Adriana Stern

Hannah und die Anderen


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unverwandt ansahen. Janne konnte nicht sagen, wie lange. Es kam ihr vor wie viele endlos lange Minuten, in denen es zwischen ihnen so still war, dass das Knistern der Kerze fast wie ein Knall in die gespannte Lautlosigkeit fuhr. Janne wurde immer ruhiger in diesen Minuten, auch wenn sie nicht wagte, sich zu bewegen.

      Plötzlich setzte sich Hannah auf den Boden und fing leise an zu schluchzen. Das Weinen schüttelte ihren ganzen Oberkörper, obwohl es kaum zu hören war.

      Jannes Blick fiel auf ihren kleinen blauen Drachen auf dem Fensterbrett und sie riskierte es, sich ein wenig vorzubeugen, um ihn sich zu angeln. Es war eine Handspielpuppe aus weichem Nickistoff mit einem fröhlichen, frechen Gesicht und einem weit aufgesperrten lachenden Mund.

      Mit dem Drachen im Arm ließ sich Janne vorsichtig auf den Boden gleiten. Hannah rührte sich nicht von der Stelle. Sie hatte das Gesicht in den Händen vergraben, und doch wusste Janne instinktiv, dass sie genau beobachtet wurde. Sie ließ ihre linke Hand in die Handpuppe hineinschlüpfen und bewegte den lachenden Mund auf und zu.

       Liebes Tagebuch

       Sonntag, 11. September 1994

      Jetzt versuche ich schon bestimmt zwei Stunden lang einzuschlafen, aber es gelingt mir einfach nicht. Und ich muss doch morgen eine Mathe-Arbeit schreiben!

      Manchmal habe ich richtig Angst vor der Schule. In Mathe bin ich wirklich nicht gut. Ich verstehe ganz oft die Aufgaben nicht. Komischerweise schreibe ich dann trotzdem oft eine Eins. Die anderen in der Klasse denken, das ist ein blöder Trick von mir und dass ich in Wirklichkeit bloß nicht zugeben will, dass ich eine Streberin bin.

      Vielleicht haben sie ja Recht und ich bin schon dermaßen unehrlich und verlogen, dass ich nicht mal vor mir selbst zugeben kann, dass ich sehr wohl alles in Mathe und auch in den anderen Fächern kapiere.

      Die einzigen Fächer, die ich wirklich liebe und wo ich auch weiß, dass ich darin gut bin, sind Deutsch und Geschichte.

      Ach, gerade fällt mir wieder ein, dass ich ja ein Tagebuch an dich, Klara, schreiben wollte.

      Ach Klara, mit dem Tagebuchschreiben ist es viel, viel schwerer, als ich mir vorgestellt hatte. Ich habe vorhin gesehen, dass ich über zwei Monate gar nichts hier reingeschrieben habe, und wenn ich versuche, dir zu erzählen, was in der Zwischenzeit passiert ist, dann fällt mir überhaupt nichts mehr ein.

      Na ja, ich bin auf jeden Fall versetzt worden in die neunte Klasse. Und mein Klassenlehrer meint, dass ich locker das Abitur schaffen würde. Ich glaube manchmal, er ist der Einzige, der eine hohe Meinung von mir hat.

      Gestern habe ich mich ganz schrecklich mit Mama gestritten. Ich bin total ausgerastet, obwohl ich gar nicht mehr weiß, warum eigentlich.

      Und ich habe sie richtig angeschrien. Am Schluss hat sie sogar geweint und gesagt, dass sie sich von mir nicht länger fertig machen lässt, dass ich sie noch ins Grab bringen würde und dass ich mal warten soll, bis Papa nach Hause kommt. Ich habe ihr gesagt, dass es mir Leid tut, und es tut mir auch wirklich Leid, aber Mama wollte davon nichts wissen. Sie meinte, mit mir würde es noch mal ein schlimmes Ende nehmen und sie hätte es langsam aufgegeben, aus mir einen anständigen und ehrlichen Menschen machen zu wollen. Sie schlug mir vor, in eine Besserungsanstalt zu gehen, ein Heim für Schwererziehbare. Sie meinte, wenn ich ihr gegenüber noch einmal ausfallend würde, dann würde sie mich schon an den richtigen Ort bringen, und dass sie das mit Papa besprechen wird, sobald er nach Hause kommt.

      Als ich dann in meinem Zimmer saß, sah ich plötzlich, dass mein Kleid da unten voller Blut war, und ich bekam schreckliche Bauchkrämpfe. So schlimm, dass ich dachte, ich sterbe gleich.

       Heute Nacht war wieder mal die Hölle los. Um Mitternacht kam Papa mit der schwarzen Luxuslimousine nach Hause. Da wusste ich natürlich gleich, was die Uhr geschlagen hat! Oh, Mann, wie ich die hasse. Aber irgendwas war anders als sonst, wenn mich Papa spätabends abholt und ich mit ihm dann zur Burg fahre.

       Mama war so freundlich. Echt richtig unheimlich. So wie sie sonst nie zu mir ist. Vor allem nicht, wenn’s draußen dunkel ist. Sie hat mich in die Badewanne gesteckt und mich mit Duftöl gebadet. Ich dachte, jetzt ist sie völlig durchgeknallt. Also, das geht doch wohl echt zu weit. Dann hat sie mich regelrecht bestochen. Mit Cola. Ich dachte, ich glaub’s nicht. Plötzlich darf ich Cola trinken? Naja, okay, dachte ich mir, was soll’s. Sitz ich halt dumm rum in der Badewanne und trink dafür ne coole Cola. Der Deal ist schon okay, irgendwie.

       Na ja, und wie ich da so sitze in der Wanne und mich langsam an den Gestank gewöhne, wird mir plötzlich total anders. Ganz dumpf im Kopf und ich kann meine Arme und Beine überhaupt nicht mehr bewegen.

       Und meine Mutter sieht original aus wie ein Zombie. Und sie sagt immer: Sunny, Sunny – echt völlig bescheuert und ihre Stimme hallt so komisch in meinem Kopf.

       Wisst ihr was? Die hat mir irgendwas ins Glas getan. Echt jede Wette!

      Du, Klara, stell dir vor, ich weiß nicht mal mehr, was wir in den großen Ferien gemacht haben. Ich zermarter mir schon seit bestimmt einer halben Stunde das Hirn, aber es fällt mir nicht ein.

      Das ist vielleicht komisch. Ich sitze seit einer halben Stunde vor dem Tagebuch und es fällt mir immer weniger ein, was ich dir schreiben könnte. Mit der Angst vor der Mathe-Arbeit, das habe ich ja schon geschrieben. Und morgen wird die Arbeit bestimmt wieder erste Klasse, obwohl ich überhaupt nicht das Gefühl habe, dass ich etwas von Algebra verstanden habe.

      Ich wollte dir noch ein Geheimnis anvertrauen. Etwas, was ich mit niemandem besprechen kann. Ich glaube, weil ich mich viel zu sehr deswegen schäme.

      Also gut, ich traue mich jetzt. Aber bitte versprich mir, dass du mich nicht auslachen wirst und mir auch trotzdem weiter zuhörst, auch wenn das wirklich irre klingt und ich selbst auch schon das Gefühl habe, wirklich verrückt zu sein. Okay?

      Also – manchmal, wenn ich spazieren gehe und ganz alleine bin, dann höre ich plötzlich Stimmen. Obwohl da überhaupt niemand anderes ist. Die unterhalten sich richtig und lachen auch und manchmal schreien sie, und wenn ich mich umdrehe, dann ist niemand da. Aber ich, ich höre sie ganz deutlich. Irgendwo drin in mir, und manchmal reden die auch laut. Hört sich dann an wie Selbstgespräche. Ich habe Mama übrigens schon öfter heimlich dabei belauscht, wie die auch mit sich selbst gesprochen hat. Das klingt richtig gruselig. Die hat dann auch verschiedene Stimmen.

      Mein Herz rast, wenn ich dir das schreibe. Ich habe das Gefühl, dass es total verboten ist, was ich schreibe.

      Sollte Mama das Tagebuch jemals finden, bringt sie mich mit Sicherheit um. Glaubst du, ich habe das von Mama geerbt? Dieses zwanghafte Selbstgesprächeführen? Dabei wollte ich nie so werden wie Mama. Das ist für mich der größte Horror. Obwohl ich dir gar nicht sagen kann wieso. Oder was ich an Mama eigentlich so schrecklich finde.

      Ich will nicht so leben wie sie. Das weiß ich auf jeden Fall.

      Sie hat irgendwie immer eine Maske auf, wenn sie mit anderen Leuten zu tun hat. Ich habe das Gefühl, Mama ist so gut wie nie sie selbst. Sie spielt dauernd irgendwelche Rollen. Die tolle Ehefrau, die tolle Mutter, die tolle Erzieherin. Nie weiß ich, was Mama wirklich denkt. Wer sie wirklich ist.

      Und ich finde es auch schrecklich, dass sie mich nie in den Arm nimmt, mich nie tröstet, mich nie fragt, wie es mir geht. Irgendwie scheint sie überhaupt nicht davon auszugehen, dass es mir überhaupt mal irgendwie geht. Sie fragt mich nicht nach der Schule, nicht nach Freundschaften, außer nach Jungs. Danach fragt sie mich dauernd. Ich muss ihr haarklein erzählen, was ich mit den Jungen in der Klasse rede und mit ihnen zusammen mache, und am Schluss glaubt sie mir sowieso kein Wort und schreit mich nur an.

      Komisch, Mama denkt, ich bin eine Hure. Das hat sie selbst gesagt.

      Oh Gott, Klara, warum denkt Mama so schreckliche Sachen über mich? Dabei will ich doch nur, dass Mama mich lieb hat. Was mache ich denn nur so schrecklich falsch, dass