Ermahnung, ein Lied oder was sonst Ihnen der Herr ans Herz gelegt hat? Noch wichtiger: Werden Sie ermutigt, dies zu tun?
Seien Sie ehrlich: Der Gedanke, dass sich alle gegenseitig dienen, wie er im Neuen Testament zutage tritt, ist doch wohl weit von dem entfernt, was wir in einer typisch institutionellen Kirche als eng gefassten Begriff des „Laiendienstes“ kennen. Die meisten organisierten Kirchen bieten eine Fülle von ehrenamtlichen Positionen an, wie z. B. Rasenmähen im Pfarrhof, das Begleiten der Besucher zu den Sitzplätzen, die Begrüßung am Eingang, Zettel verteilen, die Sonntagsschule unterrichten, Singen im Chor oder – bei entsprechender Begabung – in der Lobpreisgruppe, Folien auflegen oder PowerPoint-Präsentationen weiterklicken usw.
Diese eingeschränkten „Dienste“ sind aber Lichtjahre entfernt von jener freien und offenen Ausübung der geistgegebenen Gaben, die der ganzen Versammlung zugutekommen sollen.
Die Notwendigkeit eines funktionierenden Priestertums
Was ist der Grund für diese Vorgehensweise der frühen Kirche? War das bloß vorübergehende Kulturtradition? War das nur die Kindheit der Kirche, wie manche meinen, war es ihre Unwissenheit, ihre noch mangelnde Reife? Ich bin nicht davon überzeugt. Die Versammlungen des ersten Jahrhunderts waren tief in der biblischen Theologie verwurzelt. Man setzte die neutestamentliche Lehre vom Priestertum aller Gläubigen in die Tat um, eine Lehre, die für alle Evangelikale ein Lippenbekenntnis ist.
Was besagt diese Lehre? Nach den Worten des Petrus sind alle Gläubigen geistliche Priester; sie alle sind dazu aufgerufen, ihrem Herrn „geistliche Opfer“ zu bringen. Oder mit Paulus gesprochen: Alle Christen sind lebendige Glieder am Leib Christi. Die Versammlung mit offener Beteiligung nach neutestamentlichem Vorbild entspricht unserer geistlichen Natur. Jeder Christ hat die (neu) angeborene Neigung, sich mit anderen Christen zu treffen, um sich in offener Atmosphäre über den gemeinsamen Herrn auszutauschen. Ritual und Programm würden hier nur störend wirken. Man will schließlich sein Herz ausschütten, will sagen, was Gott hineingelegt hat.
Denken Sie nur an die Erweckungen der Vergangenheit. Wenn Sie sich mit diesen Erweckungen schon einmal befasst haben, dann wissen Sie, dass diese eine Zeit lang den traditionellen Gottesdienst ausgesetzt haben. Die Prediger pausierten oft monatelang. Stattdessen versammelte sich das Volk Gottes stundenlang, sang, bezeugte und sprach über Gott. Man traf sich ganz spontan. Es waren offene Treffen, an denen sich jedermann beteiligen durfte. Niemand leitete diese Treffen.
Warum geschah dies? Weil sich Gottes Volk auf seine Instinkte verließ; niemand hielt die Gezeitenflut des Heiligen Geistes auf, niemand hinderte ihn an seinem Wirken. Sobald die Wasser aber zurückgegangen waren, kehrte man schnell zur jahrhundertealten, gewohnten, protestantischen Gottesdienstpraxis zurück. Fast überall kamen die offenen Versammlungen zum Erliegen.
Im Grunde spiegelten die Gemeindeversammlungen des ersten Jahrhunderts das wider, was schon von Ewigkeit her im dreieinigen Gott stattgefunden hatte: selbstloses Leben, selbstlose Liebe und Gemeinschaft. Durch den Heiligen Geist schenkt sich der Vater ewiglich dem Sohn und umgekehrt. Das gemeinschaftliche Leben der frühen Kirche war der irdische Abglanz dieses göttlichen Austausches.
Die Gemeindeversammlungen der frühen Kirche bildeten das gottgeschaffene Umfeld, das geistliches Wachstum – gemeinsames und individuelles Wachstum – hervorbrachte (vgl. Eph 4,11-16). Wenn die verschiedenen Glieder des Leibes in Christus dienen, wachsen wir hinein in die ganze Fülle Gottes (vgl. Eph 3,16-19), und wenn wir lebendige Glieder an diesem Leib sind, wachsen wir auch als Einzelne (vgl. Mk 4,24-25).
Die geistliche Nahrung des Gläubigen in einer institutionellen Kirche dagegen hängt im Wesentlichen von der geistlichen und theologischen Vorbereitung weniger Leute ab. Könnte dies der Grund dafür sein, weshalb sich in unseren heutigen Kirchen so wenig tut?7
Über die prägende Natur des gemeinsamen Zusammenwirkens am Leib Christi schreibt John Howard Yoder: „Die Konsequenz ist unvermeidlich: Die Vielzahl der Dienste ist keine bloße Nebensächlichkeit, kein glücklicher Umstand von nur oberflächlicher Bedeutung, sondern die besondere Auswirkung der Gnade und damit ein Maßstab für die Kirche“.8 Freilich kann und soll der Christ auch außerhalb der Versammlung Christ sein. Die Versammlung der Gemeinde ist aber speziell dafür da, dass der einzelne Gläubige Christus durch seine Gabe(n) zum Ausdruck bringt (vgl. 1 Kor 11–14; Heb 10,24-25). Unglücklicherweise hat die institutionalisierte Kirche das Prinzip des „Einander“ vom Gottesdienst ausgeschlossen. Das aber bremst das geistliche Wachstum der Gemeinde.
Die Reformation hat das Priestertum aller Gläubigen wiederentdeckt. Sie versagte aber, als es galt, dies in die Praxis umzusetzen. Die reformatorische Sichtweise von der Priesterschaft der Gläubigen beschränkte sich auf das Individuum. Die Reformation beschränkte sich auf die Soteriologie (die Lehre von der Erlösung) und versäumte es, auch die Ekklesiologie (die Lehre von der Gemeinde) mit ins Spiel zu bringen. Die Reformatoren beanspruchten zwar den Grund und Boden, auf dem das Priestertum der Gläubigen stand, versäumten es aber, diesen Boden auch zu besetzen und zu bebauen. In einer typisch protestantischen Kirche ist die Lehre vom Priestertum der Gläubigen nicht mehr als eine sterile Wahrheit. Man sollte richtiger „Priesterschaft einiger Gläubiger“ dazu sagen.
Kaum etwas trägt mehr zum geistlichen Leben und Wachstum bei als die offene Beteiligung in der Gemeinde, wie sie im Neuen Testament beschrieben wird. Gott hat die offene Beteiligung eingesetzt, um die herrliche Wirklichkeit eines voll wirksamen Priestertums zu verkörpern, das Christus zum Ausdruck bringt.
Der Verfasser des Hebräerbriefs zeigt zur Genüge, dass die gemeinsame Teilnahme am Leib für die geistliche Beschaffenheit jedes Mitglieds lebenswichtig ist. Gegenseitige Ermahnung ist das göttliche Gegengift zur Vermeidung von Abtrünnigkeit, sagt er, die göttliche Voraussetzung zur Beharrlichkeit des Gläubigen, ja, das göttliche Mittel zur Ausbildung des geistlichen Lebens:
Sehet zu, Brüder, dass nicht jemand von euch ein böses Herz des Unglaubens habe, im Abfall begriffen vom lebendigen Gott, sondern ermahnt einander jeden Tag, solange es heute heißt, damit nicht jemand unter euch verstockt werde durch den Betrug der Sünde! (Heb 3,12-13).
Die gegenseitige Ermahnung ist die Abhilfe gegen ein verhärtetes, ungläubiges Herz und gegen einen betrogenen Verstand. In gleicher Weise spricht das Neue Testament auch von der gegenseitigen Ermahnung als vom göttlichen Schutz gegen mutwillige Sünde:
Lasst uns aufeinander achten, uns gegenseitig anspornen zur Liebe und zu guten Werken, indem wir unsere eigene Versammlung nicht verlassen, wie einige zu tun pflegen, sondern einander ermahnen, und das umso mehr, als ihr den Tag herannahen sehet! Denn wenn wir mutwillig sündigen … (Heb 10,24-26).
Während zahllose Geistliche diese Stelle dazu missbraucht haben, ihren Schäfchen die Wichtigkeit des „Kirchenbesuchs“ ins Gewissen zu reden, haben sie den Rest des Verses schlichtweg ignoriert. Diese Schriftstelle sagt, dass gegenseitige Ermahnung (und nicht das Hören einer Predigt) der Hauptzweck der Versammlung ist. Gegenseitige Ermahnung ist auch das gottgegebene Abschreckungsmittel gegen mutwilliges Sündigen.
Meiner Meinung nach ignorieren wir die Gesamtaussage dieser Stelle auf eigene Gefahr. Der Grund ist einfach: Unser geistliches Wohlergehen hängt von der Gemeinsamkeit und vom gegenseitigen Funktionieren der einzelnen Glieder ab.
Jesus Christus in seiner ganzen Fülle sichtbar werden lassen
Das griechische Wort für Gemeinde ist „ekklesia“. Das bedeutet „Versammlung“. Das passt vorzüglich zum führenden Gedanken der paulinischen Briefe über die Gemeinde: die Gemeinde ist der verkörperte Christus (vgl. 1 Kor 12,1-27; Eph 1,22-23; 4,1-16).
Vom menschlichen Standpunkt aus gesehen ist die Kirche zur gegenseitigen Erbauung da. Von Gottes Standpunkt aus besteht der Zweck der Versammlung aber darin, seinen herrlichen Sohn sichtbar werden zu lassen. Die Kirche ist der Leib; Christus ist das Haupt. Es ist die Bestimmung des Leibes, zu leben und dieses