biblischen Buches wird dazu führen, dass vielen Menschen die ganze Vielfalt der biblischen Botschaft vorenthalten wird.
Selbst D. M. Lloyd-Jones sah in seinen Sonntagabendgottesdiensten von diesem Ansatz ab, denn in den Bänken saßen viele Nichtchristen und Suchende, die von christlichen Freunden mitgebracht worden waren. Und seine detailliertesten Auslegungspredigten, bei denen es Jahre dauern konnte, bis er mit einem Buch der Bibel fertig war, hielt er an den Freitagabenden, für Christen, die tiefer in die Bibel eindringen wollten.
Prediger, die es mit sehr heterogenen Gemeinden zu tun haben, deren Glieder sich in ganz unterschiedlichen Stadien der geistlichen Reise befinden und vielleicht schon im nächsten Jahr den Wohnort wechseln werden, tun besser daran, sich von evangelikalen Anglikanern wie John Stott oder Dick Lucas inspirieren zu lassen. Beide waren exzellente Vertreter der Textpredigt, die es verstanden, die Struktur und die Hauptaussagen eines Textes klar und präzise zu vermitteln. Aber als Pastoren von Großstadtgemeinden mit hoher Mobilität wussten sie, dass viele der Menschen ihnen höchstens ein paar Jahre zuhören würden. Sie lösten das Problem durch eine modifizierte lectio continua. Anstatt längere biblische Bücher komplett durchzuarbeiten, hielten sie Predigtserien über kürzere biblische Bücher oder gingen längere Bücher auszugsweise durch oder beschränkten sich bei der versweisen Auslegung auf einige wenige Schlüsselkapitel innerhalb eines Buches.41
Wenn Sie innerhalb eines vertretbaren Zeitrahmens die verschiedenen Teile und Gattungen der Bibel – Altes und Neues Testament, erzählende und lehrhafte Texte, prophetische und poetische Bücher – abdecken wollen, müssen Sie eine Reihe von Mini-Textpredigtreihen zu verschiedenen Büchern und Abschnitten der Bibel halten.42
Die Heterogenität und Mobilität der Gemeinde ist nicht das einzige Problem der Auslegungspredigt. Während die Themapredigt rhetorischen Hilfsmitteln wie Bildern und Beispielen, der Sprache und dem Erzählen von Geschichten mehr Bedeutung beimisst, liegt der Fokus bei der Auslegungspredigt (zu Recht) mehr auf der Exegese des Bibeltextes. Doch der Prediger hat nicht nur den Text zu erklären, sondern auch die Herzen der Zuhörer zu erreichen, und ich erlebe viele Prediger, die so viel Zeit und Mühe in die Textauslegung stecken, dass sie die Zuhörer schier vergessen. Gewisse Schulen der Auslegungspredigt raten dem Prediger regelrecht, sich mehr oder weniger auf das Referieren seiner biblischen Erkenntnisse zu beschränken; alles andere ist angeblich bloße Unterhaltung und Show. Wie wir im Prolog sahen, entstammt diese Haltung ironischerweise einer oberflächlichen Lektüre der Warnungen des Paulus vor „menschlicher Weisheit“ in 1. Korinther 1 und 2. Der Verzicht auf den Appell an die Zuhörer, auf plastische Beispiele und andere Methoden, das Herz zu erreichen, blockiert die Wirkung der Predigt – einmal, weil solche Predigten langweilig sind, und zum zweiten, weil es dem Ziel der Predigt zuwiderläuft.
Eine ähnliche Gefahr besteht in einer allzu engen Definition der Textpredigt. Die Anhänger der Auslegungspredigt (zu denen auch ich gehöre) sind um hohe Qualitätsstandards bemüht, und dies aus guten Gründen, denn viele Textpredigten sind ausgesprochen schwach. Doch dieser Wunsch nach Qualität kann zu einer zu engen Definition von „Auslegung“ führen.
Für manche Prediger muss eine „richtige“ Textpredigt versweise am Text entlanggehen, ohne jegliche Gliederung oder Überschriften. Dies war in den ersten Jahrhunderten der Kirche die Hauptmethode, doch im Laufe der letzten Jahrhunderte sind die meisten Textprediger zu gegliederten Predigten übergegangen, mit gutem Erfolg. Am anderen Ende des Spektrums stehen heute die vielen Dozenten, die die versweise Predigt für absolut falsch erklären; hier sollten wir uns daran erinnern, dass sowohl Johannes Calvin als auch Johannes Chrysostomos, zwei der größten Prediger aller Zeiten, die versweise Textauslegung pflegten. Wir sollten die Textpredigt nicht einseitig in einer der beiden Richtungen definieren. Manche Ausleger gehen fast versweise fortlaufend am Text entlang, während andere Gliederungen verwenden, die den Text mehr selektiv anhand seiner Hauptaussagen beleuchten.
Es ist heute auch üblich, eine Textpredigt als Predigt zu definieren, in der „die Pointe des Textes auch die Pointe der Predigt ist“. Diese Definition geht davon aus, dass jeder Bibeltext eine und nur eine Pointe oder Hauptaussage hat.43 Der Prediger hat seine ganze Predigt um dieses Thema herum aufzubauen. Nun tut es in den meisten Fällen der Klarheit der Botschaft sicherlich gut, wenn der Prediger seine Predigt konsequent von bloßen Nebensächlichkeiten reinigt, aber man kann dies auch übertreiben.
Bei manchen Bibeltexten ist es nicht einfach, ein eindeutiges Zentralthema auszumachen.44 Dies gilt besonders für erzählende Texte. Was ist das eine große Thema in dem Bericht über Jakobs Ringkampf mit Gott in 1. Mose 32? Was ist der eine Grund für die Aufnahme der Stammbäume Jesu in Matthäus 1 und Lukas 3? Oder für den Bericht über den Toten, der wieder lebendig wurde, als sein Leichnam die Gebeine Elisas berührte (2. Könige 13)? Dann der bizarre Bericht über die sieben Söhne des Skevas in Apostelgeschichte 19,13-20, die „bei dem Jesus, den Paulus verkündet“ einen Dämonen austreiben wollten, der ihnen antwortete: „Jesus kenne ich, und wer Paulus ist, weiß ich ebenfalls; aber wer seid ihr?“ – worauf der Besessene sie alle sieben windelweich prügelte. Was war Lukas’ Absicht, als er diese geradezu komische Episode in seine Apostelgeschichte aufnahm? Ich habe mehrere bemerkenswerte Auslegungen dieses Bibelabschnitts gehört; alle waren sie solide in dem Text verankert, und keine widersprach den anderen, aber jede war anders. Aus solchen Texten kann man viele Lehren ziehen, die alle richtig sind und aus denen ein kluger Prediger eine oder zwei auswählt, je nach der Fassungsgabe und den Bedürfnissen seiner Zuhörer.45
Die Bibel ist ein sehr inhaltsreiches Buch, und so fallen einem, wenn man sich einen Text, den man studiert oder über den man gepredigt hat, nach Jahren erneut anschaut, fast immer neue Dinge auf, die man bisher noch nicht bemerkt hatte. Dies bedeutet nicht, dass man die Notizen oder die Tonaufnahme der früheren Predigt wegwerfen sollte! Das erneute Studium des Textes wird vielmehr mein bisheriges Verständnis von ihm ergänzen und vertiefen. Der innere Reichtum der Bibel bedeutet, dass man in ihr immer wieder neue Dinge entdeckt.
Darum definiert Alan M. Stibbs in seinem vergessenen Klassiker Expounding God’s Word die Textpredigt als eine Predigt, die die Ideen (Mehrzahl) und sogar die Implikationen des Textes (also das, was das reformierte Westminster Bekenntnis „gute und notwendige Schlussfolgerungen“ nennt46) herausarbeitet. Die Aufgabe der Textpredigt ist es,
eng an dem ausgewählten Textabschnitt zu bleiben und allein das darzulegen, was er sagt oder zu verstehen gibt, sodass die im Laufe der Predigt formulierten Ideen und Prinzipien eindeutig aus dem geschriebenen Wort Gottes kommen und auf dessen Autorität fußen, und nicht auf der Meinung … des Menschen, der sie vorträgt.47
Gleichwohl ist es oft so, dass der biblische Verfasser in der Tat ein Hauptthema hat, das sich einem sorgfältigen Studium erschließt.48 Der Prediger muss die Hauptgedanken des Textes entfalten und darf sich nicht in lauter Details und Nebenthemen verlaufen, die letztlich das Anliegen des Verfassers nicht korrekt wiedergeben.49
Den Löwen verteidigen
An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, was eine sorgfältige Bibelauslegung überhaupt noch ausrichten kann in einer Kultur, die zunehmend autoritätsresistent ist, vor allem im religiösen Bereich. Vor Kurzem ist Fred Craddock gestorben. Er war ein großer Prediger der United Methodist Church, dessen Buch As One Without Authority die protestantische Predigtkultur entscheidend von der Auslegungspredigt weggeführt hat. Craddock spürte, dass die modernen Menschen sich weder von der Bibel noch von ihrem Pastor vorschreiben lassen wollen, wie sie zu leben haben. Seine Lösung waren Predigten, die aus „Geschichten mit offenem Ausgang“ bestanden, aus denen die Zuhörer „ihre eigenen Schlüsse ziehen“ konnten.50
Der berühmte Rat, den der Baptistenprediger Spurgeon im 19. Jahrhundert in einem Vortrag gab, liest sich da völlig anders:
Zu manchen Zeiten scheint mir doppelt so viel Energie darin gesteckt worden zu sein, die Bibel zu verteidigen, wie sie darzulegen, aber wenn wir hinfort alles daran setzen, die Bibel zu erklären und zu verbreiten, können wir es ihr selber überlassen, sich zu verteidigen. Ich weiß nicht, ob