Ulrich H. J. Körtner

Reformatorische Theologie im 21. Jahrhundert


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Rekonstruktion der Theologie der Reformatoren oder einer Quersumme ihres Denkens zu verwechseln, auch nicht mit einer ungeschichtlichen Wiederholung theologischer Lehraussagen des 16. Jahrhunderts. Gemeint ist vielmehr eine gegenwartstaugliche Theologie, die sich an den grundlegenden Einsichten der Reformation orientiert. Eine sich an der Reformation orientierende Theologie ist von der Überzeugung getragen, dass die Werke eines Luther, eines Zwingli, eines Melanchthon oder eines Calvin unserer Gegenwart Maßgebliches zu sagen haben und auch für uns eine Schule theologischer Urteils- und Kritikfähigkeit sind. Reformatorische Theologie in dem hier in Rede stehenden Sinne lässt sich freilich nur so treiben, dass die Sachanliegen der Reformation in anderen Worten als denen des 16. Jahrhunderts formuliert werden, während die bloße Wiederholung reformatorischer Theologoumena in der Gefahr steht, die Sache der Reformatoren zu verfehlen. Jeder Versuch einer Neuformulierung reformatorischer Grundgedanken stellt ein Wagnis dar, ist aber aufgrund des hermeneutischen Problems aller Theologie eine unabweisbare Aufgabe.

      |8| Die vorliegende Skizze reformatorischer Theologie geht davon aus, dass die Lehre von der bedingungslosen Annahme und Rechtfertigung des Gottlosen und die aus ihr abgeleitete Kirchenkritik nicht der alleinige Inhalt, wohl aber das theologische Zentrum der Reformation ist. Nach einem einleitenden Kapitel zum Begriff des Reformatorischen wird darum zunächst nach der Bedeutung der Rechtfertigungslehre für unsere Gegenwart gefragt. Die Rechtfertigungslehre aber ist als Freiheitslehre zu verstehen, deren Impulse und Implikationen für das Freiheitsproblem in der Moderne im dritten Kapitel diskutiert werden. Maßstab und Quelle christlichen Glaubens und Lebens aber ist nach reformatorischem Verständnis die Bibel, verstanden und gelesen als Heilige Schrift, weil in ihr das gewiss machende Evangelium von der bedingungslosen Rechtfertigung des Gottlosen ursprünglich und maßgeblich bezeugt wird. Das reformatorische Schriftverständnis und seine Bedeutung für die Gegenwart sind Gegenstand des vierten Kapitels. Überlegungen zum Verhältnis von Reformation und Moderne im fünften Kapitel sollen meine Skizze reformatorischer Theologie abschließen.

      Der Einladung der Herausgeber, den Eröffnungsband für die neue Folge der Theologischen Studien zu schreiben, bin ich gern gefolgt. Ihnen danke ich ebenso herzlich wie meinem Mitarbeiter Mag. Felix Hulla, der mit bei den Recherchen behilflich war und das Manuskript sowie die Druckfahnen Korrektur gelesen hat. Auch Herrn PD Dr. Andreas Klein danke ich herzlich für seine Unterstützung bei den Korrekturen.

      Wien, im April 2010

      Ulrich H. J. Körtner

      Wie reformatorisch war die Reformation? Die Frage mag auf den ersten Blick überraschen. Sie wird jedoch verständlich, wenn man bedenkt, wie sehr die Reformationsforschung in den vergangenen Jahrzehnten in Bewegung geraten ist. Ob man die Reformation als einheitliches historisches Phänomen beschreiben kann, ist heute ebenso umstritten wie der Begriff des Reformatorischen und seine inhaltliche Bestimmung.

      Spätestens seit dem 19. Jahrhundert wird »Reformation« als Epochenbegriff verwendet, als Bezeichnung für die durch Martin Luther, Ulrich Zwingli und andere ihnen Gleichgesinnte ausgelösten Vorgänge, die im Verlauf des 16. Jahrhunderts zu einer dauerhaften Aufspaltung des abendländischen Christentums führten. Im Ergebnis entstanden voneinander getrennte Konfessionskirchen. Während die Trennung zwischen den evangelischen Kirchen und der römisch-katholischen Kirche bis heute fortbesteht, haben etliche der aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen mit der Leuenberger Konkordie von 1973 die Basis für eine Kirchengemeinschaft gefunden, in der die innerevangelischen Trennungen der zurückliegenden Jahrhunderte überwunden worden sind.

      Paradoxerweise ist der Begriff der Reformation kein genuin reformatorischer. Das will sagen: Er ist bereits im mittelalterlichen Sprachgebrauch beheimatet, während er von den Reformatoren des 16. Jahrhunderts selbst auffällig zurückhaltend und sparsam verwendet worden ist.1 Im mittelalterlichen Sprachgebrauch wird die Vokabel »reformare« weitgehend parallel benutzt mit »renovare«, »innovare«, »restituere«, »instituere«, »regenerare«, »reviviscere«, »suscitare«, »resuscitare«, »surgere«, »renasci«. Sprachgeschichtlich sind also Reformation und Renaissance Synonyme. Beide Begriffe bezeichnen ein in der Verwirklichung begriffenes eschatologisches Geschehen, wobei erkennbar neutestamentliche Aussagen über die Neuschöpfung der Welt und die |10| Wiedergeburt des Menschen aufgenommen werden. Der ursprünglichen Vorstellung nach handelt es sich also um einen mysterienhaft-sakramentalen Vorgang, wobei sich politisch-soziale und religiöse Hoffnungen im Mittelalter wechselseitig durchdringen. Nicht nur für die Kirche, sondern auch für das Heilige Römische Reich und alle Bereiche des Lebens wird eine Reformation ersehnt. Im ausgehenden Mittelalter nimmt die Reformationshoffnung utopisch-schwärmerische Züge an, die in den Umwälzungen des 16. Jahrhunderts auf vielfältige Weise nachwirken. Bekanntlich haben nicht erst Luther und Zwingli, sondern z. B. schon Franz von Assisi und Joachim von Fiore eine umfassende Reformation angestrebt, hierbei auf die Kraft der monastischen Bewegungen des Hochmittelalters setzend.

      Wie der Reformationsbegriff wörtlich besagt, geht es um eine Erneuerung, welche zugleich zu den Ursprüngen, zum Anfang aller Geschichte zurückführt. Die Welt soll in den Zustand adamitischer Reinheit, die Kirche zur apostolischen Vollkommenheit rückverwandelt werden. Hierbei hat der Reformationsbegriff gesetzliche Implikationen, soll doch in der weltlichen Gesellschaft das reine Naturrecht, in der Kirche aber das vollkommene Gesetz Christi und der Apostel verwirklicht werden. An dieser Stelle unterscheidet sich übrigens der mittelalterliche Reformationsbegriff vom Begriff der Renaissance. Während nämlich die Reformation im mittelalterlichen Sinne die Durchsetzung eines ursprünglich geltenden, inzwischen verachteten, jetzt aber neu aufgerichteten Gesetzes zum Ziel hat, kann die Vorstellung der Renaissance neben dem christlich-mysterienhaften ein naturalistisch-heidnisches Element in sich tragen und die antike Vorstellung von einer im ewigen Kreislauf der Natur stattfindenden Wiederkehr aller Dinge übernehmen. Die Vorstellung eines urzeitlichen Gesetzes, welchem neue Geltung zu verschaffen ist, ist dagegen für das Denken der Renaissance nicht bestimmend.

      Reformation im strengen Sinne des mittelalterlichen Sprachgebrauchs bezeichnet die Rückführung zu einer Norm, wobei die zu verwirklichende Norm immer religiösen Ursprungs ist. Das im Mittelalter vorherrschende Grundverständnis von Reformation geht letztlich auf Augustin zurück. Im augustinischen Sinne bedeutet die Norm, an welcher sich alle Reformation zu orientieren hat, freilich nicht ein Gesetz, sondern eine Person, nämlich Christus, welche das Ebenbild des lebendigen Gottes ist, nach welchem der sündige Mensch kraft des Glaubens neu gestaltet werden soll. Schon bei Augustin nimmt diese personale Norm freilich Züge eines Gesetzes an, insofern die Notwendigkeit |11| der Reformation mit den Forderungen des Mönchtums verknüpft werden. In der mittelalterlichen Kirche ist das Mönchtum die institutionalisierte Dauerreform der Kirche, die Reformation in Permanenz. In immer neuen Anläufen versucht das abendländische Mönchtum im Verlauf seiner Geschichte das Gesetz Christi vollkommen zu erfüllen und, ausgehend von der klösterlichen Gemeinschaft, in Kirche und Welt durchzusetzen. Das ist der Grundgedanke des monastischen Reformationsverständnisses seit der cluniazensischen Reform.

      Im Spätmittelalter verbinden sich Renaissancemotive mit der Vorstellung einer umfassenden Reformation von Kirche und Welt. Einerseits findet der antike Naturrechtsgedanke Aufnahme, dem zufolge die menschliche Gesellschaft wieder in einen gottgewollten Ursprungszustand versetzt werden soll. Andererseits bricht sich die Idee eines kontinuierlichen geschichtlichen Verfalls Bahn, wodurch der Reformationsbegriff teilweise eine apokalyptische Färbung erhält. Die Weltgeschichte wird dreiteilig periodisiert: Auf einen Zustand ursprünglicher Vollkommenheit folgte eine lange Periode fortschreitender Dekadenz, nun aber wird der Anbruch einer neuen Idealzeit erhofft. In dieser Form ist der Reformationsbegriff volkstümlich geworden, wie zahlreiche Flugschriften und Gedichte des 15. und 16. Jahrhunderts beweisen. Der Reformationsbegriff kann im Ausgang des Mittelalters in Verbindung mit der Rezeption römischen Rechts aber auch eine spezifisch juridische Bedeutung annehmen und die verschiedenen Reformen der Reichsordnung, des Städterechtes und der Landrechte bezeichnen.

      Vor dem Hintergrund der vielfältigen Motive des Reformationsbegriffs im Spätmittelalter fällt um so mehr auf, dass Martin Luther diesen Terminus