Thomas Schlag

Öffentliche Kirche


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einer öffentlichen Theologie am Ort des Individuums ausmachen. Dies kann dann auch über das Individuum hinaus auf die Frage der öffentlichen Kirche hin Verwendung finden: Kirchliches Engagement ist eben nicht nur soziologisch zu beschreiben, sondern lebt entscheidend von der permanenten theologischen Selbstorientierung, Selbstpositionierung und Selbstvergewisserung der verantwortlichen Akteurinnen und Akteure.

      Die theologische Deutung und kirchlich verortete Mitwirkung an der Gestaltung von Öffentlichkeit stellen somit kein irgendwie geartetes zusätzliches Bestimmungsmerkmal theologischer Reflexion und kirchlicher Praxis dar, sondern eine sinnvolle und notwendige Querschnittsperspektive.

      In der vorliegenden Studie wird die These vertreten, dass öffentliche Theologie und öffentliche Kirche einen wesentlichen Einfluss- und Gestaltungsraum nur dann für sich zu legitimieren vermögen, wenn sie sich einerseits so intensiv wie möglich auf die Analyse der gegenwärtigen Verhältnisse einlassen, andererseits ihrem eigenen Selbstverständnis nach aber alle Artikulations- und Kommunikationsformen unbedingt an einer möglichst klaren und profilierten theologischen Grundlegung orientieren.

      Auf dieser Basis wollen die im Folgenden angestellten Überlegungen über die Tagesaktualität hinaus zu einer kirchentheoretischen Profilierung des Verständnisses und der Praxis von Volkskirche als public church sowie der reflektierenden Praxis einer public theology inmitten der gesellschaftlichen, universitären und kirchlichen Öffentlichkeit beitragen.

      Fatal wäre es übrigens, würde man die folgenden praktisch-theologischen Überlegungen etwa primär als Lösungsstrategie zu Rückgewinnung abgewanderter Mitglieder ansehen. Die hier skizzierte Profilierung ist unabhängig von der konkreten Mitgliedersituation und der aktuellen Frage der Kirchenreformen zu betrachten. Noch weniger ist eine solche Profilierung im Sinn einer funktionalistischen Marketing-Strategie zu verstehen.

      Was sind aber nun die konkreten Herausforderungen, die es nahelegen, programmatisch und konzeptionell im Sinn einer kirchentheoretischen Querschnittsperspektive von einer öffentlichen Kirche im theologischen Sinn zu sprechen – und dies unter Berücksichtigung der gegenwärtigen empirischen Erkenntnisse über die sinkenden Zahlen sowie der nicht mehr nur wohlwollenden, sondern immer stärkeren beziehungs-, kenntnis- und interesselosen Distanzierung ihrer (einstmaligen) Mitglieder? Kurz gefragt: Gibt es überhaupt noch genügend volkskirchlichen Raum für einen solchen öffentlichen |18| Mitgestaltungsanspruch und was sind die eigentlichen Herausforderungen?

      Wie stellen sich nun, um damit einzusetzen, jenseits der angedeuteten demographischen und finanziellen Entwicklungen die Herausforderungen für eine öffentlich präsente Volkskirche und für eine kirchentheoretische Profilierung dieses Leitbilds einer öffentlichen Kirche als intermediärer Institution dar?

      1. Ignorierungsstrategien

      Blickt man auf die öffentlichen Diskurse etwa in brennenden Fragen des politischen Lebens, so scheint dabei die Kirche gegenwärtig tatsächlich keine wesentliche Rolle zu spielen. Ihre Repräsentantinnen und Repräsentanten werden zwar, wenn sie sich zu bestimmten brisanten gesellschaftspolitischen Entwicklungen äußern, von den öffentlichen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Meinungsmachern wahrgenommen – insbesondere dann, wenn sich dies mit einer erhöhten medialen Aufmerksamkeit verbindet.

      Gleichwohl scheinen ihre Haltungen in der Regel dann sogleich ignoriert zu werden, entweder weil bestimmte Aussagen als zu abstrakt, zu komplex und weltfremd erscheinen oder weil sie schlichtweg als politisch nicht opportun gelten. Kirche wird damit interessanterweise gerade auch dann öffentlich ignoriert, wenn sie durchaus verstanden wird und ihre Positionen als unbequem und widerständig eingeschätzt werden – jüngste politische Debatten in der Schweiz wie in Deutschland machen dies anschaulich. Dies gilt sowohl für die in der politischen Debatte weitgehend bedeutungslos gebliebene Stellungnahme des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes zur Minarettinitiative24 wie auch die unterschiedlichsten kirchenleitenden Äußerungen der EKD zu den Kriegseinsätzen der deutschen Bundeswehr, die zwar wahrgenommen, zugleich aber auch mit dem Vorwurf eines weltfremden Idealismus belegt wurden, wodurch man die bestehenden Klischees über kirchliche Äußerungen eifrig bediente.25

      Solche Ignorierungsphänomene gelten nun aber auch, wie entsprechende Untersuchungen belegen, für die individuelle Lebensführung, für die kirchliche |20| Orientierungsmaßstäbe in Fragen öffentlicher ethischer Debatten, gelinde gesagt, kaum als relevante Größe angesehen werden, vor allem dann, wenn sie quer zu den eigenen politischen Einschätzungen liegen.26 Hartnäckig hält sich am Rand und außerhalb von Kirche das öffentliche Bild und die Meinung, dass sich die Kirchen vornehmlich durch traditionalistische und unzeitgemäße Wirklichkeitswahrnehmungen sowie durch ein moralistisches Anweisungsarsenal auszeichneten, dem für die Realitäten des Lebens nur geringe Orientierungsfunktion beizumessen sei.27

      Man mag zwar manches an der Kritik einer Selbstsäkularisierung von Kirche für überzeichnet halten, gleichwohl sind Vorwürfe hinsichtlich einer öffentlichen Selbstinfragestellung von Kirche nicht von der Hand zu weisen. Dies zeigt sich etwa darin, dass kirchliche Äußerungen im öffentlichen Raum oftmals zu schnell an die vermeintlich medial eingängigeren Sprachwelten und Bilder angeglichen werden, aber auch in unverkennbaren Vereinfachungen der eigenen Botschaft bis hin zum immer wieder feststellbaren wenig klaren öffentlichen Auftreten des kirchlichen Personals – so als ob man, gleichsam prophylaktisch, auch nur den Anschein theologischer Sperrigkeit oder gar vermeintlich unlauterer Missionierungsabsichten vermeiden wollte.28

      Auch der manchmal nur allzu geringe Mut, angesichts der komplexen Wirklichkeitslagen den Gegenwartsbezug der eigenen Traditionen gerade deshalb tatsächlich in angemessen komplexer Weise herauszustellen, gibt hier zu denken und befördert letztlich möglicherweise sogar die öffentliche |21| Meinung über eine prinzipielle Gegenwartsirrelevanz von Kirche. Möglicherweise liefert das kirchliche Personal dazu immer wieder auch neue Bestätigungen einer gewissen Weltabständigkeit, die aber auch durch manch eigene nicht unbedingt hoffnungsvoll wirkende Artikulationsweise mitbefördert wird. Problematisch erscheint in diesem Zusammenhang auch, wenn sich dies mit einem mehr oder weniger deutlichen Antiinstitutionalismus im Blick auf die Kirche als ganze und ihre RepräsentantInnen verbindet, womöglich gar unter Herbeiziehung des Vorwurfs organisatorisch-bürokratischer Weltferne.29

      Dafür mag nun stehen, dass selbst Luther den entscheidenden Wert nicht auf die institutionelle – und schon gar nicht auf die organisatorische – Gestalt von Kirche legte, sondern deren Bedeutung für die Verkündigung des Evangeliums in den Mittelpunkt stellte. Nach reformatorischem Grundverständnis besteht ein erheblicher Freiraum in der institutionellen Gestaltung von Kirche, »wenn die Grundfunktionen der Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung als hinreichend angesehen werden, um wahre Kirche zu sein«30. Aber gerade deshalb kann diese hochproduktive reformatorische Grundspannung nicht einfach zuungunsten der institutionell verankerten Vollzüge aufgegeben oder aufgehoben werden.

      Die benannten Herausforderungen treffen und betreffen nun aber nicht nur die Kirche, sondern auch die Theologie als maßgebliche Deutungswissenschaft für das kirchliche Selbstverständnis und die Praxis ihrer Akteure. Nun scheint auch der Einfluss der Theologie als Wissenschaft in Gesellschaft und Öffentlichkeit gegenwärtig gering zu sein. Im öffentlichen Leben stellt sie nur noch selten eine relevante Orientierungsgröße dar, was sich etwa an der Präsenz in den Feuilletons überregionaler Zeitungen bis hin zu den verschwindend geringen Abteilungen theologischer Literatur in den gut sortierten |22| Buchhandlungen bemerkbar macht. Aber auch inneruniversitär hat die Disziplin keinen automatisch leichten Stand: Im Blick auf Fragen des menschlichen Lebens wird ihr kaum eine bedeutsame Interpretationsmacht zugemessen. Eine Deutungskompetenz etwa über Zentralbegriffe menschlichen Lebens wird ihr kaum noch zugesprochen, was sich nicht zuletzt in den Drittmittelvergabepolitiken staatlicher Stellen manifestiert. Schließlich gilt nicht zuletzt angesichts des religiös-weltanschaulichen Pluralismus, dass die Existenz wissenschaftlicher