Und dazu gehöre ich. Ich war plötzlich ein Einserschüler mit relativ viel Freizeit. Ich war sehr aktiv im American Field Service, dem ich sehr viel verdanke. Ich komponierte viel, vertonte altenglische Balladen und besuchte im letzten Schuljahr die ersten Literaturseminare bei Professor Knopf, weil es mir in der Schule nun allmählich zu langsam ging. Ich schrieb meine ersten Kurzgeschichten und wusste, dass ich mir in jedem Fall einen Beruf suchen würde, wo man für das Lesen bezahlt wird.
Nach dem Abitur wohnte ich sechs Monate lang in einer Wohngemeinschaft. Die Adresse, Kriegsstraße 176, war damals wohl in der halben Stadt bekannt. Die Feste waren super, die Gespräche wundervoll, die Tagesabläufe voller Zufälle und interessanter Begegnungen. Allein der einwöchige Spüldienst, der unweigerlich alle fünf Wochen drohte, konnte einem die Stimmung verderben. Im Grunde waren meine letzten sechs Monate in Karlsruhe eine ununterbrochene Party, bis ich mich an einem Januarmorgen 1983 plötzlich in einem Nachtzug nach Salamanca (nein, nicht nach Lissabon!) wiederfand, wo ich hinfuhr, um Spanisch zu lernen.
Seither habe ich nie wieder in Karlsruhe gelebt. Natürlich kam ich anfänglich oft zu Besuch, aber der Abschied war dennoch endgültig gewesen.
Wenn ich heute zurückkomme, dann immer gern. Ich liebe den Schlossgarten und die vielen Fahrradwege und die Art und Weise, wie die Stadt und der Wald ineinander übergehen. Wenn ich von Frankfurt mit dem Auto oder dem Zug komme, freue ich mich immer, wenn ich endlich den Turmberg sehe und das an den Hang geschmiegte Durlach. Wenn ich es einrichten kann, gehe ich in die Schauburg oder ins Staatstheater, aber ich bin zu selten und meist auch zu kurz da, um die Stadt neu zu erkunden. Mit dem Dialekt habe ich mich längst versöhnt. Ich liebe die Gedichte von Harald Hurst, und wenn ich in Berlin jemanden auf der Straße badisch reden höre, bekomme ich immer heimatliche Gefühle.
Nur mit dem merkwürdigen Umstand, dass ich ausgerechnet in Karlsruhe für meine Bücher immer die schlimmsten Verrisse ernte, habe ich mich noch nicht so ganz abgefunden. Aber wahrscheinlich muss das so sein. Ja, es ist wohl ein untrügliches Zeichen, dass ich eben wirklich ein Karlsruher bin. Denn wie sagt man so schön auf der anderen Seite des Rheins: Nul n’est prophète en son pays.
Brüssel, im Herbst 2011
Der Sohn des
Widerstandskämpfers
Klaus Frank
Es ist immer wieder schön für mich, nach Karlsruhe zurück- zukehren, in die Stadt, wo ich geboren wurde und meine Kindheit und Jugend verbrachte. Ein echter Badener zu sein, darauf bin ich stolz.
Am 4. Oktober 1935 wurde ich als drittes Kind des Rechtsanwalts Reinhold Frank und seiner Ehefrau Annemarie in der Landesfrauenklinik in der Kaiserallee geboren. Mit kurzen Ausnahmen lebte ich mit meinen drei Geschwistern in der Weststadt, in der Maxaustraße Nr. 30, die heute Ludwig-Marum-Straße heißt. Zu diesem Haus gehörte ein großer Garten, der nach dem Krieg durch den Bau eines Mietshauses verloren ging. 1938 kam meine jüngste Schwester zur Welt und die Familie blieb zusammen, bis das Studium uns an einen anderen Ort verschlug. Dennoch blieb die Ludwig-Marum-Straße unser Anziehungspunkt, bis unsere Mutter 1975 zurück in die Südstadt zog, wo sie aufgewachsen war.
Meine Erinnerungen gehen zurück in eine sehr behütete Kindheit, in eine häusliche Geborgenheit, zu der auch unsere Oma, die Mutter unserer Mutter, wie selbstverständlich dazu gehörte.
Es folgte der Besuch des Kindergartens im „Herz-Jesu-Stift“, der von Ordensschwestern geleitet wurde und in dessen Räumen nach der Zerstörung des Gotteshauses 1944 Gottesdienste gefeiert wurden. 1946 wich Pfarrer Carl Degler in das Rheingold-Filmtheater aus, ein Ort, der heute ein bekanntes Nachtlokal ist.
Die ersten Schuljahre verbrachte ich in der Gutenbergschule, bis sie 1943 zerstört wurde. 1939 hatte der Krieg begonnen, was uns Kindern vor allem dadurch bewusst wurde, dass oft die Alarmsirenen ertönten und wir im Keller durchhalten mussten, bis wir wieder auf die Straße durften.
Es war das Jahr 1943, als der abgesetzte Staatspräsident Eugen Bolz bei uns Unterschlupf fand. Ich erinnere mich an einen kleinen, schmalen Mann, der mit uns Kindern unter dem Namen „Dr. Müller“ regelmäßig auf dem Flugplatz spazieren ging. Bolz musste fliehen und unser Vater hatte ihn gebeten, zu uns zu kommen. Der Flugplatz lag hinter dem Städtischen Krankenhaus und von hier aus sahen wir, wie die Kriegsbomber aufstiegen in Richtung Westen. Wie viele von ihnen wohl wieder zurückgekommen sind?
Den ersten großen Luftangriff erlebten wir am 27. September 1944 im Keller unseres Hauses, ohne Licht und voller Angst. Unser Vater war zu diesem Zeitpunkt bereits in politischer Haft, weil er sich bereit erklärt hatte, politische Verantwortung nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus zu übernehmen. Er sollte als Staatspräsident von Baden in politischer Verantwortung stehen, ein Amt, das dann Leo Wohleb überantwortet wurde, ein beredter Streiter für die badische Sache, ein bewährter Lehrer, der aus dem Stegreif Deutsch, Latein und Griechisch sprechen konnte.
Nach dem gescheiterten Attentat von 20. Juli 1944 wurde unser Vater noch in der Nacht von zwei „Freunden“ aus dem Bett geholt und, wie ein Verbrecher, mit Handschellen abgeführt. Wir sahen ihn nie wieder.
Da es sich herumgesprochen hatte, dass unser Vater zum Widerstand gehörte, war es fast selbstverständlich, dass manche Personen uns ab da mieden, auch die Kinder auf der Straße.
Nach dem ersten Großangriff wurde uns geraten, Karlsruhe zu verlassen. So fuhren wir Kinder mit unserer Mutter auf fast abenteuerlichen Wegen in die Heimat unseres Vaters nach Oberschwaben, in die kleine Ortschaft Bachhaupten bei Ostrach, und besuchten die Schule im Nachbarort Tafertsweiler. Alle Klassen wurden in einem Raum unterrichtet. Für uns Stadtkinder eine völlig fremde Welt mit vielen Tieren, Landwirtschaft und ohne Angst vor Fliegeralarm. Später erfuhren wir, dass unter unseren Mitschülern auch Karl Lehmann war, der später Professor und Kardinal wurde.
Als wir nach dem zweiten Großangriff auf Karlsruhe, am 4. Dezember 1944, der vor allem der Weststadt galt, keine Nachrichten mehr von zu Hause bekamen, entschloss sich unsere Mutter, die abenteuerliche Reise zurück nach Karlsruhe zu wagen. Nach vielen Reiseunterbrechungen kamen wir an und stellten fest, dass unser Haus zwar beschädigt war, es aber keine Toten gegeben hatte.
Schwer getroffen war die Kirche St. Peter und Paul und im Pfarrhaus waren drei Geistliche umgekommen.
Wir waren in der Heimat, doch der Krieg war noch nicht zu Ende. Immer wieder sahen wir feindliche Flieger und abgeschossene Flugzeuge. Schulunterricht gab es keinen, denn es war ja alles zerstört. Wie hatte der große Diktator gesagt: „Geben Sie mir zehn Jahre Zeit, und Sie werden Deutschland nicht mehr wiedererkennen.“
Es stimmte: Ganz Deutschland lag in Trümmern. Zu Beginn des Jahres 1945 leerte sich auch Karlsruhe. Es wurde sehr einsam um uns herum und das Leben vollzog sich eng gedrängt in den Kellerräumen. Das Ende des Krieges bedeutete für uns zunächst, wieder angstfrei auf die Straße gehen zu können. Den ersten Marokkaner sahen wir vom Kellerfenster aus, wie er mit dem Fahrrad an uns vorbeifuhr. Natürlich hatte der Volkssturm zur letzten Verteidigung seine Kanonen ringsum aufgestellt, die ein gefährliches Pulver enthielten, das meinen Bruder und seinen Freund lebensgefährlich verletzte.
Nach und nach bekam unser Haus wieder Fenster und die Marokkaner zogen in die oberen Räume, wilde Burschen, die von Hygiene keine Ahnung hatten. Inzwischen hatte auch in den immer noch zerstörten Räumen die Schule wieder begonnen und mein Weg führte mich ins Bismarck-Gymnasium, das auch immer noch halb zerstört war. Der Unterricht fand in muffigen Kellerräumen statt, die von Kanonenöfen beheizt wurden. Es gab weder Bücher noch Hefte und kaum Schreibzeug, aber wir hatten das Glück, Lehrern zu begegnen, die uns überzeugten. Aber es gab auch solche, die ihre Nazivergangenheit nicht verleugnen konnten.
Es muss das Jahr 1947 gewesen sein, als Schweizer Familien sich anboten, den Kindern von Widerstandskämpfern in der Schweiz eine Erholung zu schenken und so durften wir Geschwister in die Schweiz fahren, allerdings mit unterschiedlichen Zielen: nach Bern, Luzern und Celerina. Ein Aufenthalt, der drei Monate dauerte. Vorher waren wir auf Veranlassung von Erzbischof Dr. Konrad Gröber für vier Wochen in Friedenweiler untergekommen, damit auch unsere Mutter eine Auszeit für sich nehmen konnte.
Etwa in diese Zeit fällt