Adriana Stern

Hannah und die Anderen


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und zwei lange, schmale, bis zur Decke reichende Regale, in denen sich Buchhaltungsordner und Leseexemplare stapelten.

      Janne bemerkte, dass sie den Computer noch nicht ausgemacht hatte, und die Hälfte der zu erledigenden Tagespost sprang sie regelrecht vorwurfsvoll an.

      »Immer mir muss so was passieren«, seufzte sie. Immer bin ich diejenige, der Hunde zulaufen oder Mädchen, die nicht wissen wohin, oder Migranten, die vor der Hetze durch Rechtsradikale in den Laden flüchten, so wie vor einem halben Jahr Lois. Komisch, dass den anderen so was nie zu passieren scheint. Sie werden mir meine Geschichten bald überhaupt nicht mehr glauben.

      Janne seufzte erneut und sah sich stirnrunzelnd in dem kleinen Büro um. Ihr fiel ihre Schulzeit wieder ein. Die Lehrer hatten auch immer geglaubt, sie hätte einfach nur eine sehr ausgeprägte Phantasie und einen besonderen Sinn für die originellsten Ausreden, wenn sie zu spät kam oder mal wieder die Hausaufgaben nicht gemacht hatte, was zugegebenermaßen ziemlich häufig vorgekommen war …

      In der hintersten Büroecke sah Janne die rote Plüschdecke fein säuberlich zusammengefaltet liegen. Sie nahm sie und ging zum Verkaufsraum zurück. Das Mädchen lag immer noch genauso da, und Janne sah mehr als besorgt zu ihr hinunter.

      Ich muss sie irgendwie wach kriegen. Ich kann sie unmöglich hier liegen lassen. Sie ist ja regelrecht umgefallen. Vielleicht ist sie krank und ich sollte eine Ärztin rufen.

      Ihr fiel ein, dass sie es in alten Filmen immer mit Riechsalz lösten, wenn eine Frau in Ohnmacht gefallen war. Und dass überhaupt in allen Filmen ausschließlich Frauen in Ohnmacht fielen. Natürlich, dachte sie höhnisch.

      Sie hatte sich noch nie überlegt, was in diesem Riechsalz genau drin war, und das bereute sie jetzt. Ihre Interessen waren weiß Gott vielfältig, aber Riechsalz hatte bislang nicht dazugehört.

      Musik! Das ist es. Ich mach Musik. Irgendwas Lautes, Fetziges. Vielleicht Pur oder so. Das könnte ihr gefallen. Janne deckte das Mädchen zu und strich ihr leicht über die Hand. »Ich helfe dir. Du bist nicht allein. Hab keine Angst. Wie wär’s mit ein bisschen Musik?«

      Hatte sich im Gesicht des Mädchens nicht gerade etwas bewegt? Hatte sie nicht ganz schwach gelächelt? Janne war sich nicht sicher, aber sie redete weiter in der Hoffnung, dass die Jugendliche sie hörte.

      »Ich leg mal Pur auf. Kennst du die? Ist echt eine ziemlich coole Gruppe. Ich kenne viele Mädchen, die diese Musik total klasse finden. Eigentlich habe ich sie durch die Mädchen kennen gelernt und jetzt höre ich sie selber ständig.«

      Janne hatte mit ihr gesprochen, als wäre sie wach und würde ihr auf jede Frage ganz selbstverständlich antworten. Und weil sie immer noch das Gefühl hatte, wirklich von dem Mädchen gehört zu werden, sprach sie weiter.

      »Ich mache Kurse für Mädchen. Selbstbehauptungskurse nennen sich die. Dort spielen die Mädchen ganz viel und sie lernen zu sagen, was sie selbst wollen, und vor allem, sich gegen das zu wehren, was sie auf gar keinen Fall wollen. Und sie stellen viele Fragen. Eltern sind nämlich oft leider so bescheuert, dass Mädchen die für sie wirklich wichtigen Dinge von ihnen am allerwenigsten erfahren können.«

      Janne sah zu ihr hin. Das Mädchen schien eingeschlafen zu sein. So, wie sie jetzt dalag, wirkte es auf Janne nicht mehr beunruhigend.

      Vielleicht ist sie nur müde, überlegte sie. Wer weiß, wie lange sie schon unterwegs ist. Vielleicht hat sie seit Ewigkeiten weder geschlafen noch irgendwas gegessen. Und bestimmt hatte sie die ganze Zeit Angst.

      Janne hatte in dem Mädchen eine ungeheure Kraft wahrgenommen. Und sie hatte in den vergangenen vielleicht eineinhalb Stunden völlig unterschiedlich auf Janne gewirkt. Trotzig, mutig, kämpferisch, selbstbewusst, klug und humorvoll. Und gleichzeitig auch verzweifelt, ängstlich und sehr verletzt. Misstrauisch und klein. Unglaublich viele Facetten in so kurzer Zeit.

      Es ging etwas von ihr aus, das schwer zu beschreiben war. Eine Welle von Energie, die Janne tief berührte, sie ganz wach werden ließ und sehr aufmerksam.

      Janne hatte sie vom ersten Augenblick an gemocht. Schon wie sie mit Marissa zur Tür hereingekommen war und darauf bestanden hatte, dass alles mit ihr in Ordnung sei. Wo es doch offensichtlich alles andere als völlig in Ordnung war, was in dem Leben des Mädchens los sein musste. Diese Jugendliche beeindruckte Janne.

      Sie nahm sich vor, ihr zu helfen, zumindest so lange, bis sie an einem guten, sicheren Ort angekommen war, an dem sie sich geborgen fühlen konnte. Und an dem sie sie auch in guten Händen wusste. Bei Frauen, die dafür sorgten, dass sie nicht dahin zurückmusste, von wo sie offensichtlich und aus sicher schwer wiegenden Gründen geflohen war.

      Janne stand auf und wandte sich nach links, wo auf einem kleinen Tisch ein CD-Player stand. Sie drehte die Musik laut und setzte sich auf den Stuhl von vorher, ein wenig abseits, damit das Mädchen in Ruhe aufwachen konnte. Sie hatte mittlerweile jegliches Zeitgefühl verloren. Draußen war es schon eine Weile ziemlich dunkel, aber einige Läden hatten noch offen.

      Als Janne gerade beschlossen hatte, sich noch einen Kaffee aufzubrühen und das Mädchen einen Moment sich selbst zu überlassen, bewegte sich der rote Plüschberg. Also blieb sie sitzen und wartete gespannt ab.

      Das Mädchen setzte sich auf und sah sich langsam und vorsichtig um. Als sie Janne erblickte, nickte die ihr kurz zu und lächelte.

      Das Mädchen schien verwirrt und gleichzeitig darum bemüht, es sich nicht anmerken zu lassen. Janne beschloss, als Erste etwas zu sagen.

      »Hey, ich heiße Janne und arbeite hier im Buchladen. Du bist wohl vor etwa einer viertel Stunde eingeschlafen. Ich dachte, ich weck dich lieber, denn der Boden ist nicht sehr gemütlich.«

      Janne versuchte herauszufinden, wie ihre Worte gewirkt hatten. Der rote Plüschberg schwieg. Die beiden sahen einander an.

      »Magst du die Musik?«, fragte Janne und das Mädchen nickte.

      »Hm-hm«, murmelte sie zustimmend. »Pur finde ich gut. Die haben echt gute Texte. Jedenfalls viele Texte finde ich klasse.«

      »Ich wüsste gerne, wie du heißt, damit ich dich mit deinem Namen ansprechen kann.« Janne stutzte einen Moment und fügte dann hinzu: »Wenn du willst, natürlich nur.«

      Das Mädchen sah aus dem Fenster in den nachtdunklen Hinterhof. »Zu Hause nennen sie mich Hannelore«, sagte sie dann, ohne sich umzudrehen. »Aber in Wirklichkeit heiße ich Hannah«, fügte sie leise hinzu.

      Janne nickte. »Magst du deinen Namen?«

      »Ich glaube schon«, antwortete das Mädchen. Sie zögerte einen Moment. »Doch, Hannah ist ein schöner Name, irgendwie.«

      »Ich weiß nicht«, fing Janne das Gespräch neu an und fühlte sich unsicher. Sie wollte Hannah nicht zu nahe treten, sie mit ihren Fragen nicht erschrecken. Der Gedanke, dass Hannah fluchtartig den Buchladen verlassen könnte, war für sie mehr als beunruhigend. Hannah sah sie an. Fragend, ein wenig trotzig und mit einer Spur von Geringschätzigkeit.

      Bestimmt findet sie mich genauso bescheuert wie alle Erwachsenen, dachte Janne und der Gedanke machte sie traurig.

      »Hier den Laden, den wollte ich jetzt abschließen und nach Hause gehen. Ich will dich nicht auf die Straße setzen. Wenn du magst, kannst du erst mal mit mir kommen.« Halb fragend sah Janne sie an.

      »Und dann?«, wollte Hannah wissen.

      »Dann können wir zusammen überlegen, was du machen willst, und ich könnte dich beraten. Vielleicht«, setzte sie etwas zweifelnd hinzu.

      »Wieso willst du das?«

      »Weil wir zusammen vielleicht eine gute Idee haben. Falls du nichts Besseres vorhast, könntest du doch einfach erst mal mitkommen und dann weitersehen. Was meinst du?«

      »Und du rufst nicht die Bullen an?«

      »Nein, ich rufe nicht die Bullen an.«

      »Und bei mir zu Hause?«

      »Nein,