Frank Viola

Ur-Gemeinde


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heute kennen, nicht nur wirkungslos geworden, sondern auch biblisch nicht mehr begründbar ist. Deshalb halten sie es für einen Fehler, die gegenwärtige Kirche bloß reformieren zu wollen, liegt doch das ursächliche Problem – nach ihrer Überzeugung – in der Struktur der Kirche selbst.

      Zu diesem beunruhigenden Ergebnis bin auch ich vor nunmehr zwanzig Jahren gekommen, als nur wenige wagten, die Praktiken der institutionellen Kirche zu hinterfragen. Damals kam ich mir ziemlich einsam vor. An manchen Tagen fragte ich mich sogar, ob ich den Verstand verloren hatte.

      Eine Revolution jenseits von Erneuerung und Reformen braut sich zusammen: Sie hat die Axt an die Wurzel gelegt und zielt auf die Praxis und Theologie der Kirche selbst. Vielleicht hilft ein Beispiel aus der Geschichte, dieses Phänomen zu erklären.

      Jahrhundertelang suchten westliche Astronomen die Bewegung der Sterne und Planeten zu verstehen. Doch so sehr sie sich auch mühten, ihre Berechnungen anhand der ihnen zur Verfügung stehenden Daten wollten einfach nicht aufgehen. Der Grund dafür war denkbar einfach: Ihre Voraussetzungen waren falsch, denn sie gingen von einem geozentrischen Weltbild aus. Sie glaubten, die Sterne und Planeten drehten sich um eine stationäre Erde. Auf diesem Weltbild gründeten sie ihr gesamtes Verständnis vom Universum.

      In ähnlicher Absicht stellt dieses Buch den beherzten Versuch dar, der Kirche einen Paradigmenwechsel nahezulegen, eine Veränderung, die von der neutestamentlichen Vorstellung ausgeht, dass die Gemeinde Jesu Christi einen geistlichen Organismus und keine institutionelle Organisation darstellt.

      Ich kenne wenige Christen, die das bestreiten würden. Ich bin sogar unzähligen Christen begegnet, die bekennen: „Die Gemeinde ist ein Organismus, keine Organisation.“ Trotz dieser Beteuerung bleiben sie weiter treue Mitglieder in einer Kirche, die nach dem Vorbild eines Wirtschaftsunternehmens organisiert ist.

      In diesem Buch werde ich zugespitzt fragen: Was bedeutet eigentlich die Feststellung, dass „die Gemeinde ein Organismus ist“? Wie funktioniert eine solche „organische Gemeinde“ im einundzwanzigsten Jahrhundert?

      Die Begriffe „neutestamentliche Gemeinde“, „Urgemeinde“ und „Gemeinde des ersten Jahrhunderts“ verwende ich in meinem Buch durchweg synonym. Diese Bezeichnungen beziehen sich auf die frühe Kirche des ersten Jahrhunderts, wie wir sie aus dem Neuen Testament kennen.

      Ich spreche aber auch jene Gemeinden an, die man allgemein als „institutionelle Kirchen bzw. Gemeinden“ bezeichnet. Ich hätte sie auch „etablierte Kirchen“, „traditionelle Kirchen“, „Establishment-Kirchen“, „Volks- und Landeskirchen“, „Episkopalkirchen“, „zeitgemäße Kirchen“, „Zuhörer- und Zuschauer-Kirchen“, „sakrale-Gebäude-Kirchen“, „Freikirchen“, „überlieferte Kirchen“ oder „programmgesteuerte Kirchen“ nennen können. Das sind jedoch unzulängliche Begriffe. Meines Erachtens trifft der Ausdruck „institutionelle Kirche“ am ehesten, was die meisten Kirchen heutzutage ausmacht.

      Beachten Sie bitte: Wenn ich „institutionelle Kirche“ sage, dann meine ich damit nicht Gottes Volk! Ich spreche dann vielmehr von einem System. Die „institutionelle Kirche“ ist ein System; sie ist eine Art und Weise, wie „Gemeinde“ gelebt wird. Nicht die Menschen, die dorthin gehen, sind gemeint. Diese Unterscheidung ist sehr wichtig und darf bei der Lektüre dieses Buches nicht vergessen werden.

      Ein Soziologe mag mit meinem Gebrauch des Wortes „institutionell“ nicht einverstanden sein. Soziologisch gesehen stellt jede Institution ein Muster menschlicher Aktivität dar. Dazu gehört selbst eine Begrüßung mit Handschlag oder Umarmung. Ich räume gerne ein, dass alle Kirchen (selbst organische) einige solcher „Konventionen“ praktizieren.

      Ich verwende die Bezeichnung „institutionelle Kirche“ dagegen in einem viel engeren Sinn: Ich meine damit jene Kirchen und Gemeinden, deren Organisation unabhängig von ihren Mitgliedern funktioniert. Solche Kirchen operieren aufgrund von Programmen und Ritualen und nicht von Beziehungen. Es sind durchstrukturierte Kirchen, in deren Mittelpunkt ein sakrales Gebäude steht und die von berufenen Fachkräften (den „Geistlichen“, „Pfarrern“, „Pastoren“ und dem „Klerus“) geleitet und von ehrenamtlichen Helfern (den Laien) unterstützt werden. Sie benötigen Personal, Gebäude, Gehälter und eine Verwaltung. In einer typischen institutionellen Kirche besuchen die Teilnehmer ein- oder zweimal die Woche einen Gottesdienst oder eine andere Veranstaltung und betrachten dabei eine religiöse Darbietung, die oft von einer einzigen Person ausgerichtet wird (einem Pastor oder Ältesten). Danach kehren sie nach Hause zurück zu ihren individuellen christlichen Existenzen.

      Wenn ich dagegen von „organischer Gemeinde“ rede, meine ich damit jene Gemeinden, die sich an den gleichen geistlichen Grundsätzen ausrichten wie die Gemeinden, von denen wir im Neuen Testament lesen. Die neutestamentliche Gemeinde war die allererste organische Gemeinde, von der sich alle anderen organischen Gemeinden herleiten. Den Ausdruck „organische Gemeinde“ verdanke ich dem Engländer T. Austin-Sparks. Er schreibt:

      Mein Freund Hal Miller führt auf brillante Weise diesen Gedanken weiter aus, indem er anhand einer einfachen Metapher die institutionelle Kirche mit der organischen Gemeinde vergleicht:

      Institutionelle Kirchen sind Eisenbahnen vergleichbar: Sie fahren in eine bestimmte Richtung und behalten diese Richtung auch dann bei, wenn viele Hände versuchen sie anzuhalten. Wie bei Zügen ist in institutionellen Kirchen eine Richtungsänderung kaum möglich. Nur mithilfe einer Weiche wäre ein Wechsel auf ein anderes Gleis möglich. Andernfalls ist der Zug gezwungen, dem Gleis, auf dem er sich befindet, zu folgen. Die Passagiere können nur hoffen, in den richtigen Zug gestiegen und die gewünschte Richtung eingeschlagen zu haben.

      Organische Gemeinden wie die im Neuen Testament sind anders. Sie gleichen nicht einem Zug, sondern einer Wandergruppe. Reisegruppen zu Fuß sind wesentlich langsamer als Züge unterwegs; sie legen nur wenige Kilometer in der Stunde zurück. Allerdings können sie ihre Richtung jederzeit ändern. Wichtiger noch: Sie nehmen ihre Umwelt wahr, können auf ihren Herrn hören und jederzeit aufeinander achten.

      Wie alte Eisenbahnen sind institutionelle Kirchen leicht bemerkbar. Ihr Rauch und Lärm sind unverkennbar. Organische Gemeinden sind etwas subtiler. Weder kündigen sie durch Blinklichter ihr Kommen schon von Ferne an, noch pfeifen sie an jedem Bahnübergang. Daher glauben viele Menschen, diese neutestamentliche Art von Gemeinde sei längst ausgestorben. Weit gefehlt! Organische Gemeinden finden sich überall. Ich selbst bin schon seit nunmehr zwanzig Jahren Teil einer solchen Gemeinde. Immer noch gibt es Gemeinschaften wie unsere, die still ihres Weges gehen und keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Wir sind einfach Pilger auf einem gemeinsamen Weg.

      Haben Sie erst einmal gelernt, organische Gemeinden zu erkennen, werden Sie sofort merken: Da versammeln sich Menschen wie im Neuen Testament – als Leib Christi, als Familie und als Braut, aber nicht als Institutionen.

      Organische Gemeinden sind Gruppen von Menschen,