Ulrich H. J. Körtner

Reformatorische Theologie im 21. Jahrhundert


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nicht als Reformator, nicht als Bringer einer neuen Zeit. Nicht Einzelgestalten der Geschichte, sondern Christus und sein Evangelium stehen an der Wende der Zeiten. Wohl muss die Verkündigung des Evangeliums erneuert und diesem in der Kirche neu Gehör verschafft werden. Doch eine umfassende Reform von Kirche und Welt erwartet Luther nicht unmittelbar, schon gar nicht in Verbindung mit seinem eigenen Wirken, sondern von der Zukunft, die Gott allein kennt. »Die Zeit dieser Reformation aber kennt allein der, der die Zeiten geschaffen hat.«2 Im Übrigen verwendet Luther den Reformationsbegriff nur im juridischen Sinne, meist negativ über gesetzgeberische Reformbemühungen im 15. Jahrhundert urteilend, positiv aber im Blick auf die Reform der Universität und ihrer Fakultäten.3

      Noch sparsamer geht Luthers Weggefährte Philipp Melanchthon mit dem Reformationsbegriff um und übt selbst gegenüber dem altrechtlichen Sprachgebrauch äußerste Zurückhaltung. Während der Begriff »Reformation« von ihm gelegentlich im juristischen Sinne im Blick auf die evangelischen Reformvorschläge angewendet wird, vermeidet es Melanchthon selbst noch nach Luthers Tod, dessen Lebenswerk als Reformation zu charakterisieren. In seiner Würdigung Luthers aus Anlass seines zweiten Todestages spricht Melanchthon lediglich davon, dass durch Luther »das Licht des Evangeliums wieder entzündet« worden sei.4 Im Sinn des Renaissancegedankens wird Luther dafür gedankt, »die Kirche aufs Neue zu den Quellen zurückgerufen« zu haben. Erst die spätere lutherische Geschichtsschreibung – der Sache nach, aber noch nicht explizit bereits Matthias Flacius – deutet die verschiedenen spätmittelalterlichen Reformationsbemühungen als Weissagungen auf Luthers Werk und dieses selbst als die eigentliche Reformation der Kirche. Offenbar war es Veit Ludwig von Seckendorf, der 1688 in einer Verteidigungsschrift gegen den Jesuiten Maimbourg erstmals Luthers Wirken ausdrücklich als »reformatio religionis« bezeichnete. Hierbei wirkt freilich der altrechtliche Sprachgebrauch nach, was darauf zurückzuführen ist, dass in den evangelischen Territorien inzwischen ein neues Ordnungsgefüge entstanden war, welches nun freilich nicht mehr durch das altkanonische Recht, sondern durch das von Luther wieder ans Licht gebrachte Wort Gottes bestimmt wurde.

      Die historiographische Sicht der von Wittenberg und Zürich ausgehenden Umwälzungen als Reformation ist vor allem durch die reformierte Entwicklungslinie des evangelischen Glaubens vertreten worden, die hierbei ihrerseits unter humanistischem Einfluss steht. Zwingli hatte seine Wirksamkeit mit der von ihm gehegten Hoffnung auf eine Wiederherstellung des Christentums (spes renascenti Christi et evangelii) in Verbindung gebracht und auch Calvins Nachfolger Theodor Beza sprach im humanistischen Sinne von der Renaissance und dem Wachstum der reformierten Kirchen. Seit dem Ende des |13|17. Jahrhunderts setzt sich auch in der allgemeinen Geschichtsschreibung der Reformationsbegriff für die in Rede stehende Epoche durch, wobei die Datierung ihres Anfangs und die innere Einheit der ihr zuzurechnenden Bewegungen bis heute strittig geblieben ist.

      Ob es die Reformation überhaupt gegeben hat oder ob es sich bei ihr lediglich um ein historiographisches Konstrukt späterer Generationen handelt, ist in den beiden letzten Jahrzehnten Gegenstand von kirchenhistorischen und theologischen Debatten geworden. Der Begriff des Reformatorischen bezeichnet eben nicht nur eine historische Epoche, sondern zugleich die aus ihr abgeleiteten theologischen Normen und identitätsstiftenden Grundüberzeugungen evangelischen Glaubens und evangelischer Kirchen.

      Die neuere kirchengeschichtliche Forschung hat das Bild von der einen Reformation, die mit Luther ihren Anfang nahm und sich erst im weiteren Verlauf in verschiedene Richtungen aufspaltete, gründlich revidiert. So gewiss Luther die impulsgebende und zentrale Gestalt der Reformation in ihren Anfängen war, so wenig dürfen die Reformation und das Reformatorische auf Luther beschränkt werden. Zwar haben sich alle übrigen Reformatoren mehr oder weniger intensiv auf Luther und seine Rechtfertigungslehre bezogen, doch ist das einseitige Bild von der Reformation als Luther-Rezeption, das im Bann der durch den Kirchenhistoriker Karl Holl eingeleiteten Lutherrenaissance steht, in den vergangen Jahren zurechtgerückt worden. Weder Zwingli noch Johannes Calvin, der bedeutendste Reformator der zweiten Generation, lassen sich hinreichend als Schüler Luthers verstehen. Eine solche Sicht führt auch zu einer theologischen Verengung, wonach die Übereinstimmung mit Luther oder die Abweichung von ihm zum Maßstab des Reformatorischen erklärt wird. Abgesehen davon, dass Luther selbst eine theologische Entwicklung vollzogen hat, so dass schon die Frage entsteht, welcher Luther denn nun zur theologischen Norm erklärt werden soll – der frühe oder der späte –, und abgesehen davon, dass es innerhalb des Luthertums schon im 16. Jahrhundert über die authentische und rechtmäßige Gestalt lutherischer Lehre zu heftigen Auseinandersetzungen kam, führt eine Gleichsetzung von Luther und Reformation dazu, dass jede Abweichung von Luthers Denken negativ als Abfall vom normativen Ursprung, als Verfallsgeschichte oder als »Wildwuchs« apostrophiert wird. Zwingli |14| oder auch Calvin – um nur diese Reformatoren zu nennen – agierten nicht nur in einem anderen politischen Kontext als Luther und Melanchthon, sondern ihre Theologie folgte durchaus anderen Organisationsprinzipien als diejenige Luthers. Davon abgesehen, steht Luthers umfangreiches Werk, das praktisch ganz aus Gelegenheitsschriften besteht, die in ihrem jeweiligen historischen Kontext interpretiert werden müssen, auch systematisch-theologisch im Konflikt der Interpretationen und Auslegungsschulen. Der Kirchenhistoriker Volker Leppin spricht gar vom »Vexierbild«5 Luther und vertritt die These, dass die Zentralstellung der Rechtfertigungslehre bei Luther »einem Klärungsprozeß entsprang, der dem realhistorischen Geschehen der Reformation nicht vorausging, sondern ihn begleitete und verarbeitete«6.

      Ob und inwiefern man in Anbetracht der Vielfalt reformatorischer Bewegungen überhaupt noch von der Reformation als einheitlicher Realität sprechen kann, mit der geschichtlich etwas Neues entstanden ist, wird heute unterschiedlich beantwortet. Auf der einen Seite steht die These, dass aus kirchenhistorischer Sicht nach wie vor auf dem epochalen Umbruchcharakter der Reformation und ihrer theologischen Einheit zu beharren ist. Wie schon Bernd Moeller sieht z. B. Thomas Kaufmann in Luther weiterhin die »Schlüsselfigur der reformatorischen Bewegung, sowohl im Hinblick auf ihre Kohärenz als auch in Bezug auf die Pluriformität ihrer Ausprägungen«7. In diesem Sinne ist es auch zu verstehen, wenn Moeller von der »Lutherischen Engführung« der frühen Reformation spricht.8 Die Gegenposition vertritt Dorothea Wendebourg. Ihrer Auffassung nach war es die Gegenreformation, d. h. der von außen kommende Druck auf die verschiedenen reformatorischen Bewegungen, welcher die Einheit der Reformation allererst schuf.9 Volker Leppin hat diese These dahingehend modifiziert, dass das Vorgehen Roms gegen die durchaus disparaten Bewegungen auf eine Gemeinsamkeit verweise, nämlich die Lehre vom allgemeinen Priestertum, also die Aufhebung der Unterscheidung von Klerikern und Laien, die für Luther mit der Rechtfertigungslehre |15| zusammenhing und in allen reformatorischen Bewegungen »systemsprengend« wirkte. Leppin zeichnet freilich das Bild eines langen kirchenhistorischen Prozesses, der schon im Mittelalter beginnt und erst in der Aufklärung seinen Gipfel erreicht. Obwohl er mit einem Begriff Bernd Hamms10 vom systemsprengenden Charakter der Lehre vom allgemeinen Priestertum und ihrer Verbindung von theologischem Denken und Umgestaltung von Kirche und Gesellschaft spricht, vermag er in der Reformation geschichtlich und theologisch keinen epochalen Umbruch zu erkennen.

      Während Leppin die Reformation als kontinuierlichen Transformationsprozess beschreibt, interpretiert sie Hamm überzeugender mit Hilfe des Emergenzbegriffs. Auch Hamm rückt also von der traditionellen These von der Reformation als plötzlichem Umbruch ab, hält aber den Transformationsbegriff nicht für ausreichend, »um den systemsprengenden Innovationscharakter der Reformation insgesamt zu verstehen«11. Emergenz im Sinne Hamms bedeutet die »Verbindung von Kontinuität und qualitativem Sprung«12, der im Ergebnis doch zu Brüchen mit den bestehenden kirchlichen und theologischen Verhältnissen geführt hat, zum systemsprengenden Bruch nicht nur mit dem hierarchischen Prinzip in der Kirche und der Unterscheidung von Klerikern und Laien, sondern vor allem auch im Heilsverständnis und in der Rechtfertigungslehre.13 Verglichen mit der spätmittelalterlichen Barmherzigkeitstheologie, welche die Mitwirkung des Menschen an seinem Heil auf ein Minimum reduzierte, ist der Schritt zur Rechtfertigungslehre Luthers, wonach der Mensch rein gar nichts zu seinem Heil beisteuern kann, sondern allein aufgrund der göttlichen Gnade und allein aufgrund seines Glaubens an das ihn von seiner Sünde freisprechende Wort gerettet wird, einerseits »eine fast schon logische Fortsetzung« und andererseits doch »ein kontingenter qualitativer