Frank Viola

Ur-Gemeinde


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die Gemeinde ändere sich je nach Kultur und müsse sich ihrem jeweiligen Umfeld anpassen, in dem sie lebt. Man meint, Gott billige heute ein klerikales System, eine hierarchische Leiterschaft, passives Zuschauerverhalten im Gottesdienst, die „Ein-Mann-Shows“, den Gedanken des „Zur-Kirche-Gehens“ und eine Vielzahl anderer Bräuche, die im vierten Jahrhundert aufkamen, als die Christen die griechisch-römischen Sitten ihrer Umgebung übernahmen.

      Ist die Gemeinde wirklich in jeder Kultur anders? Und wenn ja, sind wir dann frei, jede Aktivität in unseren Gottesdienst aufzunehmen? Oder könnte es nicht vielmehr sein, dass die Gemeinde heute sowohl in ihrer Theologie als auch in ihrer Praxis ein Zuviel an moderner westlicher Kultur in sich aufgenommen hat?

      Das Neue Testament sieht die Gemeinde eindeutig als eine biologische Wesenheit (vgl. Eph 2,15; Gal 3,28; 1 Kor 10,32; Kol 3,11; 2 Kor 5,17). Sie entsteht dann, wenn der lebendige Same des Evangeliums in die Herzen der Menschen gelegt wird und man ihnen erlaubt, sich ohne äußere Zwänge zu versammeln. Die DNA der Kirche bringt ganz bestimmte erkennbare Merkmale hervor: die Erfahrung authentischer Gemeinschaft, familiärer Liebe, gegenseitiger Unterordnung der Glieder; die Zentralität Jesu Christi; die angeborene Neigung, sich ohne starre Rituale zu versammeln; das instinktive Verlangen nach tiefen Beziehungen mit Jesus Christus als Mittelpunkt; den inneren Wunsch nach Zusammenkünften, in denen man sich frei äußern kann, und den aus Liebe gezeugten Impuls, Jesus einer gefallenen Welt zu offenbaren.

      Während die Saat des Evangeliums diese besonderen Eigenschaften ganz natürlich hervorbringt, kann sich der Ausdruck dieser Merkmale von Kultur zu Kultur unterscheiden. Ich habe zum Beispiel einmal in Chile eine organische Gemeinde gegründet. Die Lieder, die die Geschwister schrieben, die Art, wie sie miteinander umgingen, wie sie saßen, und ihr Umgang mit den Kindern – all das unterschied sich von europäischen und amerikanischen organischen Gemeinden.

      Die Grundmerkmale der DNA teilen sich jedoch alle Gemeinden. Keine organische Gemeinde hat je einen Klerus, einen einzelnen Pastor, ein hierarchisches System oder eine Gottesdienstordnung hervorgebracht, wodurch die Mehrheit zur Passivität verurteilt worden wäre.

      Eine großblättrige Hortensie wird aber niemals Dornen und Disteln hervorbringen oder Orangen und Äpfel. Auch wird sie nie so groß wie eine Kiefer. Warum nicht? Weil die Eigenschaften anderer Pflanzen der Hortensie-DNA fremd sind. So ist es auch mit der Gemeinde Jesu Christi, wenn sie fachmännisch gepflanzt und sich selbst überlassen wird, ohne dass ein Mensch versucht, sie durch institutionelle Zwänge zu bestimmen. Dann bringt sie kraft ihrer DNA ganz bestimmte Merkmale hervor. Wie die großblättrige Hortensie kann die Gemeinde je nach Kultur verschieden aussehen, aber sie behält ihren eigenen unverkennbaren Ausdruck, wenn man ihr nur Raum zur Entfaltung gibt.

      Setzen wir Menschen diesem lebenden Organismus nun unser eigenes gefallenes System auf, verliert die Gemeinde ihre organischen Merkmale und es kommt zu Fehlbildungen und Erscheinungsformen, die ihrer eigenen DNA nicht entsprechen.

      Lassen Sie mich eine tragische Geschichte erzählen, die dies veranschaulicht. Am 4. November 1970 entdeckte man ein außergewöhnliches dreizehnjähriges Mädchen. Seit frühester Kindheit lebte sie ohne Berührungen und soziale Kontakte. Man hatte Genie (wie man sie nannte) nie das Sprechen beigebracht und jeden menschlichen Umgang mit ihr vermieden. Genie war an einen Stuhl mit Töpfchen gefesselt und saß dort tagelang allein. Am Abend wurde sie in einen Schlafsack geschnürt, in dem sie ihre Arme nicht bewegen konnte. Machte sie Geräusche oder versuchte sie zu sprechen, schlug man sie.

      Die Folge war, dass ihre natürlichen Eigenschaften für immer entstellt wurden. Genies Gang glich dem Hoppeln eines Kaninchens. Ihre Hände hielt sie wie Pfoten. Feste Nahrung konnte sie nicht zu sich nehmen, Schlucken fiel ihr schwer. Sie spuckte und schniefte häufig. Auf Gegenstände in mehr als vier Meter Entfernung, konnte sie ihren Blick nicht fokussieren. Ihre Sprechen war auf ein kurzes und schrilles, kaum zu verstehendes Quieken beschränkt.

      Nachdem man Genie aus ihrer entsetzlichen Behausung befreit hatte, vergrößerte sich ihr Wortschatz schlagartig. Trotzdem konnte sie keine zusammenhängenden Sätze bilden. Was war geschehen? Einige Wissenschaftler vermuteten eine Veränderung ihrer Erbanlagen (DNA) als Folge falscher Ernährung und mangelnder Sozialkontakte.

      Übertragen wir diese Geschichte auf den geistlichen Sachverhalt: Ähnlich der großblättrigen Hortensie wird auch eine organische Gemeinde von ihrem gesellschaftlichen Umfeld beeinflusst. Oder – wie im tragischen Fall von Genie – kann eine Kultur den natürlichen Ausdruck einer Gemeinde bis zur Unkenntlichkeit entstellen und ihr natürliches Wachstum beeinträchtigen. Nach meiner Überzeugung ist es der Gemeinde im Laufe ihrer Geschichte so ergangen. Folglich gleicht das, was wir heute „Kirche“ nennen, nicht dem, was Gott sich ursprünglich darunter vorgestellt hat.

      Die Gemeinde ist von ihrem Wesen her organisch. Wenn man sich nicht in ihr natürliches Wachstum einmischt, wächst sie zu einer schönen Frau heran: ein lebendiges Zeugnis der Herrlichkeit ihres Bräutigams, Jesus Christus. Sie wird nicht die Züge eines Wirtschaftsunternehmens annehmen, sondern vielmehr etwas ganz anderes, etwas völlig Einzigartiges auf diesem Planeten sein, genauso einzigartig wie Jesus Christus, als er auf Erden war. Immerhin ist sie sein Leib und vom Wesen her identisch mit Gottes Wesen.

      Dieses Buch stellt den Versuch dar, Gemeinde wieder als Abbild des dreieinigen Gottes zu sehen. Es versucht, die Praxis der Gemeinde in der ewigen Gottheit zu verankern, nicht in den Wanderdünen sich verändernder kultureller Modeerscheinungen, in den schlammigen Gründen biblizistischer Schemata oder in den verseuchten Gewässern religiöser Tradition.

      Fragen zum Weiterdenken

      • Glauben Sie, dass uns das Neue Testament so etwas wie eine Leitlinie für das Gemeindeleben an die Hand gibt, oder sollten wir es als irrelevant verwerfen?

      • Wenn Sie an die an die Kirchen bzw. Gemeinden denken, die Sie einmal besucht haben bzw. noch besuchen. Inwiefern brachten sie das Gemeinschaftsleben des dreieinigen Gottes zum Ausdruck?

      • Was bedeutet es, dem Wort Gottes in Bezug auf unsere Gemeindepraxis treu zu bleiben? Wie steht es mit unserem persönlichen Leben und Verhalten?

      • Auf welcher Basis bestimmen wir, was im Neuen Testament maßgebend und zeitlos ist und was dagegen nur nebensächlich ist und mit der Kultur des 1. Jahrhunderts zusammenhängt.