Martin Heipertz

Von einem, der auszog, einen Staat aufzubauen


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Tradition des Balkans, die vor allem für frisches, herzhaftes und reichhaltiges Essen mit gegrilltem Fleisch stand. Dazu floß das gute, kühle Peja-Beer aus der deutschen Brauanlage in Strömen, für gewöhnlich gefolgt vom ortsüblichen Raki, wie die Albaner den Slibowitz nennen.

      Zwischen Serben und Albanern herrschte die gleiche große Nähe in den Bereichen der Gaumenfreuden und der Musik wie zwischen Griechen und Türken oder zwischen Iren und Engländern, Bayern und Tirolern, Israelis und Libanesen. Natürlich würde jede Seite diesen Schluß weit von sich weisen, aber nach einem ausgiebigen Gastmahl in einem serbischen Restaurant und tags darauf einem ähnlichen Erlebnis in einem traditionellen albanischen Betrieb mit Tanz und Musik wären Verwandtschaft und Freundschaft dieser Völker jedem Außenstehenden plausibler erschienen als ihre erbitterte Feindschaft. Nur Schweinefleisch gab es bei den Albanern keines. In der Regel waren sie keine strengen Moslems, aber zumindest diese Vorschrift des Propheten befolgten sie penibel.

      Später fuhren wir daher manchmal in die neben Priština gelegene serbische Enklave Gračanica. Dort konnte man erstens das bedeutende Frauenkloster besuchen, das mitsamt seinen Fresken von einer Handvoll junger, blonder, schwedischer KFOR-Hünen mit Knabengesichtern bewacht wurde. Zweitens konnte man in einem der wenigen, aber grundsoliden Straßenlokale Schweinefleisch essen und beim Metzger eine Wurst kaufen.

      In dem Kloster war auf einem der bis über das sechzehnte Jahrhundert hinaus zurückzudatierenden Fresken die Höllenfahrt der Sünder dargestellt, und diese waren anhand ihrer Tracht gut als Türken zu erkennen. Den Abbildern der Heiligen hatten die Nachfahren der türkischen Gefolgsleute in einem späteren Zeitalter die Augen ausgekratzt, und ich war erzürnt über die zahlreichen Spuren des Vandalismus auch aus jüngster Zeit, die in der Kirche zu sehen waren.

      Zu unserer Tischrunde an jenem Anfangsabend in Priština, da ich noch unvoreingenommen war, gehörten neben einem farblosen Herrn von der Kommission eine Europa-Abgeordnete der deutschen Grünen sowie ihr Lebensgefährte, ein pensionierter Oberstleutnant der Bundeswehr, Panzertruppe. Beide verfügten über Balkan-Erfahrung zuhauf und erzählten mir als Neuling gerne davon.

      »Ich war damals im Krieg die verteidigungspolitische Sprecherin der Grünen«, hub die Abgeordnete an. »Das heißt, ich durfte für Joschka Fischer die Kastanien aus dem Feuer holen. Stellen Sie sich vor – die Partei der Friedensbewegung zieht in den Krieg! Nein, das können Sie sich gar nicht vorstellen, was ich zu hören bekam. Aber wir sahen, daß die Serben 1999 drauf und dran waren, hier im Kosovo einen Völkermord an den Albanern zu begehen. Hunderttausende Flüchtlinge …«

      »Die meisten von ihnen aber erst in der Zuspitzung durch das Bombardement«, warf ich ein. »Und diese Operation Hufeisen der Serben sei ja bis heute fraglich, habe ich gelesen. Jedenfalls war ich für die deutsche Innenpolitik seinerzeit froh, daß es die Grünen traf und im nachhinein fast erleichtert, daß wir Konservativen im Jahr zuvor die Wahl verloren hatten. Denn dieser Krieg mit deutscher Beteiligung unter einer bürgerlichen Regierung – da wären Sie doch über uns hergefallen, das hätte Lichterketten von Flensburg bis München gegeben. Die Ostermärsche und das alles, Nato-Doppelbeschluß inklusive, wären wie ein laues Lüftchen erschienen im Vergleich zu dem Budenzauber, den Sie entfacht hätten, wenn wir das an Ihrer Stelle hätten machen müssen.«

      »Allerdings«, bestätigte sie. »So aber hatten wir den Schlamassel am Hals. ›Nie wieder Auschwitz‹, hat der Joschka immer gesagt. Wir mußten Milošević stoppen. Ich sage Ihnen, der war drauf und dran, einen Genozid zu begehen. Vor unseren Augen. An der Schwelle zum neuen Jahrtausend! Und das nach diesem fürchterlichen Jahrhundert, dessen Lektionen wir doch gelernt zu haben glaubten. Nein, wir mußten das tun; es gab überhaupt keine Alternative damals.«

      »Sehen Sie mal«, warf der ehemalige Oberstleutnant ein, ein drahtiger Bartträger, wie ich sie bei der Panzertruppe öfter erlebt habe. »Ich lag mit meinen Leopard-Panzern damals bei Tetovo. Das halbe Bataillon hatten wir im Einsatz, um die Serben von den Mazedoniern fernzuhalten. Freischärler auf beiden Seiten. Die haben sich über unsere Köpfe hinweg mit Mörsern beschossen, und zwar ordentlich. Ich kann nur bestätigen, das war eine Situation damals, die hätte in Nullkommanichts zum Flächenbrand geführt. Es ging um alles oder nichts, und die Serben haben gesagt, jetzt machen wir ein für allemal Schluß und räumen hier auf, daß eine Ruhe ist mit dem ganzen Gesocks. So haben die gedacht, und die hätten hier überall ein Blutbad angerichtet, das können Sie mir glauben, wenn wir sie gelassen hätten.«

      »Auschwitz ist ja auch nicht durch den Pazifismus beendet worden«, räumte ich ein. »Aber damals wie heute radikalisieren sich Kriegsparteien gegenseitig. Wir sind uns einig, daß die ganze Friedensduselei von solchen Gewalttätern nur ausgelacht wird, und ich bin froh, daß das sogar die Grünen dann erkannt haben. Aber ich interpretiere die damalige Lage unvoreingenommen so, daß wir gegen die Serben zu Felde gezogen sind, weil sie die Oberhand hatten, und nicht, weil die anderen sonderlich bessere Ziele verfolgt hätten.«

      »Ich weiß nicht«, meinte die Abgeordnete. »Die Serben, das waren schon ganz klar die Bösen.«

      »So wie wir früher«, lachte der Panzermann. »Einer ist doch immer an allem schuld.«

      »Aber genau deshalb finde ich das zu einfach«, hielt ich dagegen. »Wie hat man sich das denn vorgestellt – die Serben aus der Luft mit Bomben zum Halten zu bringen – und dann?«

      »Dann sind wir mit Bodentruppen eingerückt, von allen Seiten, und haben sie aus dem Kosovo herausgeworfen«, bestätigte der Panzermann.

      »Ja, aber dann? Das, was wir jetzt hier erleben, diese Staatsgründung eines unabhängigen Kosovos – war das die Idee? Wie hat man sich das denn vorgestellt? Mit welchem Ziel und mit welcher Strategie ist man denn hier überhaupt hineingegangen?«

      »Das war nicht das Ziel«, sagte die Abgeordnete. »Ich würde sagen, wir hatten überhaupt keine Strategie. Wenn Sie jetzt sagen, daß die Loslösung des Kosovos eine Folge des Krieges von 1999 sei, dann würde ich widersprechen. Das hätte alles auch ganz anders kommen können. Wir wollten einen Genozid verhindern, und das ist uns gelungen, und die Serben zurück an den Verhandlungstisch zwingen, und das ist uns auch gelungen. Und was regen Sie sich überhaupt auf. Das waren doch Ihr Kohl und Ihr Genscher, die ein paar Jahre zuvor die Sezession von Kroatien und Slowenien betrieben haben. Da können wir ja auch einmal darüber sprechen – wer ist denn schuld daran, daß das gute, alte Jugoslawien zerfallen ist wie ein fauler Apfel, wenn der Herbstwind kommt? Die alten Bundesgenossen und Waffenbrüder, die nimmt man gegen die Serben in Schutz, aber den Rest, die Moslems und Kümmeltürken, die überläßt man ihnen, damit man sich nicht selber damit herumschlagen muß. Das war doch die Haltung in Bonn die ganzen neunziger Jahre hindurch! Die Leute hier wurden jahrelang unterdrückt und unterjocht und gequält, und das hat überhaupt niemanden von euch interessiert! Bis es dann geknallt hat und die UÇK mal losgelegt hat.«

      »Ich will keine Partei ergreifen. Keiner hat recht. Aber zurück zur Gegenwart. Das, was da morgen stattfindet, die Gründung der sogenannten Republik Kosova, das war vielleicht nicht die zwingende Folge von 1999 – aber umgekehrt stimmen Sie mir zu, daß unser kleiner Krieg von 1999 die notwendige Voraussetzung war, oder nicht? Ich denke allerdings, daß diese Weichenstellung ziemlich direkt auf die Sezession zulief, denn die Verhandlungen wurden doch von den Albanern in dem Wissen geführt, daß sie im Falle des Scheiterns die volle Unabhängigkeit erlangen könnten. Die Serben haben Krieg geführt, weil sie doch faktisch mit dem Rücken zur Wand standen. Da haben sie alles auf eine Karte gesetzt und verloren. Und alles, was ich eigentlich sagen will, ist, daß die Politik jedenfalls völlig im Dunkeln tappt, wenn sie solche weitreichenden Entscheidungen trifft wie 1999. Man kann es ja den Willen der Geschichte nennen, der sich hier vollzieht und von deren vorbeiziehenden Mantel Ihr Parteivorsitzender ja damals auch so theatralisch gesprochen hat. Aber wenn das stimmt, dann müssen Sie mir doch zugestehen, daß die Steuerleute in der Regierung praktisch im Blindflug von einer Entscheidung in die nächste stolpern, und am Ende das herauskommt, was sich im Rückblick mit gewisser Notwendigkeit einfach vollzogen hat, weil es so kommen mußte und nicht, weil irgendein Stratege es als die bessere Option erkannt und planmäßig verfolgt hat. Es war schlichtweg die einzige von Tausenden Alternativen, die vor der Geschichte Bestand hatte, und alles andere ist mit zwingender Logik im Sande verlaufen.