Timothy Keller

Predigen


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formlos in persönlichen Gesprächen (meist Einzelgesprächen). Dies ist die fundamentalste Art der Wortverkündigung; nennen wir sie die „Ebene 1“.

      Am formelleren Ende des Spektrums findet sich die Predigt, also die öffentliche Auslegung der Bibel vor der versammelten Gemeinde – die „Ebene 3“. Die Apostelgeschichte gibt uns viele Beispiele für Predigten; die Prediger sind meist Petrus oder Paulus, aber es gibt auch eine Predigt des Stephanus, die eine Zusammenfassung seiner Lehre gewesen sein dürfte. Wir finden in der Apostelgeschichte so viele dieser öffentlichen Wortverkündigungen, dass man fast den Schluss ziehen könnte, dass aus der Perspektive des Lukas (des Autors der Apostelgeschichte) die Entwicklung der jungen Kirche und die Entwicklung der Predigt Hand in Hand gingen.

      Doch es gibt noch so etwas wie eine Zwischenform der Wortverkündigung, die als „Ebene 2“ zwischen dem persönlichen Gespräch im Alltag des Christen und der förmlichen Predigt liegt. In einem weniger bekannten Bibelabschnitt beschreibt der Apostel Petrus die Geistesgabe des „Redens im Auftrag Gottes“:

      Jeder soll den anderen mit der Gabe dienen, die er von Gott bekommen hat. Wenn ihr das tut, erweist ihr euch als gute Verwalter der Gnade, die Gott uns in so vielfältiger Weise schenkt. Redet jemand im Auftrag Gottes, dann soll er sich bewusst sein, dass es Gottes Worte sind, die er weitergibt. Übt jemand einen praktischen Dienst aus, soll er die Kraft in Anspruch nehmen, die Gott ihm dafür gibt. Jede einzelne Gabe soll mit der Hilfe von Jesus Christus so eingesetzt werden, dass Gott geehrt wird. (1. Petrus 4,10-11)

      Petrus benutzt in diesem Abschnitt über die Geistesgaben zwei sehr allgemeine Ausdrücke.4 Der erste ist das griechische Wort für „Reden“: lalein. Im übrigen Neuen Testament bedeutet es mal das alltägliche Gespräch (Matthäus 12,36; Epheser 4,25; Jakobus 1,19), mal ein Predigen, wie bei Jesus (Matthäus 12,46 und 13,10) oder Paulus (2. Korinther 12,19). Was meint Petrus hier?

      Wenn wir diesen Abschnitt mit Paulus’ Listen der Geistesgaben in Römer 12, Epheser 4 und 1. Korinther 12 und 14 vergleichen, sehen wir, dass es eine ganze Gruppe von Gaben des Dienstes mit dem Wort gibt, die gleichberechtigt neben der öffentlichen Predigt vor der Gemeinde stehen; dazu gehören die persönliche Ermahnung bzw. Beratung, das Evangelisieren und der Unterricht an Einzelnen und ganzen Gruppen. Der Theologe Peter Davids kommt zu dem Schluss, dass Petrus, wenn er von der Geistesgabe des Redens im Auftrag Gottes spricht, nicht „das alltägliche Gespräch unter Christen“ meint und auch nicht nur das Auftreten von Pastoren „oder anderen Amtsträgern in der Gemeinde“, sondern vielmehr Christen, die „eine dieser Wortgaben“ des Ratens, Lehrens, Unterrichtens und Evangelisierens haben. Bei dieser Art des Verkündigungsdiensts halten die betreffenden Personen keine regelrechten Predigten, sondern vorbereitete Vorträge oder Bibelstunden bzw. Gesprächsrunden, in denen sie das Wort Christi darbieten und erklären.5

      Man beachte, wie Petrus hier alle, die das Wort Gottes in irgendeiner Form an andere weitergeben (also nicht nur die Pastoren und Prediger), ermahnt, ihre Aufgabe ernst zu nehmen. Der Christ, der anderen biblischen Unterricht gibt, soll „sich bewusst sein, dass es Gottes Worte sind, die er weitergibt“ (1. Petrus 4,11). Davids merkt an, dass in der wörtlichen Formulierung „Redet jemand, dann als Worte Gottes“ das „als“ „einen gewissen Abstand zwischen den Worten des Redenden und den Worten Gottes“ lässt. Kein Christ darf je beanspruchen, dass seiner Lehrtätigkeit dieselbe Autorität zukommt wie der biblischen Offenbarung. Und doch: Petrus macht hier die absolut zentrale Aussage, dass Christen, die die biblische Lehre an andere weitergeben, nicht einfach ihre eigene Meinung weitergeben sollen, sondern „Gottes Worte“. Nicht nur der, der öffentlich predigt, sondern jeder Christ, der andere lehrt, soll die in der Bibel geoffenbarte Wahrheit nach bestem Wissen und Gewissen darlegen,6 und wenn er die Aussagen der Bibel treu erklärt, werden seine Zuhörer in seinen Worten Gott selber reden hören; was sie hören, ist nicht bloß das Produkt menschlicher Genialität, sondern das Wort Gottes selber.

      Jeder Christ sollte die Botschaft der Bibel so gut kennen, dass er sie im Rahmen eines persönlichen Gespräches anderen (Christen wie Nichtchristen) erklären kann (Ebene 1). Doch es gibt viele Wege des „Dienstes am Wort“ auf der Ebene 2, die Gaben der Vorbereitung und der Präsentation verlangen, ohne dadurch zu Predigten (Ebene 3) zu werden. Moderne Beispiele für die „Ebene 2“ sind etwa Briefe und Artikel, Blogs im Internet, Andachten in Sonntagsschule und Kleingruppen, Mentoring, die Moderation von Diskussionsforen über den christlichen Glauben usw.

      Dieses Buch möchte all denen eine Hilfe sein, die ihren christlichen Glauben an andere Menschen weitergeben, besonders auf den Ebenen 2 und 3.

      Warum die Predigt unersetzlich ist

      Man sollte sich also hüten vor der unbiblischen Vorstellung, dass die Wortverkündigung in der Christenheit lediglich aus der Gemeinde- oder Sonntagspredigt besteht. Eine solche Position legt – so Adam – „der Predigt eine Last auf, die sie nicht tragen kann: die Last, all das zu leisten, was die Bibel von der Wortverkündigung in ihrer ganzen Bandbreite erwartet.“7 Keine Gemeinde sollte sich der Erwartung hingeben, dass die Leben verwandelnde Kraft des Wortes Gottes (Johannes 17,17; vgl. Kolosser 3,16-17 und Epheser 5,18-20) immer und nur durch die Predigt wirkt. Die schönste Predigt reicht nicht aus, um mich Jesus Christus ähnlicher zu machen; dazu brauche ich immer auch andere Christen in meiner Umgebung, die mir „die Botschaft der Wahrheit weitergeben“ (2. Timotheus 2,15), indem sie mich ermutigen, lehren und beraten. Ich brauche auch die Bücher christlicher Autoren, die mich innerlich aufbauen. Es ist auch ein Fehler, anzunehmen, dass die Menschen „draußen“, die das Evangelium brauchen, nur durch Predigten erreicht werden können. Ich selber bin nicht durch Predigten und theologische Vorträge zum Glauben gekommen, sondern durch christliche Bücher. (Überrascht Sie das?) Also: Vorsicht vor dem Klischee, dass die Wortverkündigung in der Gemeinde allein Sache der Sonntagspredigt sei.

      Aber so recht Adam auch hat mit seiner Warnung vor der Überbetonung der Predigt – die größte Gefahr für die heutigen Kirchen könnte ganz woanders liegen. Wir leben in einer Zeit, wo viele Menschen gegen jegliche Autoritätsansprüche resistent geworden sind. Unsere Kultur leidet an einer Wahrheitsallergie, deren Überwindung immer größere Anstrengungen erfordert und die die Gefahr für die Kirchen mit sich bringt, die Schlüsselrolle der Predigt für die Verkündigung des Evangeliums aus den Augen zu verlieren.

      Edmund Clowney schreibt in seinem Kommentar zu 1. Petrus 4,10:

      Es stimmt, dass jeder Christ das Wort Gottes ehrfürchtig behandeln und die Hilfe des Heiligen Geistes suchen sollte, um es an andere Menschen weiterzugeben. Doch es gibt auch Christen, die besondere Geistesgaben für die Predigt … des Wortes Gottes haben … [und] einen besonderen Auftrag, die Herde Gottes zu hüten und zu weiden ([1. Petrus] 5,2). Die Kirche, die sich gegen den Klerikalismus wehrt, läuft ein Stück weit Gefahr, die Bedeutung des Dienstes am Wort Gottes durch die, die [von Gott] zu Hirten der Herde berufen sind, zu vergessen.8

      Clowney warnt uns davor, überhaupt keinen qualitativen Unterschied zwischen der Predigt von der Kanzel und der Leitung eines Bibelstudiums in einer Kleingruppe zu sehen. Der Unterschied zwischen diesen beiden Formen der Wortverkündigung hat nicht nur mit Liturgie und Logistik zu tun; es geht nicht nur um die Anzahl der Zuhörer, die Größe des Raumes oder die Akustik. Wer öfters vor einer Gemeinde predigt, der weiß, dass es auch zwischen Predigt und Bibelstunde, ja sogar zwischen einer Predigt und einem Vortrag wesentliche Unterschiede gibt. Man braucht sich nur die Predigten von Petrus, Stephanus und Paulus in der Apostelgeschichte anzusehen, um zu merken, was für eine Kraft in einer Predigt liegt, die „Gottes Worte weitergibt“, und was für eine unerhörte Autorität der Geist Gottes in einen Gottesdienst tragen kann.

      Wir werden immer ganz verschiedene Arten der Verkündigung des Wortes Gottes brauchen, aber die Institution der öffentlichen Predigt ist unersetzlich. Adam findet genau die richtige Mitte zwischen den Extremen, wenn er schreibt, dass die Evangeliumsverkündigung einer Gemeinde „kanzelzentriert, aber nicht auf die Kanzel beschränkt“ sein sollte.9

      Es gibt also drei Arten bzw. Ebenen der Wortverkündigung, und alle sind sie wichtig und ergänzen einander. Die öffentliche Predigt über Christus in