die Bucht beschränkte, sondern dorthin, wo das Meer offen war, wo es sich in immer schmaler werdenden grünen, blauen, gelben und grauen Streifen leicht gekräuselt, großartig und unabsehbar dem verwischten Horizont entgegendehnte …
Tony folgte mit den Augen der Richtung seiner Hand; und während nicht viel fehlte, daß beider Hände, die nebeneinander auf der rauhen Holzbank lagen, sich vereinigten, blickten sie gemeinsam in dieselbe Ferne. Sie schwiegen lange, indes das Meer ruhig und schwerfällig zu ihnen heraufrauschte … und Tony glaubte plötzlich einig zu sein mit Morten in einem großen, unbestimmten, ahnungsvollen und sehnsüchtigen Verständnis dessen, was »Freiheit« bedeutete.
Neuntes Kapitel
»Es ist merkwürdig, daß man sich an der See nicht langweilen kann, Morten. Liegen Sie einmal an einem anderen Orte drei oder vier Stunden lang auf dem Rücken, ohne etwas zu tun, ohne auch nur einem Gedanken nachzuhängen …«
»Ja, ja … Übrigens muß ich gestehen, daß ich mich früher manchmal gelangweilt habe, Fräulein Tony; aber das ist einige Wochen her …«
Der Herbst kam, der erste starke Wind hatte sich aufgemacht. Graue, dünne und zerrissene Wolken flatterten eilig über den Himmel. Die trübe, zerwühlte See war weit und breit mit Schaum bedeckt. Große, starke Wogen wälzten sich mit einer unerbittlichen und furchteinflößenden Ruhe heran, neigten sich majestätisch, indem sie eine dunkelgrüne, metallblanke Rundung bildeten, und stürzten lärmend über den Sand.
Die Saison war völlig zu Ende. Der Teil des Strandes, den sonst die Menge der Badegäste bevölkerte und wo jetzt die Pavillons zum Teile schon abgebrochen waren, lag mit wenigen Sitzkörben fast ausgestorben da. Aber Tony und Morten lagerten nachmittags in einer entfernten Gegend: dort, wo die gelben Lehmwände begannen, und wo die Wellen am »Möwenstein« ihren Gischt hoch emporschleuderten. Morten hatte ihr einen festgeklopften Sandberg getürmt: daran lehnte sie mit dem Rücken, die Füße in Kreuzbandschuhen und weißen Strümpfen übereinandergelegt, in ihrer weichen grauen Herbstjacke mit großen Knöpfen; Morten, ihr zugewandt, lag, das Kinn in die Hand gestützt, auf der Seite. Eine Möwe schoß dann und wann über die See und ließ ihren Raubvogelschrei vernehmen. Sie sahen die grünen, mit Seegras durchwachsenen Wände der Wellen an, die drohend daherkamen und an dem Steinblock zerbarsten, der sich ihnen entgegenstellte … in diesem irren, ewigen Getöse, das betäubt, stumm macht und das Gefühl der Zeit ertötet.
Endlich machte Morten eine Bewegung, als ob er sich selbst erweckte, und fragte: »Nun werden Sie wohl bald abreisen, Fräulein Tony?«
»Nein … wieso?« sagte Tony abwesend und ohne Verständnis.
»Ja, mein Gott, wir haben den zehnten September, … meine Ferien sind ohnehin bald zu Ende … wie lange kann das noch dauern! Freuen Sie sich auf die Gesellschaften in der Stadt …? Sagen Sie mal: Es sind wohl liebenswürdige Herren, mit denen Sie tanzen … Nein, das wollte ich auch nicht fragen! Jetzt müssen Sie mir eines beantworten«, sagte er, indem er mit plötzlichem Entschlusse sein Kinn in der Hand zurechtrückte und sie anblickte. »Es ist die Frage, die ich so lange aufgespart habe, … wissen Sie? Nun! Wer ist Herr Grünlich?«
Tony fuhr zusammen, sah ihm rasch ins Gesicht und ließ dann ihre Augen umherschweifen wie jemand, der an einen fernen Traum erinnert wird. Dabei wurde das Gefühl in ihr lebendig, das sie in der Zeit nach Herrn Grünlichs Werbung erprobt hatte: Das Gefühl persönlicher Wichtigkeit.
»Das wollen Sie wissen, Morten?« fragte sie ernst. »Nun, dann will ich es Ihnen sagen. Es war mir zwar höchst peinlich, verstehen Sie, daß Thomas den Namen am ersten Nachmittage erwähnte; aber da Sie ihn einmal gehört haben … genug: Herr Grünlich, Bendix Grünlich, das ist ein Geschäftsfreund meines Vaters, ein wohlsituierter Kaufmann aus Hamburg, der in der Stadt um meine Hand angehalten hat … aber nein!« antwortete sie rasch auf eine Bewegung Mortens, »ich habe ihn zurückgewiesen, ich habe mich nicht entschließen können, ihm mein Jawort fürs Leben zu erteilen.«
»Und warum nicht … wenn ich fragen darf?« sagte Morten ungeschickt.
»Warum? O Gott, weil ich ihn nicht ausstehen konnte!« rief sie beinahe entrüstet … »Sie hätten ihn kennen sollen, wie er aussah und wie er sich benahm! Unter anderem hatte er goldgelbe Favoris … völlig unnatürlich! Ich bin überzeugt, daß er sich mit dem Pulver frisierte, mit dem man die Weihnachtsnüsse vergoldet … Außerdem war er falsch. Er schwänzelte um meine Eltern herum und sprach ihnen in schamloser Weise nach dem Munde …«
Morten unterbrach sie.
»Aber was heißt … Sie müssen mir noch eines sagen … was heißt: Das putzt ganz ungemein?«
Tony geriet in ein nervöses und kicherndes Lachen.
»Ja … so sprach er, Morten! Er sagte nicht: ›Das nimmt sich gut aus‹, oder: ›Das schmückt das Zimmer‹, sondern: ›Das putzt ganz ungemein‹ … so albern war er, ich versichere Sie!… Dabei war er im höchsten Grade aufdringlich; er ließ nicht von mir ab, obgleich ich ihn niemals anders als mit Ironie behandelte. Einmal machte er mir eine Szene, bei der er beinahe weinte … ich bitte Sie: ein Mann, der weint …«
»Er muß Sie sehr verehrt haben«, sagte Morten leise.
»Aber was ging das mich an!« rief sie erstaunt, indem sie sich an ihrem Sandberg zur Seite wandte …
»Sie sind grausam, Fräulein Tony … Sind Sie immer grausam? Sagen Sie mir … Sie haben diesen Herrn Grünlich nicht leiden können, aber sind Sie jemals einem anderen zugetan gewesen?… Manchmal denke ich: Haben Sie vielleicht ein kaltes Herz? Eines will ich Ihnen sagen … es ist so wahr, daß ich es Ihnen beschwören kann: Ein Mann ist nicht albern, weil er darüber weint, daß Sie nichts von ihm wissen wollen … das ist es. Ich bin nicht sicher, durchaus nicht sicher, daß ich nicht ebenfalls … Sehen Sie, Sie sind ein verwöhntes, vornehmes Geschöpf … Mokieren Sie sich immer nur über die Leute, die zu Ihren Füßen liegen? Haben Sie wirklich ein kaltes Herz?«
Nach der kurzen Heiterkeit begann nun plötzlich Tonys Oberlippe zu zittern. Sie richtete ein Paar großer und betrübter Augen auf ihn, die langsam blank von Tränen wurden, und sagte leise: »Nein, Morten, glauben Sie das von mir?… Das müssen Sie nicht von mir glauben.«
»Ich glaube es ja auch nicht!« rief Morten mit einem Lachen, in dem Ergriffenheit und mühsam unterdrückter Jubel zu hören war … Er wälzte sich völlig herum, so daß er nun auf dem Bauche neben ihr lag, ergriff, indem er die Ellenbogen aufstützte, mit beiden Händen die ihre und sah mit seinen stahlblauen, gutmütigen Augen entzückt und begeistert in ihr Gesicht.
»Und Sie … Sie mokieren sich nicht über mich, wenn ich Ihnen sage, daß …«
»Ich weiß, Morten«, unterbrach sie ihn leise, während sie seitwärts auf ihre freie Hand blickte, die langsam den weichen, weißen Sand durch die Finger gleiten ließ.
»Sie wissen …! Und Sie … Sie, Fräulein Tony …«
»Ja, Morten. Ich halte große Stücke auf Sie. Ich habe Sie sehr gern. Ich habe Sie lieber als alle, die ich kenne.«
Er fuhr auf, er machte ein paar Armbewegungen und wußte nicht, was er tun sollte. Er sprang auf die Füße, warf sich sofort wieder bei ihr nieder und rief mit einer Stimme, die stockte, wankte, sich überschlug und wieder tönend wurde vor Glück: »Ach, ich danke Ihnen, ich danke Ihnen! Sehen Sie, nun bin ich so glücklich, wie noch niemals in meinem Leben!…« Dann fing er an, ihre Hände zu küssen.
Plötzlich sagte er leiser: »Sie werden nun bald nach der Stadt abreisen, Tony, und meine Ferien sind in vierzehn Tagen zu Ende … dann muß ich wieder nach Göttingen. Aber wollen Sie mir versprechen, daß Sie diesen Nachmittag hier am Strande nicht vergessen werden, bis ich zurückkomme … und Doktor bin … und bei Ihrem Vater für uns bitten kann, so schwer es sein wird?