Benjamin Schliesser

Was ist Glaube?


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dass die Zahl der Heidenchristen stetig wuchs, verursachte aber auch Auseinandersetzungen mit toraobservanten Juden und Christen und forderte zum weiteren theologischen Nachdenken heraus.102 Ein Reflex dieses Nachdenkens ist der bereits zitierte |30| »Lehrsatz« Röm 3,28, der mit großer Wahrscheinlichkeit eine bereits vor Paulus vorhandene Grundeinsicht aufgreift.103 In diesem Vers spiegelt sich zwar die soziale Dynamik der Rechtfertigungsbotschaft wider (vgl. Röm 3,29–30), doch trägt die theologische bzw. soteriologische Perspektive deutlich den Ton. Denn voraus geht Paulus’ Analyse der menschlichen Situation vor Gott, die alle unter der Macht der Sünde und Ungerechtigkeit sieht und die Werke des Gesetzes für soteriologisch irrelevant erklärt (Röm 1,18–3,20). An der im Forschungsüberblick referierten »New Perspective on Paul« wurde zu Recht kritisiert, dass sie die radikale Ausweglosigkeit des Menschen heruntergespielt und die theologische Gewichtung der paulinischen Rechtfertigungslehre (wie sie in Röm 3,28 zum Ausdruck kommt) unterschätzt habe.104

      Maßgeblich ist in diesem Zusammenhang auch die typologische Bedeutung der Rechtfertigung Abrahams als der Rechtfertigung des Gottlosen (Röm 4,5): Ohne die Besonderheit der jüdischen Erwählung zu leugnen, betont Paulus die universale Vaterschaft Abrahams, die vor der Unterscheidung zwischen »beschnitten« und »unbeschnitten« grundgelegt wurde und die allen Glaubenden ohne Unterschied gilt (Röm 3,22; 10,12). Dem Glauben Abrahams kommt somit im Rahmen der identitäts- und stabilitätsstiftenden Funktion des Glaubens eine besondere Rolle zu. Er präfiguriert nicht nur den Glauben des einzelnen Menschen, sondern ist zugleich bestimmendes Merkmal für die Zugehörigkeit zum Gottesvolk. »Da nun die Schrift voraussah, dass Gott die Völker aus Glauben gerecht machen würde, hat sie dem Abraham das Evangelium im Voraus verkündigt: ›In dir werden alle Völker gesegnet werden‹ [Gen 12,3]. Also werden die aus dem Glauben Lebenden gesegnet, zusammen mit dem glaubenden Abraham« (Gal 3,8–9). »Sofern die pistis nämlich ein ekklesiologischer Begriff ist, will Paulus in diesen Stücken zum Ausdruck bringen, dass Abraham der Typus des neuen Gottesvolkes ist. Abraham ist also gewissermaßen das präexistente Glied der Ekklesia, er ist ekklesiologische Gestalt.«105

      |31| Der Begriff »Glaube« fasst also die Identität und Lebensweise der paulinischen Gemeinden zusammen. Im Modus des Glaubens sind wir nach Paulus Teil des Gottesvolkes, »Hausgenossen des Glaubens« (Gal 6,10) und Mitglied in der familia Dei: »Denn ihr seid alle Söhne und Töchter Gottes durch den Glauben in Christus Jesus« (Gal 3,26).

      Wenn Paulus den Glauben Abrahams aufs Engste mit der Völkerverheißung verbunden sieht, dann lässt dies kein Verständnis des Glaubens im Sinne einer reinen Innerlichkeit zu. In der Sprache der Reformation hieße das: Das Wort, das zum Glauben ruft, ergeht immer als »leibliches Wort«, also als äußerliches, mündliches und öffentliches Wort. Die seit dem 18. Jahrhundert geläufige Rede vom Glauben als einer »Privatsache« geht wohl darauf zurück, dass sich der Glaube angesichts der »mörderischen Öffentlichkeit« der Religions- und Bürgerkriege ins Private und Innerliche zu retten suchte.106 Doch ist der Öffentlichkeitscharakter für den Glauben schon immer konstitutiv gewesen, und seit den Anfängen des Christentums dokumentiert er sich in den Zusammenkünften der »Gemeinschaft der Glaubenden«. »In allen [neutestamentlichen] Texten ist vorausgesetzt, dass es sich um eine irdische Gemeinschaft handelt, die den Ruf zur Nachfolge und zum Glauben gehört hat, die sich an vielen Orten sammelt und um ihre Zusammengehörigkeit weiß.«107

      Die in den Texten des Paulus erkennbar werdende Bestimmung des Glaubens als nach innen verbindendes und zugleich nach außen abgrenzendes Kennzeichen christlicher Identität lässt nach dem »intertextuellen Gewebe« zurückfragen, in welches diese Rede vom Glauben eingebunden ist, aber auch nach charakteristischen Abweichungen und Neugestaltungen von geläufigen Vorstellungen seiner Zeit.

      Im Judentum galt Abraham durchweg als Stammvater (vgl. Röm 4,1) und Identifikationsfigur des Volkes Israel. Seine Beschneidung, das »Zeichen des Bundes« (Gen 17,11), den Gott mit ihm und seinen Nachkommen geschlossen hat, wurde nach dem Exil »zur exklusiven nota Iudaica«108 und sein bis zum Äußersten gehender Gehorsam (Gen 22) wurde zum Symbol der Treue, wie Gott sie gegenüber seinen Geboten erwartet.109 Philo (ca. 15 v. Chr. – 50 n. Chr.) |32| und andere vertraten gar die Auffassung, dass sich Abraham an die vollständige (wenngleich noch »ungeschriebene«) Tora hielt.110 Die Beschneidung und die damit untrennbar verbundene Toraobservanz sonderten die Juden von den Völkern ab und erzeugten ein tief gegründetes Bewusstsein der Zusammengehörigkeit. Der paulinische Argumentationsgang, dass dem Glauben aufgrund seiner zeitlichen Priorität gegenüber der Beschneidung auch sachliche Priorität zukommt, hat im Judentum keine Parallele und erweist die Neuheit und Kühnheit der paulinischen Deutung.

      Die auch von Paulus verwendete Bezeichnung »die Glaubenden« bzw. »die Gläubigen« ist in jüdischen Texten einerseits als theologisch-ethischer Identitätsbegriff in Abgrenzung zu den Gottlosen aus dem eigenen Volk111 sowie als soziologischer Identitätsbegriff in Abgrenzung zu Andersgläubigen (Heiden)112 anzutreffen.

      Im pagan-hellenistischen Bereich galt die pistis als ein maßgebliches Element, »das den sozialen Verband der Großfamilie (oikos) konstituierte und stabilisierte; die pistis band die Hausgenossen in enger Solidarität und Loyalität zusammen.«113 Im Imperium Romanum genoss die »Treue« als höchstes Staatsprinzip besonderes Ansehen und »fungierte […] offenbar über einen weiten Zeitraum hinweg und zumal im 1. Jh. n. Chr. innerhalb wie außerhalb Roms als eine Art identity marker römischer Kultur und Herrschaft«.114 Plutarch beispielsweise kommt in seiner Biographie des Titus Flaminius auf die Hochschätzung der fides in Rom zu sprechen. Dieser hatte entscheidend zur Befreiung Griechenlands aus der Hand der Makedonier beigetragen und schließlich Griechenlands Freiheit proklamiert. Plutarch berichtet, wie der Chor der Mädchen in einer Hymne (aus der Zeit um 190 v. Chr.) den Göttervater Zeus (Jupiter), die Göttin Roma, Flaminius und auch die (deifizierte) Fides preist: »Wir verehren die Pistis der Römer, die gewaltige, zu schützen mit Eiden […]«115 So wurde die fides »ein zentraler Begriff im röm[ischen] Leben u[nd] Denken. […] Fast alle Arten von Bindungen, von Abhängigkeits- und Loyalitätsverhältnissen (zwischen den Römern selbst u[nd] gegenüber anderen Völkern, ebenso zu den Göttern) waren durch F[ides] charakterisiert.«116 Auf diesem Hintergrund kann man zu Recht fragen, ob die überproportionale |33| Dichte der Glaubensterminologie im Römerbrief einen dort geläufigen Topos adressatenspezifisch aufnimmt.117 Zumindest wird Paulus’ Erhebung des Glaubens zum Zentralbegriff des christlichen Ethos und Gottesverhältnisses bei seinen Rezipienten nicht ohne Resonanz geblieben sein.

      Forschungsgeschichte

      Paulus denkt den Glauben also nie ohne seinen Gemeinschafts- und Öffentlichkeitscharakter; er fasst ihn nirgends im Sinne einer reinen Innerlichkeit oder radikalen Individualisierung auf. Doch Paulus geht nach Meinung einiger Exegeten noch einen Schritt weiter: Glaube ist ein eschatologisches Phänomen. Allerdings nicht in dem bei Bultmann zu findenden Sinne, nach dem »die konkrete Realisierung der Glaubensmöglichkeit des Einzelnen […] selbst eschatologisches Geschehen« sei.118 Hier wird der Gedanke des Eschatologischen verkürzt auf einen eschatologischen Augenblick, der dem Einzelnen gewährt wird und in dem er zu sich selbst und zum Glauben findet: »In jedem Augenblick schlummert die Möglichkeit, der eschatologische Augenblick zu sein. Du musst ihn erwecken.«119

      Ausgehend von seinen Beobachtungen zum paulinischen Gebrauch der pist-Terminologie, zieht Ernst Lohmeyer weitreichende Schlüsse. Den Glaubensbegriff kennzeichne eine eigentümliche »Doppelheit«: er sei sowohl menschliche »Tat« als auch »metaphysisches Prinzip«120; als solches sei er »im gleichen Sinne Offenbarung, wie Christus es ist«. Die enigmatische Wendung »Christusglaube« klärt sich nach Lohmeyer daraus: »Es ist nicht nur der Glaube, den Christus hat, auch nicht nur der, den er gibt, sondern vor allem der Glaube, der er selber ist.«121 Nach Lohmeyer erhebt Paulus den Glauben »zu einer objektiv gültigen und transzendenten Macht« und reduziert den Gläubigen zum »reine[n] Schauplatz«. »Man könnte scharf sagen: nicht ich glaube, sondern es glaubt in mir.«122

      Auch wenn Lohmeyers Zuspitzungen und seine philosophische Terminologie bisweilen