meinen guten Werken nur mir selber. Ich strenge mich an, ein hochmoralisches Leben zu führen – und drehe mich in Wirklichkeit die ganze Zeit um mich selber, den größten aller Götzen.
Diese moralistische Art zu leben führt zu einem typischen Jo-Jo-Effekt. Wenn ich „oben“ bin (also den Eindruck habe, dass ich meine Ziele erreiche und meinen Standards genüge), werde ich selbstgerecht, stolz und schroff und ungeduldig gegenüber meinen Mitmenschen. Und wenn ich „unten“ bin, kann ich mich selber nicht mehr ausstehen, weil ich meine ganze Identität ja darauf gebaut habe, dass ich besser bin als die anderen. Dieser moralistische Jo-Jo-Effekt ist übrigens ein transkulturelles Phänomen. Die Angehörigen traditioneller Kulturen beziehen ihre Identität und ihr Selbstwertgefühl daraus, dass sie die Erwartungen der Familie erfüllen, damit diese stolz auf sie sein kann. Die Menschen in den modernen westlichen Gesellschaften mit ihrem ausgeprägten Individualismus dagegen beziehen ihre Identität und ihr Selbstwertgefühl aus ihrer Selbstverwirklichung – dem Erkennen und Ausleben ihrer Träume und Wünsche. So radikal unterschiedlich diese beiden kulturellen Prägungen aussehen, sie sind beide Strategien zur Selbsterlösung, und das Evangelium stellt sich beiden entgegen.
Was tun Sie, wenn Sie darüber predigen, wie Josef den Verführungskünsten von Potifars Frau widerstand? Oder wie König Josia das wiedergefundene Gesetzbuch Gottes vor dem versammelten Volk verlesen ließ oder wie David Goliat besiegte? Wenn Sie Ihren Zuhörern die „Moral von der Geschichte“ erklären (dass Christen der Versuchung widerstehen, die Bibel lieben und in jeder Lebenslage Gott vertrauen sollen), und das war’s – dann bestätigen und verstärken Sie nur die fatale Neigung des menschlichen Herzens zur Selbsterlösung: „Wenn ich mein Leben richtig führe, muss Gott mich segnen …“ Wenn Sie nicht jedes Mal eine weithin sichtbare Brücke zu unserer Erlösung durch Christus schlagen und aufzeigen, wie er uns dadurch erlöst hat, dass er (für jeden von uns, an unserer statt) allen Versuchungen widerstanden, Gottes Gesetz vollkommen gehalten und den Riesen der Sünde und des Todes den Garaus gemacht hat, dann bestätigen sie nur die Moralisten in ihrer falschen Religion.
Nur dann, wenn wir unermüdlich das Evangelium predigen, dass wir von Christus geliebte Sünder sind – so geliebt, dass wir nicht zu verzweifeln brauchen, wenn wir schon wieder gesündigt haben, und solche Sünder, dass wir kein Recht haben, stolz zu sein, wenn wir uns richtig verhalten haben –, können wir unseren Hörern zur Flucht aus der schizophrenen Welt des Moralismus helfen. Und auch säkular geprägte Menschen, die vielleicht gar keine Moralisten sind, müssen wir in unseren Predigten vor dem Moralismus warnen. Aus zwei Gründen: Erstens werden sie keinen Gedanken auf den christlichen Glauben verschwenden, solange sie nicht sehen, dass er nicht mit dem Moralismus identisch ist. Zweitens erwartet jeder Mensch, der anfängt, sich für Gott zu öffnen, zunächst einmal automatisch eine moralistische Beziehung zu ihm. Der berühmte Evangelist George Whitefield hat im 18. Jahrhundert in einer Predigt genau diese Warnung ausgesprochen. Wir mögen diese Warnung heute mit anderen, moderneren und weniger fachtheologischen Worten formulieren, aber sie ist genauso notwendig und aktuell wie damals. Whitefield sagt:
Wenn eine arme Seele zu erwachen beginnt … dann flüchtet sich das arme Geschöpf, das unter einem Bund der Werke geboren ist, flugs in den nächsten Bund der Werke. Wie Adam und Eva sich unter den Bäumen des Gartens versteckten und sich Schurze aus Feigenblättern nähten, um ihre Blöße zu bedecken, so flüchtet sich der erweckte arme Sünder in seine Pflichten und Übungen, um sich vor Gott zu verstecken, und flickt sich seine eigene Gerechtigkeit zusammen. Er sagt: „Ab jetzt will ich ein anständiger Mensch werden, ich werde mich bessern, ich werde alles tun, was ich kann, und dann muss Jesus Christus sich doch meiner erbarmen.“ Aber … unsere besten Werke sind nur so viele schöne Sünden. … Es braucht ein tiefes inneres Überführtsein von der Sünde, bevor ich frei werden kann von meiner Selbstgerechtigkeit. Sie ist der letzte Götze, den Gott aus meinem Herzen entfernt. … Kannst du sagen: „Herr, du hast jedes Recht, mich wegen der besten Werke, die ich je getan habe, zu verdammen?“ … Wenn du nicht solcherart aus dem Gefängnis deines Ichs frei wirst, kannst du dir noch so viel Frieden einreden, aber du hast keinen Frieden. … Erst dann, wenn du im Glauben die allgenügende Gerechtigkeit Jesu Christi ergreifst, hast du wirklich Frieden.66
Whitefield zeigt hier auf, wie der Mensch, der Gott sucht, in die allgegenwärtige Fallgrube der moralistischen Religion stürzt. Und die einzige Methode, diese Falle zu vermeiden, besteht darin, dass wir bei jedem Bibeltext Christus und sein Evangelium predigen.
Zwei Stolperfallen
1. Über einen Text – vielleicht sogar einen über Jesus – predigen, ohne das Evangelium zu predigen
Wenn Sie einen Artikel zu dem Thema „Aus der ganzen Bibel Jesus predigen“ lesen, erwarten Sie wahrscheinlich, dass er ihnen zeigt, wie Sie Christus im Alten Testament finden. Aber es ist möglich, über das Neue Testament zu predigen (sogar Texte aus den Evangelien, in denen Jesus persönlich vorkommt), ohne das Evangelium zu predigen.
Vor ein paar Jahren las ich zwei Predigten von verschiedenen Predigern über die Heilung des besessenen Geraseners in Markus 5. Beide Predigten handelten natürlich von Jesus, denn der Text handelt ja von einer Szene in seinem Leben. Die erste Predigt war nicht schlecht. Sie stellte Jesus als den großen Befreier dar. Dieser vom Teufel geplagte Mann ist nackt und in Ketten. Er ist fern von jeder menschlichen Gemeinschaft und schreit vor Qualen. Da kommt Christus und nimmt diesem Armen seine Ketten ab. Er führt ihn heraus aus seiner Isolierung und macht ihn wieder fähig, unter Menschen zu leben. Er stillt seine Schreie und erfüllt ihn mit Frieden. Jetzt ist der Mann wieder bei klarem Verstand. Die Botschaft dieser Predigt lautete: Was dein Problem auch ist, komm zu Jesus, er macht alles gut. Was deine Krankheit auch ist, er kann sie heilen. Wenn du dich selber nicht ausstehen kannst, zeigt er dir, wie sehr er dich liebt. Wenn du Süchte hast, macht er dich frei. Was alles vollkommen richtig ist (solange wir nicht unseriöse Hoffnungen auf sofortige und mühelose Heilung und Heiligung wecken). Und ganz gewiss würde ich nie über diesen Text predigen wollen, ohne Jesus als Befreier darzustellen.
Aber dann las ich, nicht lange danach, die zweite Predigt. An ihrem Ende stellte der Prediger eine wichtige Frage. Er sagte: Die Nacktheit und die Ketten und die Einsamkeit und das Toben und Schreien dieses Mannes sind ein Bild von uns allen. Wir alle sind Sünder; die Bibel sagt, dass wir Sklaven der Sünde, der Götzen und des Teufels sind. Wir brauchen jemanden, der uns aus dem Reich der Finsternis hinausführt in das Reich des Lichtes. Uns allen ergeht es ähnlich wie diesem Besessenen; bei ihm war es nur besonders extrem und deutlich. Er und wir sind in dieser Lage, weil wir Sünder sind. Und dann kam Jesus und befreite ihn. Und jetzt kommt die Frage des Predigers: Warum konnte Jesus diesem Mann vergeben und ihn heilen?
Die Antwort – so der Prediger weiter – erfahren wir am Ende des irdischen Lebens Jesu. Dort, am Kreuz, ist Jesus selber nackt und gefangen und ausgestoßen aus der Gemeinschaft der Menschen; dort schreit er: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Das ist die Antwort. Jesus konnte deswegen diesen sündigen, von Dämonen besessenen Mann heilen, weil er den Platz mit ihm tauschte. Jesus ist unser Stellvertreter. Er konnte in das Leben des Besessenen hineinkommen und ihn heilen, weil er für ihn starb und die Strafe bezahlte und selber alles trug, was dieser Mann erlebte. Er wurde nackt, damit wir die Kleider der Gerechtigkeit anziehen können. Er ließ sich in das tiefste Loch der Verzweiflung und Qual werfen, damit wir Gottes Liebe und Vergebung und inneren Frieden bekommen können.
Der Unterschied zwischen diesen beiden Predigten war gewaltig. Beide handelten von Jesus, aber nur die zweite war eine deutliche Darlegung des Evangeliums. Die erste Predigt konnte den falschen Eindruck erwecken, dass Erlösung bedeutet, dass Gott unsere Wunden heilt, und dass der Weg zu dieser Heilung darin besteht, dass ich Jesus bitte, in mein Leben hineinzukommen und mir das zu geben, was ich brauche. Das Thema „Sünde“ und „Gnade“ wurde nicht deutlich angesprochen. Das Kreuz Christi kam nicht vor und das Evangelium wurde entsprechend wenig deutlich. Ganz anders die zweite Predigt: Sie nahm das Elend des Besessenen zum Anlass, uns die Schmerzen und Qualen Jesu am Kreuz vor Augen zu führen. Eine ganz zentrale Aussage des Markusevangeliums ist, dass Jesus unser Stellvertreter ist. Er gab sein Leben als Lösegeld für uns hin (Markus 10,45).67 Diese zweite Predigt behandelte