Timothy Keller

Predigen


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muss das Wort Gottes und seine Wahrheit lieben und ihm dienen, und er muss die Menschen, vor denen er steht, lieben und ihnen dienen. Wir dienen dem Wort, indem wir den Text klar und deutlich auslegen und dabei jedes Mal das Evangelium predigen. Und wir erreichen die Zuhörer, indem wir ihre Kultur und ihre Herzen ansprechen.

      Das müssen wir tun. Und jetzt das, was Gott tun muss: Er schließt sein Wort durch das machtvolle Wirken seines Geistes (vgl. 1. Korinther 2,4) für die Herzen unserer Hörer auf. Laut Paulus kann man nur dann mit echter geistlicher Kraft predigen, wenn man seinen Zuhörern Christus als eine lebendige Realität nahebringt, der sie begegnen und der sie sich öffnen sollen und können. Unsere Predigten müssen unser ehrfürchtiges Staunen über das, was wir in Christus haben, zum Ausdruck bringen. Sie müssen eine ungekünstelte Offenheit ausstrahlen, die dem Hörer zeigt, dass das Herz des Predigers selber ergriffen ist von dem, was er da verkündet, und dass es verwandelt wird. Der gute Prediger strahlt Autorität und Ruhe aus und nicht das verkrampfte Bemühen, dem Publikum zu gefallen oder eine Show abzuziehen. Der Prediger sollte Liebe, Freude, Frieden und Weisheit ausstrahlen. Er sollte ein Schaufenster sein, durch das die anderen seine vom Evangelium verwandelte Seele sehen und sich sagen: „So möchte ich auch werden.“ Und sie sollten etwas von Gottes Gegenwart spüren.

      Wie ist das möglich? Es geschieht, wenn wir Christus predigen. Wenn wir den Text gewissenhaft auslegen und jedes Mal das Evangelium predigen wollen; wenn wir die Kultur und die Herzen unserer Zuhörer erreichen und Mitarbeiter des Heiligen Geistes bei seinem Werk in dieser Welt sein wollen – dann müssen wir Christus predigen, bei jedem Bibeltext.

Teil I

      Kapitel 1

      Das Wort Gottes predigen

       Redet jemand im Auftrag Gottes, dann soll er sich bewusst sein, dass es Gottes Worte sind, die er weitergibt. (1. Petrus 4,11)

       Wenn dein Wort offenbar wird, so erfreut es und macht klug die Unverständigen. (Psalm 119,30)

      Gottes Wort und menschliches Können

      In dem ersten protestantischen Predigthandbuch, The Art of Prophesying (1592), schreibt William Perkins: „Man soll allein das Wort Gottes predigen, in seiner Vollkommenheit und inneren Widerspruchsfreiheit.“29 Vielen von uns heute erscheint dieser Satz als eine Selbstverständlichkeit. Natürlich soll ein christlicher Prediger oder Lehrer die Bibel weitergeben, was denn sonst? Doch in der Zeit, in der Perkins lebte, war dies keineswegs selbstverständlich. Für viele Prediger damals reichte Gottes Gnade allein nicht aus, um die Zuhörer zu überzeugen. „Sie brauchte die Mithilfe der Beredsamkeit. … Die Gläubigen brauchten die Wunderkräfte der Predigt als Stütze für das Wort der Bibel.“30

      Die Predigt in England war damals zu einem verbalen Feuerwerk geworden, zu einem Potpourri aus sprachlichen Schnörkeln, Zitaten und Anspielungen auf antike Autoren, dichterischen Bildern und rhetorischen Gipfelstürmereien. Am Anfang stand zwar immer noch der Bibeltext, aber der Entfaltung dieses Textes und seiner Bedeutung widmeten die Prediger nur sehr wenig Zeit. Sie schienen zu glauben, dass die Bibel allein nicht ausreichte; man musste ihr mit dem ganzen Arsenal der Redekunst auf die Sprünge helfen. Das Grundvertrauen in die Kraft und Autorität des Wortes Gottes selber war verloren gegangen.

      William Perkins und seine Zeitgenossen wandten sich gegen diese „überkultivierte Redekunst“ ihrer Zeit. Sie fanden, dass das Hauptziel der Predigt verloren gegangen war: dass wir die Bibel selber sprechen und ihre eigene Kraft entfalten lassen. Im ersten Teil seines kurzen Werkes verwendet Perkins viel Zeit auf die Darlegung, dass die Bibel Gottes vollkommene, reine, ewige Weisheit ist und dass sie die Kraft hat, die Gewissen zu überführen und in die Herzen einzudringen.31 Perkins wusste, dass die Grundeinstellung eines Predigers zur Bibel einen erheblichen Einfluss auf seinen Umgang mit ihr hat. Ist uns, die wir die Bibel an andere Menschen weitergeben, klar, dass in ihr die Autorität und Kraft Gottes selber liegt? Wenn die Antwort darauf „Ja“ ist, dann wird es uns wichtiger sein, die Bibel für sich selber sprechen zu lassen, als sie als Beleg für unsere Meinungen zu benutzen. Wie Perkins sagt: „Die Predigt des Wortes ist das Zeugnis Gottes und das Bekenntnis zu Christus, und nicht zu menschlicher Kunst.“ Er beeilt sich hinzuzufügen: „Dies bedeutet nicht, dass Kanzeln Orte sind, denen es an Wissen und Bildung mangelt. … Der Pastor darf, ja muss in seinem Leben die allgemeinen Künste und die Philosophie fleißig nutzen und sollte bei der Vorbereitung seiner Predigt ausgiebig lesen.“ Doch keinesfalls sollte er diese Dinge vor seiner Gemeinde zur Schau tragen.32

      Für Perkins besteht der Sinn des Predigens nicht darin, die Früchte der klugen Forschungen oder philosophischen Überlegungen des Predigers vorzutragen. Es darf auch nicht darum gehen, dass man den Eindruck hat, dass Gott einem eine besondere Botschaft oder Erkenntnis aufs Herz gelegt hat, und dann nach einem dazu passenden Bibeltext sucht. Nein, der Prediger hat das an Erkenntnis, Lehren und Anweisungen weiterzugeben, was die Bibel selber sagt – und dabei kann und muss er alle „Künste“ einsetzen, um den Hörern zu helfen, das, was die Verfasser der Bibel meinen, recht zu verstehen. Und all das geschieht im Gehorsam zu der ersten und größten Aufgabe des Predigers: dass er seinen Hörern Gottes Wort bringt und ihnen die ganze Autorität dieses Wortes aufschließt.

      Textpredigt und Themapredigt

      Wie macht man das am besten?

      Hughes Oliphant Old hat eine maßgebende siebenbändige Geschichte der Predigt verfasst.33 Er behandelt darin die christliche Predigt in jedem Jahrhundert und in jedem Zweig der Christenheit – orthodox, katholisch, protestantisch, evangelikal und pfingstlerisch – sowie auf praktisch allen Kontinenten. Der schiere Umfang und die Vielfalt seiner Untersuchung sind atemberaubend. In der Einleitung zu der Serie benennt er fünf Grundtypen der Predigt, wobei er Grundkonstanten festgestellt hat, die die Jahrhunderte überdauerten. Es sind dies die auslegende, die evangelistische, die katechetische, die prophetische und die Festpredigt.

      Die Auslegungspredigt definiert Old als „die systematische Erklärung der Bibel in der regelmäßigen wöchentlichen Versammlung der Gemeinde“.34 Die übrigen vier Predigttypen sehen auf den ersten Blick ganz unterschiedlich aus, aber in einem wichtigen Punkt sind sie alle gleich: Anders als die Auslegungspredigt basieren sie nicht notwendigerweise auf einer bestimmten, einzigen Bibelstelle. Dies liegt daran, dass der Hauptzweck dieser Predigttypen nicht darin besteht, einen konkreten Bibeltext zu untersuchen und zu entfalten, sondern anhand mehrerer Texte einen bestimmten biblischen Begriff oder Gedanken darzustellen. Old nennt dies die „Themapredigt“, und sie kann die bereits erwähnten vier Ziele haben: die Heranführung von Nichtchristen an den Glauben (evangelistische Predigt), die Unterweisung von Gläubigen über bestimmte Punkte des Bekenntnisses und der Theologie ihrer Kirche (katechetische Predigt), die Feier und rechte Begehung kirchlicher Feste wie Weihnachten, Ostern, Pfingsten usw. (Festpredigt) oder die Thematisierung und biblische Beleuchtung einer besonderen historischen oder kulturellen Situation (prophetische Predigt).

      Wir haben es also auf der allgemeinsten Ebene mit zwei Fundamentalformen der Predigt zu tun: der Textpredigt (Auslegungspredigt) und der Themapredigt. Im Laufe der Jahrhunderte haben Prediger sich beider Formen fleißig bedient, was sie, wie Old aufzeigt, auch müssen. Paulus zum Beispiel legte in Athen in der Synagoge die Bibel aus, aber auf dem Areopag hielt er eine thematisch orientierte Rede, in der er die Bibel kein einziges Mal zitierte (vgl. Apostelgeschichte 17); seine Argumente basierten alle auf der Bibel, aber seine Präsentationsform war die der klassischen Rede, in welcher der Redner Thesen aufstellt, die er mit Argumenten untermauert. In Paulus’ Augen brachte es nichts, Zuhörern, die weder an die Bibel glaubten noch auch nur mit ihren fundamentalsten Aussagen vertraut waren, mit einer systematischen Bibelauslegung zu kommen. Mit anderen Worten: Eine typische Situation, in der eher die Themapredigt angebracht ist, ist die Evangelisation.

      Es gibt noch andere Situationen, wo man die Bibel predigen möchte, aber wo eine Bibelstelle allein nicht ausreicht, um das zu sagen, was man sagen will. Stellen