erinnerung an seine Figur über zwei Jahrtausende bis heute beherrscht und – abgesehen allenfalls von Alexander und Napoleon – den Ruhm aller anderen großen Feldherrn bei weitem überstrahlt. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Sein Sieg im Bürgerkrieg bereitete die Epoche des römischen Kaiserreichs vor, ja der Titel ‚Kaiser‘ ist aus seinem Namen entstanden. Dass Augustus sich auf ihn berief, flocht Caesar als einen Gründerheros in die Geschichte des Christentums. Aber auch: der klassische Stil seiner Kriegserinnerungen eröffnete für ungezählte Schülergenerationen den Weg in die lateinische Sprache. Hans Jürgen Tschiedel sucht den Grund der einzigartigen Wirkung noch an anderer Stelle: in Caesars Persönlichkeit. Caesar war nicht nur ein überragender Feldherr und ein hinreißender Redner, sondern auch Literat und Dichter, Geschichtsschreiber und Philologe, Astronom und Propagandist von jeweils professionellem Format. Dieses Spektrum der Begabungen verbindet sich mit ungeheurer Energie und Konzentration, Willenskraft und Selbstgewissheit zu einer „Persönlichkeit, die menschliches Maß zu übersteigen scheint.“ Dazu treten enorme Widersprüche des Charakters, von der Rezeption verschärft in Divinisierung wie in Dämonisierung. Alles zusammen ergibt das Bild eines Menschseins, „das die Möglichkeiten irdischer Existenz bis zum Extrem – im Guten wie im Bösen – auslotet, das gleichsam exemplarisch vor Augen stellt, zu was der Mensch fähig ist, was er sein kann.“ Was hier also zum ersten Mal zur Schlüsselfigur der Imagination erhoben wird, ist die ins Grandiose getriebene Komplexität menschlicher Persönlichkeit.
Dominierte in Caesar, aller Ambivalenzen unerachtet, das bewundernswert Große, begann KLEOPATRA ihren Weg durch die europäische Imagination als Figur des fremdartig Anderen. Ihre Geschichte, so Manfred Clauss, wurde von ihren siegreichen römischen Feinden geschrieben. Diese aber wollten den Bürgerkrieg vergessen machen. So verwandelten sie die Schlacht bei Actium in die welthistorische Entscheidung zwischen