Thomas Schlag

Öffentliche Kirche


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      |7| »Zu Gottes Wirklichkeit gehören die Aufbrüche in das Unbekannte, Neue. Exodus des Gottesvolkes, das Ende der Gefangenschaften, politisch und individuell.«

      »Eine Gesellschaft, die nicht genug Trainings- und Lebensfelder für Partizipation und Emanzipation anbietet, wird sterben wie die Diktatur.«

      (Joachim Gauck, 1997)1 |8|

      In den gegenwärtigen kirchlichen Reformlandschaften mangelt es nicht an Orientierungsangeboten. In Gestalt von Impuls- und Strategiepapieren, Leitbildern, kirchenleitenden Erklärungen und strategischen Think-Tanks sowie in einer inzwischen unüberschaubaren Zahl von digital dokumentierten Projekten und Initiativen einzelner Gemeinden werden tagtäglich und »in Echtzeit« neue Entwicklungsideen manifest, verbreitet und diskutiert. In einem Teil des gegenwärtigen kirchlichen Lebens wird eine Fülle von Visionen und kreativen Ideen offenbar. Zudem sind in den letzten Jahren an verschiedenen theologischen Fakultäten Zentren und Institute zur Analyse und Interpretation gegenwärtiger kirchlicher Praxis ins Leben gerufen worden, so dass auch auf Seiten der praktisch-theologischen Wissenschaft eine wachsende Sensibilität für die notwendige Neuvermessung der Landschaft zu konstatieren ist.

      Zugleich aber sind fundamentale, um nicht zu sagen dramatische, Veränderungen einer bisher wie selbstverständlich auf die Kirche bezogenen Bindungs- und Beteiligungsbereitschaft festzustellen. Die eigentliche Problematik der gegenwärtigen Situation liegt möglicherweise aber weniger in den faktischen Zahlen des Mitgliederschwundes und der konstatierten Austrittsbereitschaft als vielmehr in den noch kaum sichtbaren und doch spürbaren inneren Emigrationsbewegungen vieler Mitglieder. Dabei zeigt sich dies nicht im Sinn enttäuschter Abwendung, sondern als eine zunehmende emotionsarme Haltung absichts- und erwartungsloser Distanz zu den Inhalten und Praktiken von Kirche und Gemeinde.

      Ob die großen Volkskirchen tatsächlich, wie von manchen prognostiziert, an einem grundsätzlichen Scheideweg stehen, ist dabei weniger relevant als die Frage, wie mit dieser Herausforderung der einerseits deutlich erkennbaren und der andererseits ganz stillen Traditionsabbrüche umgegangen werden kann und soll.

      Angesichts dieser ambivalenten Dynamik zwischen Aufbruch und Abbruch erscheint es so herausfordernd wie notwendig, nochmals in grundsätzlicher Weise nach möglichen kirchentheoretischen Deutungskategorien für die praktisch-theologischen Analysen und Interpretationen des gegenwärtigen Kirche-Seins zu fragen. Dies soll in der vorliegenden Studie dadurch unternommen werden, dass Kirche in ihrem Selbstverständnis, ihren Gestaltungsformen und in ihrer Praxis in entscheidendem Sinn als öffentliche Kirche konzipiert wird. Wie sich dieses Leitprinzip in den institutionellen Vollzugsformen sachgemäß entfalten kann, soll ebenfalls Gegenstand der hier angestellten Überlegungen sein.

      |10| Dabei bezieht sich die vorliegende Studie vornehmlich auf die Situation der protestantischen Kirchen in Deutschland und der Schweiz, da der Autor aufgrund der eigenen biographischen und berufsbiographischen Verortung und seines Grenzgängerdaseins mit beiden Kontexten vergleichsweise gut vertraut ist. Integriert wird aber auch die gegenwärtige breite internationale systematisch-theologische Diskussion zu einer public theology im Sinn der öffentlichen Verantwortung für Gesellschaft und Gemeinwesen. Damit soll zum einen zum Ausdruck gebracht werden, dass Überlegungen zu einer praktisch-theologischen Kirchentheorie auf den innertheologischen disziplinübergreifenden Dialog unbedingt angewiesen sind. Zum anderen soll dadurch deutlich werden, dass es zur Bearbeitung der aktuellen Herausforderungen für die protestantische Theologie notwendig ist, zukünftig sehr viel stärker über den eigenen lokalen Horizont hinauszublicken und sich dabei auch von der Dynamik des kirchlichen Aufbruchs in ganz anderen internationalen Kontexten inspirieren zu lassen.

      Welche institutionellen und praktischen Konsequenzen die hier vorgestellten kirchentheoretischen Überlegungen und deren exemplarische Konkretisierung auf einzelnen Handlungsfeldern aber letztlich für die zukünftige Praxis erlangen können, ist aus guten protestantischen Gründen den Verantwortlichen vor Ort selbst und deren kreativer Kirchen- und Gemeindeentwicklung zu überlassen.

      Herzlich danke ich meinen Erstlesern, dem Freund und Kollegen Prof. Dr. Henrik Simojoki, Dr. Frank Weyen, Mitarbeiter am Zürcher Zentrum für Kirchenentwicklung, den deutschschweizerischen und zürcherischen Praktisch-Theologischen Sozietäten und hier insbesondere meinem Zürcher Kollegen Prof. Dr. Ralph Kunz für vielfältige Anregungen sowie wichtige und weiterführende Kommentierungen. Für die Unterstützung in der Recherche und Beschaffung der Literatur und die sorgfältige Durchsicht des Manuskripts danke ich meiner Mitarbeiterin Salome Probst. Zu danken ist schließlich für die wie immer außerordentlich verlässliche und geduldige Begleitung sowie das Lektorat vonseiten des Theologischen Verlags Zürich in Person von Marianne Stauffacher.

      Gewidmet sei diese Studie in herzlichster Dankbarkeit meiner Schwester Sylvia, deren wohlwollend-kritische, keineswegs selbstverständliche Verbundenheit mit der Volkskirche den verantwortlichen Akteuren in praktisch-theologischer Wissenschaft und Kirche als nicht untypische Haltung intensiv zu denken geben kann.

      Thomas Schlag, an Ostern 2012

      Nimmt man die gegenwärtige Kirchenreformrhetorik im Bereich der protestantischen Kirchen wahr und ernst, dann drängt die Zeit wie noch nie. In Zweifel steht nicht weniger als die Zukunft der Kirche überhaupt – mindestens in ihrer gegenwärtigen sichtbaren Sozialgestalt.

      Vor allem die Volkskirche und all das, was sich um diesen Begriff rankt, wird zunehmend infrage gestellt: Die Rede ist dann nicht mehr nur ganz unaufgeregt von einer späten Zeit der Volkskirche2, einer Volkskirche im Wandel3 oder deren notwendiger Modernisierung4. Sondern im zugespitzten Sinn wird von einer Volkskirche »ohne Volk«5 und einem Auslaufmodell gesprochen, dem keine gute Zukunft, sondern das absehbare Ende beschieden sei. Für manche zeichnet sich ein eindeutiger und notwendiger Weg von der Volkskirche zu »personalgemeindlichen Organisationsformen, […] zielgruppenorientierten Gemeinschaftsbildungen und zur Entwicklung alternativer Projekte«6 ab. Ausgerufen wird schließlich die baldige Umwandlung von der Mitgliedschafts- und Servicekirche des Volkes hin zu einer entschieden bekenntnis- und freiwilligkeitsorientierten »Kirche für das Volk«7 in »nach-volkskirchlicher Zeit«8 sowie hin zu ganz neuen Manifestationen der »Gemeinde der Heiligen«9.

      Begründet werden solche negative Zukunftsprognosen zum einen mit Zahlen und Fakten, konkret mit den kaum bestreitbaren demographischen Kennziffern eines stetigen Mitgliederschwundes sowie den damit verbundenen finanziell folgenreichen Entwicklungen.10 Zum anderen beruhen die Schreckensszenarien gleichsam auf gefühlten negativen Trends: So wird etwa ein spürbar geringer gewordener öffentlicher Einfluss der Kirche auf gesellschaftliche Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse konstatiert sowie der weitreichende Verlust des kulturellen Gedächtnisses in Bezug auf biblische |12| Überlieferungsgehalte und kirchliche Traditionen im Sinn eines massiven und unumkehrbaren Traditionsabbruchs beklagt.

      Prinzipiell gilt nun allerdings: Ob die faktische Lage der protestantischen Volkskirche so schlecht ist, wie es gegenwärtig in oftmals erheblicher Aufregung suggeriert wird, bedürfte jedenfalls eines Blickes weit über die faktischen Zahlen hinaus. Apokalyptische Visionen, was im Fall einer ausbleibenden oder erfolglosen Kirchenreform an Haupt und Gliedern passieren könnte, helfen nicht wirklich, sondern steigern eher die Hysterie und führen über den beklagten Reformstress11 im schlimmsten Fall sogar zur Reformparalyse.

      Gleichwohl kann man angesichts aktueller Zahlen in der Tat fragen, ob der Begriff »Volkskirche« als Signatur eines bestimmten empirisch belegbaren Struktur- und Praxisbegriffs12 sowie der damit verbundene Anspruch nicht tatsächlich ausgedient haben – man denke hier etwa nur daran, dass in der Schweiz die Mitgliedschaftsquote der Protestanten und Katholiken von 98 Prozent im Jahr 1970 inzwischen um ein Drittel niedriger ausfällt und auch die Zahl der jährlichen Austritte aus den deutschen evangelischen Landeskirchen in etwa derjenigen der Dauerteilnehmenden eines Deutschen Evangelischen Kirchentages entspricht.

      Allerdings ist mindestens Vorsicht geboten, wenn bestimmte gefühlte Einschätzungen sogleich als harten Fakten ausgegeben