Adriana Stern

Hannah und die Anderen


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      Die Telefonnummer wurde dann noch einmal in großen roten Zahlen wiederholt. Hannah fand nichts zu schreiben. Na ja, dachte sie, ich habe sowieso kein Geld mehr. Die Telefonkarte hatte sie auch in der Zelle vergessen. Verzweiflung stieg langsam in ihr auf und sie spürte den Kloß im Hals so deutlich, dass sie glaubte, daran zu ersticken.

      Die Tür des Ladens öffnete sich und Hannah trat erschrocken einen Schritt zur Seite. »Tschüß, Janne, dann bis übermorgen«, hörte sie eine Frauenstimme direkt vor sich und ehe sie richtig mitbekam, was geschah, lag sie schon auf dem Boden.

      »Oh Scheiße, das tut mir Leid, ich hab dich überhaupt nicht gesehen. Hast du dir wehgetan?« Ein besorgtes Gesicht beugte sich über sie. »Komm, ich helfe dir aufstehen«, sagte die Stimme, und eine Hand wurde ihr entgegengestreckt.

      »Geht schon«, murmelte Hannah ohne aufzublicken.

      »Mensch, du bist ja total nass«, sagte die Frau. »Willst du nicht einen Moment reinkommen?«

      Hannah nickte. Ihr fiel sowieso nichts Besseres ein, außerdem spürte sie plötzlich, dass ihr Knie wehtat und ihr bei dem Sturz offensichtlich doch etwas passiert war.

      »Hey«, hörte sie eine andere Stimme, die von Janne, wie sie später erfuhr, »ich hätte nicht gedacht, dass ich dich so schnell wiedersehe.« Und dann, nach einer Pause: »Was ist denn passiert?«

      »Ich habe vor der Tür ein Mädchen umgerannt. Ich glaube, sie hat sich verletzt«, antwortete die Frau. »Ich heiße übrigens Marissa, es tut mir echt Leid. Kann ich irgendwas tun? Setz dich doch erst mal. Dein Knie blutet ja. Scheiße«, sagte sie noch einmal, und Hannah setzte sich auf den angebotenen Stuhl.

      »Sag mal, wohnst du hier irgendwo in der Nähe?«, fragte Janne, die hinter dem Ladentisch hervorgekommen war. »Du bist ja ganz nass. Ich könnte dich nach Hause bringen.«

      Hannah riss erschrocken die Augen auf. Sie schrie es fast. »Nein, nein, bloß nicht. Ich … ich komm schon alleine klar. Lasst mich doch einfach in Ruhe.« Entsetzt über ihren Ausbruch hielt Hannah sich unwillkürlich den Mund zu.

      Janne und Marissa sahen sich an. »Ich bring dir ’nen Kaffee. Oder willst du lieber Tee?«, fragte Janne und sah Hannah nun direkt an.

      Sie sieht irgendwie nett aus, dachte Hannah erleichtert und sagte: »Ein Kaffee wäre toll.«

      »Meinst du, ich kann jetzt gehen?«, fragte Marissa und Janne nickte.

      »Na klar, kein Problem«, und mit einem Ich-schaff-das-schon-Blick wies Janne zur Ladentür.

      Dann saßen sie sich schweigend gegenüber, und Hannah fühlte sich immer unbehaglicher.

      »Was ist denn das hier für ein Laden?«, fragte sie in die Stille, als sie den ersten Schluck Kaffee getrunken hatte.

      »Das ist ein Frauenbuchladen.«

      »Wie?«, meinte Hannah und sah Janne neugierig an.

      »Na ja«, begann Janne, »hier kommen nur Frauen hin und kaufen Bücher, die von Frauen geschrieben sind. Männer dürfen hier nicht rein, und Bücher, die von Männern geschrieben sind, verkaufen wir auch nicht.«

      »Und wieso nicht?«, fragte Hannah weiter, froh, dass Janne ihren Ausbruch offensichtlich gar nicht richtig mitbekommen hatte.

      »Viele Frauen haben festgestellt, dass sie sich an Orten, wo keine Männer sind, oft wohler fühlen und dort ihre Ruhe haben. Und dann sind Frauenzentren entstanden und eben auch Frauenbuchläden.«

      »Und die Mädchen?« Hannah entspannte sich etwas. Ihr gefiel der warme, gemütliche Buchladen. Und der Kaffee schmeckte gut.

      »Mädchenbücher haben wir auch. Und ein paar Häuserblocks weiter gibt es ein Mädchencafé.«

      »Draußen hängt ein Plakat«, meinte Hannah und musterte Janne vorsichtig. »Da steht was drauf von ’nem Mädchenhaus.«

      Janne nickte zustimmend und setze sich auf einen zweiten Stuhl. Sie steckte sich eine Zigarette an. »Willst du auch eine?«

      Hannah musste lächeln. »Ich bin noch keine sechzehn«, sagte sie.

      »Na und, manche Mädchen rauchen schon mit zehn, und du sitzt schließlich nicht hier, weil ich dich erziehen soll, oder?«

      »Nee, natürlich nicht. Ich lass mich sowieso von niemand erziehen.« Hannah sah ein wenig kampflustig aus.

      »Interessierst du dich für das Mädchenhaus?«, fragte Janne.

      »Ist doch für Mädchen, oder?«, konterte Hannah.

      »Ja, ist für Mädchen.« Janne schwieg eine Weile, dann sagte sie: »Das wäre klasse gewesen, wenn es so was schon vor zehn Jahren gegeben hätte. Einen Ort, wo man hinkann, wenn man es zu Hause nicht mehr aushält.«

      »Wieso, sind deine Eltern gemein zu dir gewesen?«

      »Ich finde«, sagte Janne, »für die Aufnahme im Mädchenhaus hätte es auf jeden Fall gereicht.«

      Hannah hatte mehr als interessiert zugehört. Wer weiß, Janne schien nicht zu den Erwachsenen zu gehören, die Mädchen sowieso nicht ernst nahmen. Vielleicht konnte sie ihr sogar weiterhelfen.

      »Was muss denn zu Hause passiert sein, um ins Mädchenhaus zu kommen?« Hannahs Herz klopfte wild. Sie hoffte sehr, dass ihre Frage zwar nach Interesse, aber gleichzeitig wie beiläufig klang.

      Janne überlegte einen Moment, als müsste sie nach den richtigen Worten erst suchen. »Also«, sie zögerte, »Mädchen, die zu Hause geschlagen werden, können ins Mädchenhaus gehen. Auch, wenn Mädchen einfach Angst vor ihren Eltern haben und das nicht so richtig erklären können. Wenn die Eltern den Mädchen ständig alles verbieten und sie sich nie mit ihren Freundinnen und Freunden treffen dürfen oder nie raus dürfen am Wochenende in die Disco oder ins Jugendheim. Wenn sie zu Hause ständig oder überhaupt bestraft werden.«

      »Und«, fragte Hannah, »wie beweisen die Mädchen das dann?«

      »Also beweisen«, überlegte Janne, »beweisen müssen sie das nicht. Ist doch klar, dass kein Mädchen ohne Grund von zu Hause wegläuft. Nur Mädchen, denen es schlecht geht, kommen überhaupt auf die Idee, ins Mädchenhaus zu gehen.«

      Janne sah Hannah an. »Du kannst ruhig deine nassen Klamotten ausziehen und da drüben über die Heizung hängen. Ich glaube, vom Frauenflohmarkt letzte Woche steht da drüben noch eine große Kleiderkiste. Vielleicht passt dir ja was davon.«

      Hannah sah Janne überrascht an. »Du brauchst überhaupt nicht zu denken, mit mir wär irgendwie was. Ich hab bloß grade keine Lust, nach Hause zu gehen. Sonst nix.«

      »Ist okay«, sagte Janne. »Ich dachte nur, vielleicht schmeckt dir der Kaffee besser, wenn du was Trockenes anhast. Die Sachen liegen hier eh nur rum. Die gehören niemandem mehr. Sind auch ein paar Sachen von mir dabei. Die Hosen wären dir vielleicht einen Tick zu groß, aber sonst – ich bin nicht viel größer als du. Und ich würde mich freuen, wenn dir was davon gefällt.«

      »Wieso?«, wollte Hannah wissen.

      »Ich mag dich irgendwie. Ich glaube deswegen«, sagte Janne. Hannah musterte sie mit zweifelndem Blick und Janne schien es zu bemerken, denn sie fügte hinzu: »Ich finde es einfach gut, was du mich alles fragst. Es gefällt mir, wenn Mädchen ihren eigenen Kopf haben. Und genau so kommst du mir vor.«

      Janne sah auf, als eine Frau den Laden betrat. Fast entschuldigend sagte sie: »Meine Pause ist offensichtlich zu Ende. Du kannst einfach hier bleiben und dich umgucken, solange du willst. Dir noch Kaffee kochen. Und wie gesagt, die Kleiderkiste steht rechts in der kleinen Küche in der Ecke.«

      Janne begrüßte die Frau und setzte sich hinter den Ladentisch. Sie schien Hannah nicht mehr weiter zu beachten. Das war Hannah nur recht.

      Sie ging in die Küche, die einen gelben Boden hatte. Irgendjemand hatte Wellen in bestimmt zwanzig verschiedenen Blautönen an