Маркус Уикс

Big Ideas. Das Psychologie-Buch


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      EINLEITUNG

      Von allen Wissenschaften ist die Psychologie vielleicht die geheimnisvollste und am häufigsten missverstandene. Obwohl psychologisches Gedankengut in die Alltagskultur eingegangen ist, haben die meisten Menschen nur eine verschwommene Vorstellung davon, worum es in der Psychologie geht und was Psychologen eigentlich tun. Manche sehen Männer in weißen Kitteln vor sich, die eine Station für psychisch Kranke leiten oder Laborversuche an Ratten durchführen. Andere stellen sich vielleicht einen älteren Herrn vor, der seine Patienten, die vor ihm auf einer Couch liegen, psychoanalytisch durchleuchtet. Oder, wenn man einschlägigen Drehbüchern Glauben schenken darf, versucht, Macht über deren Gedanken zu erlangen.

      Obwohl diese klischeehaften Bilder übertrieben sind, enthalten sie ein Körnchen Wahrheit. Vielleicht ist das riesige Spektrum an Themen, die der Psychologie zugeordnet werden (wie auch die verwirrende Bandbreite von Begriffen, die mit der Vorsilbe »psycho-« beginnen) verantwortlich dafür, dass im Hinblick auf Inhalt und Bedeutung dieser Disziplin Konfusion herrscht. Selbst Psychologen können sich nicht auf eine einheitliche Definition einigen. Das Wort »Psychologie« ist vom altgriechischen psyche – »Seele«, »Hauch«, »Atem« – und von logos – »Lehre«, »Wissenschaft« – abgeleitet. In der modernen Wissenschaftssprache trifft die Formulierung »Wissenschaft vom Erleben und Verhalten des Menschen« den Inhalt vielleicht am besten.

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       Eine neue Wissenschaft

      Die Psychologie kann ebenso als eine Brücke zwischen Philosophie und Physiologie gesehen werden. Während die Physiologie die physikalischen und biochemischen Vorgänge im Körper, also auch im Gehirn und in den Nervenzellen, erforscht, widmet sich die Psychologie den mentalen Prozessen sowie ihrer Manifestation in Gedanken, Sprache und Verhalten. Wo die Philosophie sich mit Gedanken und Ideen beschäftigt, fragt die Psychologie, wie diese Gedanken entstehen und was sie über die Arbeitsweise des Geistes aussagen.

      »Die Psychologie hat eine lange Vergangenheit, doch nur eine kurze Geschichte.«

       Hermann Ebbinghaus

      Alle Wissenschaften sind aus der Philosophie entstanden, und auch philosophische Fragestellungen wurden mit wissenschaftlichen Methoden untersucht. Doch da Untersuchungsgegenstände wie Bewusstsein, Wahrnehmung oder Erinnerung immateriell sind, dauerte es lange, bis die Psychologie den Schritt von der philosophischen Spekulation zur wissenschaftlichen Praxis gemacht hatte. An einigen Universitäten, insbesondere in den USA, wurden die psychologischen Institute in die philosophische Fakultät eingegliedert, an anderen, vor allem in Deutschland, ordnete man sie den Naturwissenschaften zu. Als eine eigenständige wissenschaftliche Disziplin etablierte sich die Psychologie erst am Ende des 19. Jahrhunderts.

      1879 gründete Wilhelm Wundt an der Leipziger Universität das weltweit erste Institut für experimentelle Psychologie. Damit war die Psychologie zur »echten« Wissenschaft geworden. Während des 20. Jahrhunderts entwickelte sie sich weiter. Dennoch sind viele der älteren Theorien auch für die moderne Psychologie von Bedeutung. Manche Themen waren und sind wissenschaftliche »Dauerbrenner«, während andere mal mehr, mal weniger im Fokus standen. Nichtsdestotrotz hatten sie einen bedeutenden Einfluss auf nachfolgende Generationen und ebneten so manches Mal den Weg für neue Forschungsfelder.

      Um sich mit der ganzen Bandbreite der Psychologie vertraut zu machen, empfiehlt es sich, ihre Hauptströmungen in grob chronologischer Reihenfolge zu betrachten, so wie dieses Buch es vorschlägt: von den philosophischen Wurzeln über den Behaviorismus, die Psychotherapie, die kognitive Psychologie, die Sozial- und Entwicklungspsychologie bis hin zur differenziellen Psychologie.

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       Zwei Ansätze

      In den USA wurzelt die Psychologie in der Philosophie, was zu einem spekulativen, theoretischen Ansatz führte. Dabei standen Begriffe wie »Bewusstsein« und »Selbst« im Mittelpunkt. In Europa hingegen fußt sie auf den Naturwissenschaften. Ihre Vertreter konzentrierten sich darauf, mentale Prozesse wie Sinneswahrnehmungen und Erinnerungen unter kontrollierten Laborbedingungen zu untersuchen. Pioniere wie Hermann Ebbinghaus bedienten sich dazu der Introspektion und machten sich selbst zu Forschungsobjekten. Viele Psychologen der nachfolgenden Generation fanden dieses Verfahren zu subjektiv und suchten nach objektiveren Untersuchungsmethoden.

      In den 1890er-Jahren führte der russische Physiologe Iwan Pawlow Experimente durch, die die Entwicklung der Psychologie sowohl in Europa als auch in den USA entscheidend beeinflussten. Er bewies, dass Tiere so konditioniert werden können, dass sie auf einen willkürlich gesetzten Reiz reflexhaft reagieren. Das war der Beginn des Behaviorismus. Die Behavioristen sahen keine Möglichkeit, mentale Prozesse objektiv zu erforschen. Sie fanden es aber relativ einfach, deren äußere Manifestation, sprich die Verhaltensweisen, zu messen. Sie entwickelten Versuche, die unter kontrollierten Bedingungen durchgeführt werden konnten, zunächst an Tieren, später an Menschen. Dabei konzentrierten sie sich fast nur auf die Frage, wie sich Verhalten durch Interaktion mit der Umgebung formt. John B. Watson machte diese Reiz-Reaktions-Theorie weltweit bekannt.

      Praktisch zeitgleich zur Entstehung des Behaviorismus in den USA begann ein junger Neurologe in Wien eine psychologische Theorie zu entwickeln, die sich als revolutionär erweisen sollte. Sigmund Freud, der Vater der Psychoanalyse, setzte statt auf Laborexperimente auf die Beobachtung von Patienten und Fallstudien. Damit sprach er sich dafür aus, zum Studium subjektiver Erfahrung zurückzukehren. Er interessierte sich für die Erinnerungen, die Kindheit und die zwischenmenschlichen Beziehungen seiner Patienten und hob den Einfluss des Unbewussten auf das Verhalten hervor. Obwohl Freuds Fokussierung auf das Triebleben seine Zeitgenossen schockierte, stießen seine Ideen schnell auf Resonanz – der Begriff »Redekur« hat sich in der Psychotherapie bis heute gehalten.

      »Die erste und oberste konkrete Tatsache … ist die, dass Bewusstsein irgendwelcher Art stattfindet.«

       William James

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       Neue Forschungsfelder

      Mitte des 20. Jahrhunderts rückte das naturwissenschaftliche Studium psychischer Prozesse wieder in den Vordergrund. In den USA entstand eine Forschungsrichtung, die auf der ganzheitlich ausgerichteten Gestaltpsychologie basierte: die kognitive Psychologie. Ende der 1950er-Jahre hatte sie allen anderen psychologischen Strömungen den Rang abgelaufen. Die Kommunikationswissenschaften und die Informatik, die schnell an Einfluss gewannen, lieferten nützliche Analogien: So verwendeten Psychologen Modelle der Informationsverarbeitung, um zu Themenbereichen wie Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Erinnern und Vergessen, Sprache und Spracherwerb, Problemlösung, Entscheidungsfindung und Motivation neue Theorien zu entwickeln.

      Selbst die Psychotherapie, die aus der ursprünglich psychoanalytischen »Redekur« hervorgegangen war, wurde von der kognitiven Psychologie beeinflusst. Als Alternativen zur Psychoanalyse entstanden die kognitive Therapie und die kognitive Verhaltenstherapie. Hieraus wiederum entwickelte sich die humanistische Psychologie, die sich auf die vorhandenen Potenziale jedes Einzelnen konzentriert. Im Fokus stand nicht mehr die Heilung von Kranken, sondern die Frage, wie gesunde Menschen sich optimal entfalten und ihrem Leben mehr Sinn geben können.

      Während sich die Psychologie zu Beginn ihrer Geschichte vor allem auf das Seelenleben und das Verhalten von Individuen konzentriert hatte, rückte nun die Frage in den Mittelpunkt, wie wir mit unserer Umgebung und anderen Menschen interagieren. Dieses Feld beackerte die Sozialpsychologie. Wie die kognitive Psychologie hatte sie der Gestaltpsychologie viel zu verdanken, vor allem dem Psychologen Kurt Lewin, der in den 1930er- Jahren aus NS-Deutschland in die USA geflohen war. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ergaben die Forschungen interessante Erkenntnisse über unsere Einstellungen und Vorurteile, unsere Neigung zu Gehorsam und Konformität und die