Prachtbände der »Revue des deux mondes« im Magazin der Bibliothek beanspruchen, nehmen sich die zehn von »Les Temps modernes« bescheiden aus. Die berühmte »Revue« wurde 1829 im Geist des Positivismus gegen den »Systemgeist« (so die erste Nummer) gegründet und zählt seither die Eliten aus Wissenschaft, Kultur, Verwaltung und Politik zu ihren Autoren. Im Ehrenkomitee zu ihrem 150. Geburtstag saß 1979 auch Staatspräsident Valery Giscard d’Estaing.
Bei »Les Temps modernes« wäre derlei undenkbar. 1995 wurde die am 1. Oktober 1945 von Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Raymond Aron, Maurice Merleau-Ponty, Michel Leiris, Jean Paulhan und Albert Ollivier gegründete Zeitschrift fünfzig Jahre alt. Mit dem Selbstbewusstsein einer wirklich unabhängigen Institution, schrieb der jetzige »directeur« – der Filmemacher Claude Lanzmann – im Editorial zur Jubiläumsnummer solche kalendarischen Zwänge als Kleingeisterei beiseite: »Seit langem schon macht die Verspätung gegenüber dem, was man so Aktualität nennt, unsere spezifische Modernität aus.« Das ist kein Understatement, sondern hat Tradition: Die Nummer 500 war kein Thema, aber 50 Nummern später lud die Redaktion ihre Leser erstmals in ihrer Geschichte zu einem Fest – das war vor vier Jahren. Zur spezifischen Modernität von »Les Temps modernes« gehört ihre intellektuelle Radikalität – ob es nun um Philosophie, Sozialwissenschaft und Politik oder Literatur, Kunst, Musik und Film geht.
Die Radikalität wich nur in zwei Phasen einem tagespolitischen Konformismus: In den fünfziger Jahren, als sich Sartre vorübergehend dem Parteikommunismus näherte, und in den siebziger Jahren, als Pariser Nachwuchsintellektuelle die Zeitschrift zuerst durch ihren Maoismus und danach durch ihren seichten »Antitotalitarismus« kurzfristig in Verruf brachten. Wie Simone de Beauvoir berichtet, verdankt die Zeitschrift ihren Titel einem Zufall: Michel Leiris hatte »Le Grabuge« (Der Krach) vorgeschlagen, aber Sartre wollte das Organ mit dem Titel auf Zeitgenossenschaft festlegen. Im Laufe der Debatte kam man auf »Les Temps modernes«, die Anspielung auf Chaplins Meisterwerk war beabsichtigt. Picasso lieferte einen Entwurf für das Titelblatt. Aber ästhetische Gründe hätten es nicht erlaubt, darauf das Inhaltsverzeichnis jedes Heftes zu reproduzieren. Schließlich entschied man sich für den Entwurf eines Graphikers aus dem Verlagshaus Gallimard. Und bei dieser Gestaltung des Titelblatts blieb es, von kleinen typographischen Änderungen abgesehen – bis heute.
Im Editorial zur ersten Nummer fasste Sartre den Menschen als »Zentrum nicht hintergehbarer Unbestimmtheit« und definierte als Ziel der Zeitschrift nicht etwa »die«, sondern bescheiden »eine Befreiung« des Menschen. Maurice Merleau-Ponty, der 1953 wegen politischer Differenzen mit Sartre aus dem Herausgeberkreis ausschied, formulierte in der vierten Nummer (1946) das philosophisch wie politisch Modernität verbürgende Motiv in einem einzigen, dauerhaft haltbaren Satz: »Es gibt nur noch beschädigte Ideen.« Bereits 1951 sahen Sartre und Merleau-Ponty im »System der Lager und der Zwangsarbeit« in der Sowjetunion »Fakten, die die Bedeutung des russischen Systems total in Frage stellen«. Sartre ließ sich von den Denkschablonen des Kalten Kriegs nicht beeindrucken: »Bevor ich für die Demokratie sterbe, möchte ich doch sicher sein, darin zu leben ... Weiß ich denn, wie sie in Algier, in Goa oder auch nur in Le Creusot funktioniert?« (1952)
In der Zeitschrift erschien auch Merleau-Pontys epochaler, durch die geschichtliche Erfahrung von Stalinismus und Faschismus geprägter Essay über »Humanismus und Terror«. Er vermag die – altmodisch gesprochen – geistige Situation der Zeit präziser zu bestimmen als die buchhalterische Abrechnungsprosa, die nach 1989 erschienen ist. André Gorz, dem »Les Temps modernes« zwischen 1961 und 1983 die fundiertesten soziologischen, später auch ökosoziologischen Essays verdankt, bilanzierte 1970 den Pariser Mai und den Bildungsnotstand. »Die Universität zerstören« war sein Resümee, da keine Reform in der Lage sei, »diese Institution lebensfähig« zu machen. In seiner Abrechnung mit dem gemeinsamen Wahlprogramm von Sozialisten und Kommunisten vom 26. Juni 1972 kam er zu dem Ergebnis, dieses sei politisch defizitär und laufe nur auf die Forderung »Elektrifizierung ohne Sowjets« hinaus. Gorz formulierte die Kritik am Leninismus, als die wohlfeilen Traktate der vermeintlich »neuen Philosophen« noch nicht geschrieben waren.
Über politische Probleme im engeren Sinne schrieb zunächst vor allem Jean Pouillon, Sartre artikulierte sich auf diesem Feld erst später. Pouillon plädierte für einen »befreienden Internationalismus ... durch die Absage an die Nationen«, und schon im Dezember 1946 kritisierte er den französischen Kolonialismus in Indochina und trat für Verhandlungen mit dem Viet Minh ein. Die Zeitschrift wurde dann in den fünfziger und sechziger Jahren zu einem der wichtigsten Foren, in denen über Kolonialismus, Rassismus und Imperialismus diskutiert wurde. Später formierte sich um dieses Organ herum auch der Protest der Intellektuellen gegen die Kriege und die Kriegsführung in Algerien und Vietnam sowie gegen Nationalismus und Fremdenhass.
Michel Leiris öffnete dem Leser die Augen für die Völker Afrikas, deren Kultur und Literatur zu einem Zeitpunkt, als Eurozentrismus und abendländischer Zivilisationsdünkel noch zur intellektuellen Grundausstattung der Bildungsbürger gehörten. Horizonterweiternd waren auch die Reportagen Sartres und Simone de Beauvoirs über ihre Amerika-Reisen Ende der vierziger Jahre. Die Rezeption amerikanischer Kunst, Musik und Literatur wurde in Europa ebenso maßgeblich durch »Les Temps modernes« vorangetrieben wie die Kritik an der Banalität des American way of life – 1964 zusammengefasst in Simone de Beauvoirs Buch »Amerika Tag und Nacht. Reisetagebuch 1947«.
Das Naserümpfen und der billige Spott Spätgeborener, die in den Begriffen »engagement« und »littérature engagée« nur noch eine Ideologie zu sehen vermögen, verkennen die ursprüngliche Absicht. Es ging Sartre, von kurzen Phasen abgesehen, gerade nicht um Ideologien oder Post-Ideologien, sondern um die Individuen: »Wir wollen, dass der Mensch und der Künstler ihr Wohl gemeinsam gestalten, dass das Kunstwerk gleichzeitig Handlung sei; dass das Kunstwerk explizit als Waffe im Kampf, den die Menschen gegen das Böse führen, begriffen werde.« Zur spezifischen Modernität gehört auch, dass sich die Zeitschrift – wesentlich dank Simone de Beauvoir – seit 1948 kontinuierlich mit Fragen des Feminismus und des Sexismus befasste.
Ein weiteres Markenzeichen von »Les Temps modernes« waren die Schwerpunkthefte zu einzelnen Ländern, wobei die Autoren in der Regel aus den Ländern selbst kamen. Das gilt bereits für die ersten Ländernummern über die USA und die eben gegründete BRD (Herbst 1949 mit Beiträgen von Wolfgang Borchert, Wolfdietrich Schnurre, Eugen Kogon und anderen). Dreißig Jahre später folgte eine weitere Deutschland-Nummer (Autoren: Peter Brückner, Dirk Ipsen, Klaus Wagenbach, Sebastian Cobler und andere).
Das durch solide Arbeit und radikales Nachdenken, nicht durch modische Anpassung erreichte weltweite Renommee der Zeitschrift stand in keinem Verhältnis zur Höhe der Auflage. Diese lag nie über 10 000 Exemplaren und dürfte momentan bei 4000 liegen. Die eben publizierte Jubiläumsnummer schlägt einen Bogen von Jacques Derrida, der philosophisch und politisch zu Sartre wie zur Zeitschrift immer Distanz hielt, bis zu Interviews mit Francis Jeanson, der in der Kampagne gegen den Algerien-Krieg eine wichtige Rolle spielte, und Lionel Jospin, dem sozialistischen Präsidentschaftskandidaten, der die Zeitschrift als Student las, aber seither wohl nicht mehr. Der schönste Beitrag mit dem Titel »Jeder Feind Sartres ist ein Hund« stammt vom Mitglied der Académie Française und »Le Monde«-Kolumnisten Bertrand Poirot-Delpech. Er zeigt nochmals, zu welcher Niedertracht gegen Sartre die »leitartikelnde Bourgeoisie« von den vierziger bis in die siebziger Jahre fähig war, und erinnert an seine eigenen Motive, als Student »Les Temps modernes« zu lesen: »Weil ein frischer Wind durch die Seiten pfiff«, weil es dort keine »unter dem Staub der Höflichkeiten der alten Zeitschriften begrabenen Feingeister« mehr gab.
6 Mai ’68 in Frankreich
Von gescheiterten Revolten und Aufständen bleibt in der Regel nichts übrig als fortschreitend verblassende Erinnerungen – im Ausnahmefall heroisierende Legenden. Die fünf toten Studenten vom Mai ’68 sind in Frankreich längst so vergessen wie die mehreren hundert in Mexiko. Gedenksteine und Denkmäler für diese Opfer liegen nirgends drin. Die Niederlage der Protestbewegung (»contestation«) war umfassend – in Frankreich und weltweit.
Trotzdem ist von der Studentenbewegung dauerhaft mehr übrig geblieben als verblassende Erinnerungen. Das ist am überzeugendsten daran abzulesen, mit welcher Verbissenheit