Benjamin Schliesser

Was ist Glaube?


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vorausschicken, dass man das, was E. Lohmeyer mit ›metaphysischem Prinzip‹ sagen will, besser als eschatologisches Geschehen bezeichnet, |35| sofern es in diesem Zusammenhang darum geht, dass der Glaube kommt und geoffenbart wird.«123 In Abgrenzung zu Bultmanns hermeneutischer Methode – der »konsequente[n] existentiale[n] Interpretation«124 – hebt Neugebauer hervor, dass von der pistis »wie von dem eschatologischen Heilsereignis selbst gesprochen werden kann«, dass also »der Glaube mit dem Christusereignis kam und geoffenbart wurde«.125

      Auch Hermann Binders Studie zum paulinischen Glaubensbegriff richtet sich gegen die anthropologische Verengung der Theologie Bultmanns, gelangt so jedoch zum anderen Extrem: Pistis sei nirgends Tat, Verhalten oder Haltung des Menschen, sondern stets »das von Gott herkommende Geschehen im Neuen Bund, das den Charakter einer transsubjektiven Größe, einer göttlichen Geschehenswirklichkeit« habe.126 Glaube sei eine »geschichtlich-heilsgeschichtliche Größe, die Gott kommen ließ« und die »ohne jegliche menschliche Bezogenheit zu ihr« existiere, »also ein von Christi Macht durchwirkter Bereich, der vorhanden ist, bevor man ihn betritt oder bezeugt«.127 Obwohl Binder bei Ernst Käsemann eine ähnliche Sicht der Dinge vorzufinden meint, da dieser den Machtcharakter der »Gottesgerechtigkeit bei Paulus« herausarbeitet, bezichtigt Käsemann ihn einer »geradezu absurde[n] Vereinseitigung«128. Demgegenüber belegt eine Nebenbemerkung seines Schülers Peter Stuhlmacher, dass Käsemanns Perspektive zur Gottesgerechtigkeit durchaus auf den Glauben übertragen werden kann: »Für die theologische Begrifflichkeit des Paulus ist es weithin charakteristisch, dass in ihr Macht und Gabe eine spannungsvolle Einheit bilden. Es gilt zu sehen, dass hiervon auch der Glaubensbegriff nicht ausgenommen ist.«129

      Diese Interpretationslinie sollte m. E. nicht vorschnell verabschiedet werden,130 ist sie doch in der Lage, eine Reihe von notorisch schwierigen Äußerungen des Paulus zum Glauben zu erhellen.

      Ein markanter pistis-Beleg in den Paulusbriefen eröffnet einen weit über das individuelle und gemeinschaftliche Glauben hinaus reichenden heilsgeschichtlichen |36| Horizont, welcher die pistis als Repräsentantin einer neuen Heilszeit darstellt. In Gal 3,23–25 identifiziert Paulus Glaubensereignis und Christusereignis: »Bevor aber der Glaube kam, wurden wir alle gemeinsam im Gefängnis des Gesetzes in Gewahrsam gehalten – auf den Glauben hin, der sich in der Zukunft offenbaren sollte. So ist das Gesetz zu unserem Aufpasser geworden, bis hin zu Christus, damit wir aus Glauben gerecht würden. Da nun der Glaube gekommen ist, sind wir keinem Aufpasser mehr unterstellt.« Hier ist unverkennbar das Kommen des Glaubens mit dem Kommen Christi gleichgesetzt;131 die messianische »Jetztzeit« (Röm 11,5) ist Glaubenszeit. Sogar Bultmann räumt ein: »Ist Gl 3,23–26 die Vorbereitung und das ›Kommen‹ der pistis skizziert, so ist nicht die Entwicklung des Individuums gezeichnet, sondern die Heilsgeschichte.«132

      Offensichtlich versteht Paulus die pistis hier als machtvolles »eschatologisches Geschehen«133, das eine Zeitenwende markiert und der bis dato geltenden Vormachtstellung des Gesetzes entgegentritt, um dieses ein für alle Mal abzulösen. Glaube und Gesetz treten als personifizierte Größen zu einem bestimmten Zeitpunkt des »heilsgeschichtlichen Dramas« auf die Bühne.134 Ihnen ist eine kosmische Dimension eigen, die die Wirklichkeit als ganze bestimmt, zugleich aber eine personale Dimension, die den ganzen Menschen bestimmt. Durch die Offenbarung des Glaubens hat Gott die Weltwirklichkeit radikal verwandelt und unter ein neues Licht gestellt. Daraus ergeben sich die Bezeichnungen, mit denen die pistis versehen wurde: »eschatologisches Heilsereignis«135 »göttliche Geschehenswirklichkeit«, »transsubjektive Größe«136 oder »überindividuelles Gesamtphänomen«137.

      Individuelle Teilhabe realisiert sich durch den Eintritt und das Sich-Einreihen |37| in das Heilsgeschehen im Glauben, wobei letztlich »das Zum-Glauben-Kommen […] ein Hineingenommenwerden in das Heilsgeschehen in Christus« ist.138 Gerade im Blick auf den paulinischen Glaubensbegriff ist es also falsch, Heilsgeschichte und Existenz als Gegensätze einander gegenüberzustellen. Vielmehr bilden sie eine spannungsvolle Einheit: Glaubende Existenz ist eschatologische Existenz.139

      In der sehr dicht formulierten Passage Röm 3,21–22 kommen diese beiden Dimensionen zum Ausdruck, und zwar nicht nur in Bezug auf den Glauben, sondern auch auf die Gerechtigkeit Gottes. Die gängigen Übersetzungen und die Mehrheit der Kommentare neigen dazu, diesen Sachverhalt zu verschleiern. Zur Veranschaulichung sei der Wortlaut dieser Verse daher in einer noch unbestimmten Wiedergabe der umstrittenen Begriffe zitiert: »Nun aber ist ohne Gesetz ›Gottesgerechtigkeit‹ offenbart worden […] ›Gottesgerechtigkeit‹ durch ›Jesus-Christus-Glaube‹ zu allen, die glauben.«

      Zunächst zum Stichwort »Gottesgerechtigkeit«: Paulus’ Rede von der Offenbarung der Gottesgerechtigkeit am Wendepunkt der Zeiten (»nun aber«) betont deren eschatologischen Horizont (Röm 3,21), während die Übereignung der Gerechtigkeit an die Glaubenden (Röm 3,22) den Teilhabecharakter hervorhebt.140 Beide Seiten, die individuelle und die überindividuelle, prägen Paulus’ Gedanken der Gottesgerechtigkeit. Dabei ist seine »Anthropologie« von seiner »Kosmologie« her zu verstehen. Diese Doppelheit herausgearbeitet zu haben, ist das Verdienst Ernst Käsemanns. Er zeigte, dass sich Theologie und Geschichtsverständnis des Apostels nicht zuallererst auf den Einzelnen richten, sondern auf die Errichtung der Herrschaft Gottes in der Welt.141 Der Begriff Gottesgerechtigkeit bezeichne bei Paulus nicht nur die (dem Glaubenden) geschenkte Gerechtigkeit, sondern »Gottes Heilshandeln« und seine »heilsetzende[ ] Macht«142, nicht nur Gabe Gottes, sondern auch die »sich eschatologisch in Christus offenbarende Herrschaft Gottes über die Welt, […] jenes Recht, mit welchem sich Gott in der von ihm gefallenen und als Schöpfung doch unverbrüchlich ihm gehörenden Welt durchsetzt«.143

      |38| Andererseits leuchten in Röm 3,21–22 auch die beiden Pole der pistis auf: Gottes Gerechtigkeit wird den Glaubenden zugeeignet, nicht durch die Macht des Gesetzes, denn das Gesetz hat nach Paulus seine heilsvermittelnde Stellung verloren. Die Gabe der Gerechtigkeit erfolgt vielmehr durch den »Christusglauben«, der das Gesetz abgelöst und dadurch Glaubensmöglichkeit und Glaubenswirklichkeit eröffnet hat. Dies ist die eine Dimension der pistis, aus der sich die andere schlüssig ergibt: Implizierte vormals die Teilhabe im Bereich des Gesetzes das Tun der Gesetzeswerke, so verlangt nun der Christusglaube, dass man sich im Modus des eigenen Glaubens von ihm in Besitz nehmen lässt. Wurde vor der eschatologischen Zeitenwende die Gerechtigkeit Gottes erhofft und erwartet für alle, die mit Werken umgehen (vgl. Röm 4,5), so erlangen nun nach Paulus Gerechtigkeit alle, die glauben. Was Käsemann über die Gerechtigkeit sagt, gilt auch für den Glauben: »Universalismus und äußerste Individuation sind […] Kehrseiten desselben Sachverhaltes.«144 Das trifft m. E. sowohl auf die Interpretation der Gottesgerechtigkeit als auch auf die Interpretation des Christusglaubens zu. Die Rede von einem »eschatologischen Augenblick« würde diese Einsicht in die apokalyptische Dimension der paulinischen Theologie entstellen.

      Einige weitere sprachliche Beobachtungen bekräftigen zum einen, dass Paulus »Glaube« und »Christus« als Heilsereignis und Existenzgrundlage versteht und aufs Engste zusammenrückt bzw. identifiziert. »Im Glauben« und »in Christus« »sind sinngleiche Wendungen«145, insofern beide das von Gott offenbarte Heilsgeschehen umschreiben, in dem die Christen »stehen«146 und auf Grundlage dessen bzw. durch welches sie Gerechtigkeit empfangen. Die Interpretation des paulinischen Gedankens von der »Rechtfertigung aus bzw. durch Christusglauben« (Röm 3,22.26; Gal 2,16; Phil 3,9) sollte diese heilsgeschichtliche Dimension nicht zugunsten eines exklusiv anthropologischen Fokus vernachlässigen.147 Zum anderen belegen die Paulusbriefe, dass für den Apostel auch der Gegensatz zwischen »Glaube« und »Gesetz« nicht auf den individuellen Lebensvollzug oder ein gruppenspezifisches Ethos beschränkt bleibt, sondern sich auf das den Kosmos umgreifende göttliche Heilshandeln bezieht: »Glaube ist also ›Offenbarung‹ wie das Gesetz Offenbarung ist; und |39| wenn es einst für den Pharisäer hieß: ›Aus dem Gesetz‹, so heißt es jetzt für den Apostel: ›Aus Glauben‹.«148

      Dieser Gedanke, dass das Gesetz durch eine andere heilsgeschichtliche Größe jemals abgelöst werden könnte, ist für das Judentum unvorstellbar. Vielmehr ist »auch der kommende Äon […] vom Gesetz bestimmt. Das Judentum