Als in der ex-DDR und im Westteil des Landes die Wohnungen von Ausländern brannten, sah ein westdeutscher Professor darin – fast schon gewohnheitsmäßig – eine Spätfolge der Studentenbewegung: Insbesondere der später selbst kravattierte Teil der 68er halluziniert mittlerweile tote Ausländer als »logische« Quittung für die damals erworbene Distanz zu Nationen und nationalem Klimbim.
Kein Ressentiment ist zu bieder und kein Räsonnement zu platt, um nicht auf diese oder jene Weise mit der 68er Bewegung verbunden zu werden. 68er für irgendetwas zu denunzieren, ist zum Gesellschaftsspiel geworden: Der eine erklärt Ernst Jünger zum Hauspoeten der 68er, und für den anderen sind diese die Erfinder des schlechten Geschmacks.
Das Jubiläumsjahr hat den Markt für solche Spielchen belebt. Eine Kritik dieser Unternehmen lohnt sich nicht. Hier soll deshalb versucht werden – gegen die verblassenden Erinnerungen – darzustellen, wie es historisch (ungefähr) gewesen ist im Mai ’68 in Frankreich.
In seinem berühmten Artikel vom 15. März 1968 beklagte der Journalist Pierre Viansson-Ponté, dass »sich Frankreich langweile«. In der langen Liste von Indizien für diese Prognose steht auch ein Vergleich französischer mit den Studenten anderswo: Weltweit prügelten sie sich mit der Polizei, während es den Studenten in Nanterre und Nantes noch um den unbehinderten wechselseitigen Zugang zu den nach Geschlechtern getrennten Wohnheimen ging. Die Staatsmacht verteidigte die Bevormundung mit dem angeblich von den Eltern an sie delegierten Erziehungsauftrag, wonach »wir« – Alain Peyrefitte als Erziehungsminister – »nicht erlauben können, dass sich minderjährige Mädchen zu den Jungen begeben oder diese empfangen«. Genau bis ’68 mochte man den Staat in solcher Pose.
Die Sache mit der Langeweile war übertrieben: Es gab auch in Frankreich Proteste gegen den Vietnamkrieg und bereits am 17. Mai 1967 einen Generalstreik gegen ein Vorhaben, mit dem sich die Regierung die Sondervollmacht aneignete, Gesetze auf dem Weg der bloßen Verordnung – also am Parlament vorbei – zu erlassen. Für die älteren unter den herausragenden Figuren in der Studentenbewegung waren es im Übrigen der Algerienkrieg und die Proteste dagegen, in denen sie als Mitglieder von politischen und gewerkschaftlichen Organisationen politisiert wurden und nicht erst im Mai ’68. Das gilt für Alain Geismar, Jacques Sauvageot, Alain Krivine, Jean-Louis Péninou und Marc Kravetz (»Der Algerienkrieg ist schlicht das Ereignis, das den französischen Bruch am klarsten markiert ... Es ist das Ende dieser großen kolonialen Epoche, die nie großartig gewesen ist«).
Der Mai ’68 kam also nicht aus heiterem Himmel. Das trifft insbesondere für dessen intellektuelle Ausstattung und politische Orientierung zu. Die Studentenbewegung hat ihre politischen Wurzeln in kleinen Gruppen von »Neuen Linken«, die sich um vier Zeitschriften mit Auflagen um je 4000 Exemplaren herum gruppierten. Diese kleine, aber intellektuell fruchtbare »Neue Linke« stand in einer doppelten Frontstellung: gegen den Stalinismus und den bürokratisierten Staatssozialismus und gegen den Kapitalismus und die Einreihung Frankreichs hinter die westliche Supermacht: »Es stimmt nicht, dass die Politik der Blöcke der einzige Weg ist, den man den Menschen zeigen kann« – so ein Aufruf des »Rassemblement démocratique révolutionnaire« von Jean-Paul Sartre und David Rousset 1948. Die antistalinistische »Neue Linke« formierte sich in Frankreich bereits Ende der 40er Jahre um die Zeitschriften »Les Temps modernes« (seit 1945) und »Socialisme ou Barbarie« (1949-66), später auch »Arguments« (1956-1962) und »Internationale Situationniste« (1958-1969).
Der Einfluss der maßgeblich von Jean-Paul Sartre bestimmten »Les Temps modernes« auf die französischen Intellektuellen kann – trotz aller politischen Wendemanöver Sartres – überhaupt nicht überschätzt werden. Das gilt für die Literatur ebenso wie für Philosophie und Politik. Mit Cornelius Castoriadis und Claude Lefort sammelten sich um die Zeitschrift »Socialisme ou Barbarie« Trotzkisten unterschiedlicher Richtung. Ihre Kritik war nach eigener Terminologie »radikale Systemkritik« und umfasste nicht nur Politik und Wirtschaft, sondern alle gesellschaftlichen Verhältnisse vom Alltag über die Erziehung bis zur Familie und zur Sexualität. Politisch verstanden sie sich als libertär, antistalinistisch, bürokratiekritisch und antikapitalistisch sowieso. Castoriadis kritisierte die Marxsche Perspektive, wonach es darum gehe, die Spaltung zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten zu überwinden. Er rückte Probleme der ungleichen Verteilung in den Hintergrund und die Frage der »Entfremdung« zwischen »Führenden und Ausführenden« in den Vordergrund. Die daraus abgeleitete Idee »der Arbeitermacht« (»gestion ouvrière«) kriegte im Mai ’68 unter den Bezeichnungen »autogestion« / »Arbeiterselbstverwaltung« und »émancipation« / »Befreiung« einen ungeheuren Schwung durch die kurzfristige Koalition von Studentenund Arbeiterbewegung. Die KPF und der kommunistische Gewerkschaftsverband CGT wurden von der Wucht der in den Betrieben bei Streiks, Demonstrationen und Besetzungen zündenden Idee überrollt.
In der Zeitschrift »Arguments« (1956-1962) entfalteten Intellektuelle verschiedener Herkunft – darunter Edgar Morin, Henri Lefebvre, Dionys Mascolo, Alain Touraine – ihre Ideen für einen freiheitlichen Sozialismus. Sie grenzten sich dabei explizit von Parteipolitik ab und bezogen sich theoretisch auf die damals eben entdeckten Marxschen Frühschriften.
Einige eher schwache Anregungen bezog die Bewegung vom Mai ’68 aus der »Internationale Situationniste« (1958-1969) und ihren Autoren Guy Debord, Raoul Vaneigem, René Vienet, Jean-Pierre Voyer. Debord definierte sich schon Ende der 50er Jahr als »Berufsrevolutionär in der Kultur« und stellte programmatisch fest: »Es geht darum, uns selbst zu produzieren und nicht Dinge, die uns zu Knechten machen«. Bis in einzelne Aktionen und Provokationen hinein orientierten sich die Protagonisten des Mai ’68 an den spielerischen Formen, mit denen die Situationisten ihre Vorstellungen vom »anderen Leben« seit den 60er Jahren propagierten und die Trennung von Arbeit, Freizeit und Kultur als dekadent kritisierten.
Alles, was im Mai ’68 an Ideen, Projekten, Forderungen und Protestformen eruptiv an die Oberfläche drängte, wurde in diesen Zeitschriften konzipiert und vorgedacht. Das Verdienst der verschiedenen Flügel, Gruppen und Organisationen der französischen Protestbewegung war es, diesen Vorrat an Konzepten und Ideen auf phantasievolle Weise gebündelt und kurzfristig zu einer politischen Bewegung formiert zu haben.
Staatspräsident De Gaulle schloss seine Neujahrsansprache in der Silvesternacht vom 31.12.1967 mit dem Satz: »Ich grüße das Jahr 1968 in gelassener Zuversicht«. Diese sollte ihm ziemlich bald abhanden kommen. An den französischen Universitäten, insbesondere an der 1964 in einem Industriegebiet als Wissensfabrik hochgezogenen Fakultät für Sprach- und Sozialwissenschaften in Nanterre bei Paris, brodelte es schon länger – und nicht nur wegen der nach Geschlechtern getrennten Wohnheime. Zwischen 1960 und 1968 hatten sich die Studentenzahlen national fast verdreifacht, in Nanterre versechsfacht, aber die Zahl der Lehrenden hinkte drastisch hinterher. Obendrein floss (und fließt bis heute!) ein überproportional großer Anteil der Ausgaben für das höhere Bildungswesen in eine Handvoll Pariser Eliteeinrichtungen, während der Rest der Institutionen leer ausging, sich aber gleichzeitig mit den Studenten der Baby-Boom-Generation förmlich auffüllte. »Gelöst« wurde das damit verbundene Kapazitätsproblem durch »das Hinausprüfen« von bis zu drei Vierteln der Studenten. Zum Tropfen, der das Fass überlaufen ließ, geriet die Ankündigung einer technokratischen Hochschulreform, mit der die Universitäten näher an die Bedürfnisse der Wirtschaft angebunden werden sollten. Die Studenten begannen sich zu wehren und besetzten am 22. März das Verwaltungsgebäude der Fakultät in Nanterre.
Die Behörden reagierten mit Polizei und Strafverfahren, was die bislang unabhängig voneinander operierenden, kleinen politischen Gruppen und Grüppchen von Kommunisten, Maoisten, Anarchisten, Libertären, Sozialisten und Trotzkisten zu einem Aktionsbündnis zusammentrieb, das sich – in Anlehnung an Fidel Castros »Bewegung des 26. Juni« (1953) – den Namen »Bewegung des 22. März« gab. Als die Studenten die Räume der Fakultät für ihre Diskussionen über alle brisanten Fragen vom Vietnamkrieg bis zur Hochschulreform beanspruchten, schloss der Dekan kurzerhand die Institution. Das rüde Vorgehen der Universität gegen Rädelsführer mobilisierte ebenso Studenten außerhalb der politischen Gruppen wie das Gerücht über »schwarze Listen« mit den Namen von Relegationskandidaten. Bereits am 27.4.1968 wurde Dany Cohn-Bendit zusammen mit anderen verhaftet. Sie mussten vor dem Disziplinarrat der Sorbonne erscheinen, was den Schwerpunkt der Bewegung und der Demonstrationen vom Stadtrand mitten