Frederik Hetmann

Route 66


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von Funks Grove ist auch eine amerikanische Erfolgsgeschichte. Als Glaida und Steve das Wäldchen übernahmen, betrug die jährliche Ernte - oder wie sonst soll man bei Ahornsirup sagen (das jährliche Zapfergebnis?) - 500 Eimer. Das reichte mehr oder minder für den Hausgebrauch. Aber die beiden bildeten sich weiter, besuchten Kurse, wandten von der Wissenschaft neu ausgedachte Methoden an, und bald stieg die Ausbeute auf 5000 Eimer pro Jahr. Heute, nachdem nicht mehr soviel Kundschaft kommt, weil ja der meiste Verkehr über die Interstate läuft, die das Wäldchen nicht direkt berührt, reicht es ihnen, 300 Eimer im Jahr zu produzieren. Aber sie haben eine treue Kundschaft, und Steves und Glaidas Leben ist mit Hunderten von Episoden, die sich auf der Route abspielen, verbunden. Sie haben eine schriftstellernde Tochter, die über dreißig Romane und Kinderbücher verfasst hat und unter dem Titel Ein Baum wächst in Funks Grove auch die Familiengeschichte aufzeichnete. Wenn man im Mai im Wäldchen herumläuft und die ersten Frühlingsblumen und den herrlichen Baumbestand betrachtet, könnte man fast an eine Idylle glauben. Aber wie so vieles hat auch das Grove seine zwei Seiten. Gar nicht weit von der Ahornsirup-Kocherei entfernt liegt ein gespenstischer Truppenübungsplatz im Grove. Nicht etwa von der amerikanischen Armee, sondern von Männern, die in Chicago und anderen Städten der Umgebung wohnen und in ihrer Freizeit ganz lebensecht Soldaten spielen, mit Maschinengewehren, Minenfeldern und Stacheldrahtverhau. Auf Fragen nach dem Hintergrund für diese Kriegsspiele reagierte der amerikanische, ursprünglich aus Österreich stammende Guide unserer Reisegruppe sehr zurückhaltend. Ob wir es mit einer der im Mittleren Westen gar nicht so seltenen Vigilanten-Gruppen zu tun hatten oder es doch nur Männer waren, die zu viele Kriegsfilme im Fernsehen gesehen hatten, sollte nie geklärt werden.

       10. St. Louis oder Drang nach Westen

       Parole: Manifest Destiny

      Am 2. Mai 1842 verabschiedete sich der 29jährige Second Lieutenant Charles Fremont von seiner hübschen 17jährigen Frau in Washington und brach auf zur Erforschung des Westens. Zunächst mit der Eisenbahn, dann mit dem Kanalboot und der Postkutsche. Auf dem Dampfboot zwischen St. Louis und Independence traf Fremont den Mountainman Kid Carson und warb ihn als Scout an. Fremonts Expedition folgte dem Kansas, dem Blue- und dem North-Plate-River, um einen für Wagen befahrbaren Weg nach Oregon zu erkunden. Diese Route wurde bereits von Wagen bis Fort Laramie benutzt.

      Die zweite Fremont-Expedition 1843/44 nahm die Reststrecke des Oregon-Trails kartografisch auf. Sie diente zum Teil auch der Spionage zur Vorbereitung des Krieges mit Mexiko, bei dessen Ende die USA ihr Territorium bis zum Rio Grande und zum Gila-River vorschoben. Die amerikanische Politik gehorchte, was den Wilden Westen und seine Erschließung anging, der Parole des »Manifest Destiny«, die ein zeitgenössischer amerikanischer Politiker, William Gilpin, so umreißt: »Der überlegene und weiße Mensch ist darauf bedacht, die Pläne der Vorsehung zu ergründen, im großen Buch der Natur zu lesen und den Willen des Schöpfers zu erahnen, zu begreifen, was davon zu verstehen ihm gegeben ist. Zwei Jahrhunderte ist unsere Rasse über diesen Kontinent dahin gegangen. Von nichts sind wir auf 20 Millionen angewachsen. Von nichts sind wir auf dem Gebiet der Landwirtschaft, des Handels, der Zivilisation und an natürlicher Stärke in die erste Reihe der Nationen auf dieser Welt aufgerückt. Insofern haben wir unser Schicksal, unsere Bestimmung vollzogen und bei dieser Aufgabe etwas zuwege gebracht, was niemand bestreiten wird. Auf dieser Schwelle stehend lesen wir die Zukunft. Die unvollendete Bestimmung des amerikanischen Volkes ist es, diesen Kontinent zu unterwerfen, über dieses riesige Gebiet dahinzustürmen, bis zum Pazifischen Ozean, die vielen Hundert Millionen von Menschen dazu zu veranlassen, eine neue Ordnung des menschlichen Zusammenlebens aufzurichten, die Versklavten freizusetzen, die gebrechlichen Nationen gesunden zu lassen. Dunkel in Licht zu verwandeln, aufzuschrecken den Schlaf von Hunderten, von Tausenden von Jahren, den alten Nationen eine neue Zivilisation zu vermitteln, die Bestimmung der menschlichen Rasse zu bestätigen, die Menschheit einem Höhepunkt entgegen zu führen, die Versteinerten anzustoßen, damit sie wieder lebendig werden (...).

      Eine göttliche Aufgabe, eine unsterbliche Mission. Lasst uns rasch den Weg angehen. Möge das Herz eines jeden Amerikaners erglühen vor Patriotismus. Möge ein jeder die erhabene Bestimmung dieses, unseres geliebten Landes als Teil seines religiösen Glaubens begreifen und zu ihrer Verwirklichung beitragen.«

      Die Erschließung und Eroberung des Wilden Westens war also offensichtlich unter anderem eine Mission im Namen Gottes.

       American Memories

      »Wer mit der Eisenbahn eilig über die Prärie dahinfuhr, der wurde von einer gewissen Begeisterung über die weite Leere, die Größe des Himmels, den man hier tatsächlich als Gewölbe wahrnahm, und über die ungebrochene Linie des Horizontes erfasst. Aber man kam nicht umhin, sich an die Mühen jener zu erinnern, die in den alten Tagen hier durchgekommen waren. Sie hatten ihr Tempo dem ihrer Ochsengespanne anpassen müssen. Sie trieben die Tiere an mit keiner Landmarke, außer der unerreichbaren Abendsonne, auf die sie zuhielten und die ihnen täglich immer wieder aufs neue davonlief. Es gab nichts, so schien es, was sie hätten überholen können, nichts, an dem sich ihr Vorankommen abzeichnete, nichts, was ihnen Ruhe gegeben und Mut gemacht hätte; Wegstrecke um Wegstrecke die tote grüne Wildnis unter dem Fuß und den sich spottend entziehenden Horizont vor ihren Augen.

      Aber ihre Blicke, so sagte ich mir, müssen selbst hier noch Unterschiede ausgemacht haben, auch kam der Auswanderer, wenn er nur durchhielt, immerhin an das Ende all dieser Strapazen, die er während der Reise zu bestehen hatte. Es ist der Siedler, über dessen Durchhaltevermögen wir uns eigentlich noch mehr wundern müssen.«

      Robert Louis Stevenson, The Amateur Emigrant

      Während wir in einem vollklimatisierten, mit Toilette und Bar versehenem modernen Bus durch die Prärien schaukeln, lassen wir die Erlebnisse jener Männer und Frauen Revue passieren, die nur 150 Jahre vorher durch eben jene Gegend gezogen sind.

       11. Francis Parkman: Von St. Louis über den Oregon-Trail

      St. Louis war immer das Tor zum Wilden Westen. Das klassische Werk der Reise- und Abenteuerliteratur über den Wilden Westen trägt den Titel The Oregon Trail und bezeichnet einen der großen Wanderwege, auf dem damals die Entdecker und Pioniere zum Pazifik zu reisen pflegten. Sein Verfasser Francis Parkman war, als er Mitte des vorigen Jahrhunderts in den Westen ritt, 23 Jahre alt. Mit ihm reiste sein Studienfreund Quincy Adams Shaw. Parkman, ein junger Mann aus gutem Haus mit angegriffener Gesundheit, war Naturfreund und ein großer Spaziergänger. Den Wilden Westen kannte er, wie Shaw auch, nur vom Hörensagen. Die beiden jungen Männer waren waghalsig und tapfer; allerdings fragt man sich bald als Leser, ob sie tatsächlich voll und ganz begriffen, in welche Gefahren sie sich begaben. Bei Parkman verbanden sich Wagemut mit einer eigensinnigen Entschlossenheit, alles nur Mögliche über die Indianer zu lernen. Parkman benutzte bei seiner Reise schon jene Landkarte, die Fremont von seiner Expedition 1844 mitgebracht hatte. Von seinem Start in St. Louis erzählt er:

      »Der letzte Frühling, der des Jahres 1846, war eine lebhafte Saison in St. Louis. Nicht nur bereiteten sich Auswanderer aus allen Teilen des Landes auf die Reise nach Oregon und Kalifornien vor, auch eine ungewöhnlich große Zahl von Händlern machten ihre Ausrüstungen und Wagen zum Aufbruch nach Santa Fe fertig. Die Hotels waren überfüllt, und die Gewehrmacher und Sattler waren ständig bei der Arbeit, um die Waffen und Ausrüstungsgegenstände für die verschiedenen Gruppen von Reisenden fertigzustellen. Dampfboote legten vom Ufer ab und fuhren überfüllt mit Passagieren zum Missouri und auf ihm zur Frontier.

      In einem von ihnen, der Radnor, verließen mein Freund und Verwandter Quincy Adams Shaw und ich am 28. April St. Louis auf einer Tour in die Rocky Mountains, auf die uns unsere Neugierde trieb. Das Boot war so voll beladen, dass das Wasser über die Reling schwappte. Auf dem Oberdeck standen die großen Wagen, die eine eigenartige Form haben und für den Santa Fe-Handel benutzt werden. Dann gab es da all die Ausrüstungsgegenstände und den Proviant der Reisegesellschaft nach Oregon: Maultiere und Pferde, Stapel von Sätteln und Zaumzeug, eine Vielzahl unbeschreiblicher Gegenstände, die für eine Reise über die Prärien unverzichtbar sind. Fast verborgen unter dem Durcheinander stand ein kleiner