Martin Heipertz

Von einem, der auszog, einen Staat aufzubauen


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eines Naturereignisses vollzogen hat. Jeder kleine Panzerschütze vor Tetovo hat mehr Anteil an dem morgigen Ergebnis als Sie mit Ihren Pressemeldungen und Sonntagsreden von Auschwitz und Völkerverständigung, Demokratie und dem ganzen Zinnober. Bewahrt er die Nerven oder nicht; schießt er zurück oder nicht, wenn eine Mörsergranate zu kurz gezielt ist und bei ihm niedergeht – das sind die entscheidenden Fragen, nicht die morgendliche Lagebesprechung da bei Ihnen in Bonn oder Berlin.«

      »Was für ein Unfug! Wir hätten doch damals auch entscheiden können, nichts zu tun, so wie wir beim zweiten Irak-Krieg ja auch nicht mitgemacht haben. Wir hatten die Wahl, das heißt die freie Entscheidung, und damit die Verantwortung, diese Entscheidung möglichst richtig zu treffen. Deswegen geht man doch überhaupt in die Politik!«

      »Sehen Sie«, meinte ich. »Genau das halte ich für eine Illusion. Überhaupt keine Wahl hatten Sie. Ihr Joschka und Sie, sie kamen an jeweils Ihre Stelle, und Sie auch mit Ihren Leos da in Tetovo, Herr Oberstleutnant, weil Sie mit Ihrer Einstellung und Ihren Ressourcen in just diesem Moment dahin gehörten, um den Willen der Geschichte zu erfüllen. Oder wenn man religiös ist, dann gar den Willen der göttlichen Vorsehung, die ja vielleicht doch einen Plan hat, wohin das alles laufen soll mit den Menschen und Europa und dem neuen Jahrtausend. Nennen Sie das schizophren, aber ich bin im Tagesgeschäft schon immer sozusagen vorsichtig pessimistisch und gleichzeitig voller Zuversicht aufs Große, Ganze. Ich rechne mit dem Schlimmsten und hoffe auf das Beste. Aber der freie Willen in der Politik, wenn ich das zusammenfassen darf, ist doch wohl auf die Ergründung und möglichst zielgenaue Umsetzung dessen beschränkt, was von höherer Warte aus richtig und wahr ist und oftmals ohnehin vorbestimmt ist. Und wer sich dem entgegenstellt, geht unter. Punkt. Wie der Kommunismus in den 1980er Jahren, angefangen in Polen. Oder wie Milošević dann zehn Jahre später.«

      Die Abgeordnete und ihr Oberstleutnant schüttelten fassungslos die Köpfe. Eine peinliche Stille entstand. Da hatte ich mich ja schön in die Nesseln gesetzt an meinem ersten Abend in neuer Umgebung. Warum konnte ich auch nie meinen Mund halten.

      »Na, darauf prost«, warf lachend die gute Veronika Winzmann ein. »Wir wollen uns doch der Illusion nicht ganz begeben, daß der morgige Tag das Ergebnis einer bewußt gewollten und begrüßten Entwicklung sei. Sonst gäbe es doch gar nichts zu feiern, gar nichts, worauf man stolz sein könnte. Dann müßte man sich ja darauf beschränken, das alles nur zu beobachten und tiefschürfend zu ergründen.«

      »Eben«, quittierte ich, »ich fürchte, so sehe ich das. Und trotzdem prost. Bei Tageslicht nimmt es sich gewiß wieder anders aus.«

      »Na, das hoffe ich«, schloß die gute Veronika. »Sonst könnten wir ja gleich einpacken mit unserem ICO und später auch mit Eulex.«

      »Aber nein«, sagte ich, bevor ich ging. »Die Schauspieler sind wichtig für das Stück. Jede einzelne Rolle muß gut gespielt werden. Auch in einer Farce. Aber man sollte sich nicht für den Regisseur halten, wenn man in Wahrheit doch nur seine vorgegebenen Sätze aufsagt. Gute Nacht allerseits.«

      Der Ablauf der feierlichen Unabhängigkeitserklärung am nächsten Tag war von der amerikanischen Botschafterin kontrolliert und von ihrem Stab minutiös geplant worden. Diese resolute Person wurde von allen nur mit ihrem Vornamen Tina genannt und war zweifelsohne die mächtigste Instanz in dem an Instanzen nicht armen Kosovo. Das, was Tina wollte oder nicht wollte, wurde flüsternd und mit Ehrfurcht zitiert und galt im Zweifel mehr als geschriebenes Recht. Als Statthalterin Amerikas nahm sie im Kosovo den Platz ein, den ihr die osmanische Tradition mit dem Beylerbey geschaffen hatte, dem Herrn der Herren, Provinzgouverneur des Großwesirs.

      Jene berühmte Tina lernte ich bereits einige Wochen nach der Unabhängigkeitserklärung des Kosovos bei einem Empfang kennen. Sie war in den späten Vierzigern, ihre Statur klein und untersetzt. Alles an ihr trug einen Ton von Grau; vor allem die Haut, die militärisch kurz geschorenen Haare und die Augen mit dem Blick eines Greifvogels. Ihr Händedruck war kräftig, und ihre ruhige, aber in besonderen Momenten auch zu lauter Dosierung fähige Stimme hatte ein männliches Timbre. Alles an ihr strahlte Schnelligkeit und Härte aus. Als Ehefrau und Mutter konnte ich sie mir beim besten Willen nicht vorstellen.

      Tina erzählte mir bei dem Empfang, als wir rückblickend über den kosovarischen Unabhängigkeitstag sprachen, daß der von den Amerikanern unterstützte Regierungschef und ehemalige Rebellenführer Hashim Thaci, den alle nur die Schlange nannten, seine eigenen Vorstellungen zum Ablauf der Feierlichkeiten gehegt hatte: Ein pathetisches Volksbekunden unter freiem Himmel und martialische Elemente waren vorgesehen, Siegesparade der ehemaligen UÇK und so weiter. Das Parlament sollte dabei eine untergeordnete Rolle spielen und die nicht hinter Thacis Partei PDK (Demokratische Partei des Kosovo) stehenden Clans gar nicht erst eingeladen werden. Dies betraf insbesondere den Rugova-Stamm, der mit dem auch noch nach seinem Tode in weiten Teilen der Bevölkerung verehrten Ibrahim Rugova die gemäßigte, zivile Strömung der LDK (Demokratische Liga des Kosovo) unter den Kosovo-Albanern repräsentierte, während der aus der Guerillatruppe UÇK hervorgegangene Thaci für die radikale, militärische Freiheitsbewegung stand. Schnell hatte Tina jedoch der Schlange klargemacht, wie die Unabhängigkeitsfeier vonstatten zu gehen habe: zivil, mitsamt der Familie Rugova und ausschließlich im Parlament – und exakt so vollzog sie sich auch.

      Der Vormittag des 17. Februar 2008 begann für mich mit einem ausgiebigen Spaziergang durch die von freundlichem Sonnenschein erhellten Straßen Prištinas. Die Stadt war für den großen Moment der Freiheit bereit und voller Erwartung. In der zentralen Fußgängerzone, die erst vor kurzem von der Uno-Verwaltung und gegen erhebliche Widerstände auf einer vormals stark frequentierten Verkehrsstraße eingerichtet worden war, begegnete ich einem großen Marsch von UÇK-Veteranen. Ich war beeindruckt von der ruhigen Gefaßtheit, mit der die Männer, darunter viele Ältere, überwiegend schweigsam und in Räuberzivil in ungeordneten Sechserreihen über den Boulevard schritten. Das waren herbe Gesichter, zerfurcht von tiefen Falten, doch mit kleinen, schwarzen Augen, die wie Kohlenstücke glühten. Viele der Männer hatten sich untergehakt, und manchmal hob ein Sprechchor an, der verhalten aber nachdrücklich skandierte: »UÇK! UÇK!«.

      Einige trugen ihre Barette aus der Kriegszeit, Waffen jedoch waren nicht zu sehen. Das fast wie ein Schweigemarsch anmutende Gedenken an die unerhörten Opfer, die für diesen Tag hatten gebracht werden müssen, stand in feierlichem und erhabenem Gegensatz zu dem überbordenden und bisweilen wenig authentischen Enthusiasmus der Jugend vom Vorabend. Auch die nicht dem Marsch zugehörigen Passanten befanden sich in gehobener, aber nur verhalten fröhlicher Stimmung. Lärm und Trubel wären deplaziert gewesen; nur an einigen Stellen und in Cafés, die schon zu Geselligkeit luden, war die Atmosphäre eher ausgelassen.

      Konnte ich nun als Befreier durch die Stadt flanieren und mir hübsche Mädchen unterhaken wie ein Amerikaner im Herbst 1944 in Paris? Das konnte ich nicht. Die Albaner feierten für sich, und meine Rolle war die eines Beobachters. Einer Verabredung vom Vorabend folgend, fand ich mich in der Vertretung der EU-Kommission ein, die den modernsten und repräsentativsten Hochbau im Zentrum Prištinas belegt hatte. Wir waren einige Internationale und Ortskräfte und verfolgten gemeinsam im Fernsehen die Debatte und Abstimmungen, die im Plenum des Parlaments stattfanden. Als sich schließlich ausnahmslos alle dort anwesenden Abgeordneten erhoben und applaudierten, denn die Vertreter der serbischen Minderheit boykottierten die Sitzung, fielen sich bei uns die Ortskräfte in die Arme und vergossen Tränen der Freude. Dies war der seit langem sehnlich erwartete Moment der Unabhängigkeitserklärung. Wir Macchiato-Diplomaten gratulierten mit gewisser Zurückhaltung und schenkten Sekt aus. Zum einen sahen wir schon die erheblichen rechtlichen, ökonomischen und sicherheitspolitischen Probleme, mit denen wir uns zu befassen haben würden, zum anderen konnten wir mangels Übersetzung weder die Reden noch die Stimmung im Plenarsaal aufgreifen. Statt dessen führte ich am Rande der Übertragung erste Fachgespräche über wirtschaftspolitische Fragen mit den Kollegen von der Kommission und ließ mich ansatzweise in die aus ihrer Sicht wesentlichen Themenfelder meiner Tätigkeit einweisen.

      Gegen Mittag verabschiedete ich mich, da ich mich wieder auf die Straße begeben und unter das Volk mischen wollte. Das war mittlerweile nun doch froh beim Feiern, und anders als am Vorabend feierten beiderlei Geschlechter zusammen. Vielleicht war das der Grund, weshalb die Festivität authentischer, fröhlicher und friedlicher