Adriana Stern

Hannah und die Anderen


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genau«, bestätigte Flax.

      »Aber«, sagte Sascha und stockte. Stille Tränen liefen über ihr Gesicht. »Wenn sich doch dann die Fee in eine Hexe verwandelt und der Drache in einen Wolf?« Ihre Worte hingen wie eine dunkle Gewitterwand im Raum und Sascha wurde sehr kalt unter ihrer Decke.

      »Dann«, sagte Flax und streichelte mit seiner Pfote sanft über ihr Gesicht, »musst du ganz schnell zu einer Fee laufen und ihr alles erzählen. Es gibt Feen, die dir glauben und dir helfen. Und auch Drachen. Ich zum Beispiel«, sagte Flax und grub seinen Kopf ein wenig tiefer in ihren Nicki.

      »Bist du mein Freund?«, fragte Sascha und ihr Herz setzte aus, als sie ihre eigene Stimme hörte.

      »Ja, ich bin dein Freund. Und auch Janne ist deine Freundin. Sie wird dir helfen, so wie sie mir geholfen hat, als ich zu ihr gelaufen bin.« Der kleine blaue Drache schwieg jetzt.

      »Hast du auch böse Menschen und Drachen getroffen, die sich verwandelt haben?« Sascha wischte ihre Tränen weg und sah ihrem neuen Freund forschend in sein freundliches Gesicht. Der nickte und sah plötzlich traurig aus.

      »Ja, ich lebte in einer Drachenfamilie, wo mich die Großen immer ausgelacht und gesagt haben, dass ich ganz hässlich und ganz dumm bin.«

      Sascha konnte nicht glauben, was sie da hörte. Ihr lieber kleiner neuer Freund? Nein, so etwas konnte doch niemand über ihn sagen. Er war der schönste und liebevollste und ehrlichste Drache, den sie je getroffen hatte. Was für gemeine Leute das gewesen sein mussten.

      »Dann haben sie mich eingesperrt und geschlagen, weil ich kein Feuer machen konnte. Dabei war ich dazu noch viel zu klein. Bevor ein Drache nicht mindestens eintausenddreihundertsechzig Jahre alt ist, kann er das gar nicht lernen. Aber all das wusste ich leider nicht. Ich habe selber geglaubt, dass ich ein böser, dummer Lügendrache bin, der seinen Eltern nur Kummer bringt.«

      Sascha sah ihn erschrocken an. So böse waren seine Eltern zu ihm? Sie nahm ihn ein wenig fester in den Arm und drückte ihr Gesicht in sein blaues Fell.

      »Das finde ich dolle gemein und es stimmt auch gar nicht. Du bist ein lieber Drache und ich mag gerne deine Freundin sein.« Sie gab ihm einen vorsichtigen Kuss auf seinen türkisgrünen Flügel und er lachte glücklich.

      »Ich bin sehr froh, dass du mir glaubst. Und ich glaube dir auch. Und«, Flax überlegte einen Moment, »die Janne hat mir das auch alles geglaubt. Deswegen weiß ich«, schloss er seine kleine Rede ab, »dass die Janne eine Fee ist und auf keinen Fall eine böse Hexe.«

      Sascha nickte und streichelte Flax über sein flauschiges Fell. Noch nie hatte sich jemand so mit ihr unterhalten. Ihr Bauch fühlte sich wieder ganz warm an und sie erinnerte sich an das Geheimnis, das ihr der Drache soeben geschenkt hatte. Wenn der Bauch sich warm anfühlte und keine Angst in ihr war, dann handelte es sich um liebe Menschen und Drachen.

      Verstohlen betrachtete sie die Murmelaugenfrau, die ein wenig abseits auf dem Fußboden saß und nachdenklich den Drachen ansah, als habe sie ihm genauso aufmerksam zugehört wie sie selbst. Wenn der Drache sagte, dass sie eine Fee war, dann musste das einfach stimmen. Und tatsächlich fühlte sich ihr Bauch warm an und sie fühlte ein kleines Lachen darin und ein wenig Vertrauen, dass niemand in diesem Haus sich plötzlich verwandeln würde.

      »Murmelaugenfrau?« Sascha sah sie zum ersten Mal direkt an. »Der Drache sagt, du bist eine Fee und verwandelst dich nicht. Da hat er doch Recht, oder?«

      »Ja«, sagte die Frau und lächelte. »Und jetzt hole ich dir endlich mal das Märchenbuch. Ich glaube«, sagte sie mit einem Blick auf Flax, »dein neuer Freund ist ein bisschen müde geworden. Meinst du, du kannst kurz auf ihn aufpassen? So lange, bis das Feuer im Kamin brennt? Dann könnten wir ihn wieder aufwecken und ich lese euch das Märchen vor, das du für euch ausgesucht hast.«

      »Meinst du, ich kann das? Auf ihn aufpassen?«

      »Ja, er wird in deinen Armen bestimmt gut träumen. Sieh mal, er lächelt im Schlaf.«

      Und tatsächlich, Flax hatte sich ganz und gar zusammengerollt und lächelte ein wunderschönes Drachenlächeln. Sascha war sehr stolz, dass ihr der kleine Drache so sehr vertraute. Die Murmelaugenfrau war aufgestanden und in ein anderes Zimmer gegangen. Sascha hörte ihre Schritte, und kurz darauf kam sie mit einem großen, bunten Buch zurück. Saschas Herz klopfte vor Aufregung. Sie streckte eine Hand nach dem Buch aus und die Frau legte es vorsichtig neben den Drachen auf ihren Schoß.

      Sascha befühlte die Seiten und blätterte jede einzelne vorsichtig um. Lesen konnte sie fast noch gar nicht, aber die Bilder erzählten so vieles, dass sie bald ganz in den Farben und Bildern des Buches versank. Sie begann zu träumen, und all das, was sie von ihrem neuen Freund gehört hatte, die Wärme der Decke, die Geräusche, die die Murmelaugenfrau beim Feueranzünden machte, und die Farben und Muster auf jeder Buchseite verwoben sich für sie zu einem ganz eigenen Märchen, und wie durch eine neue, noch unbekannte und doch vertraute Märchenwelt flog sie immer weiter.

      Sie begegnete Hänsel und Gretel, die verzweifelt versuchten, der verwirrten Frau Krebs vom Jugendamt zu erklären, dass die Murmelaugenfrau keine Hexe, sondern im Gegenteil eine liebe Fee sei. In ihrem Märchen hörte sie die Eltern böse Dinge über die Murmelaugenfrau sagen, und sie traf einen kleinen gefangenen Drachen, der mit einem Stock geschlagen wurde, weil er nicht Feuerspucken konnte. Sie sah Hannah, die wütend um sich schlug, und ein Fenster auf dem Dachboden zerbarst in tausend Scherben, die bunte Regenbögen auf den schmutzigen, spinnenübersäten Holzboden warfen. Und dann kam Flax herangeflogen, und Sascha beschwor Hannah in schnellen, wilden Worten, daran zu glauben, dass Flax sich bestimmt nicht in einen bösen bissigen Wolf verwandeln, sondern sie beide sicher zur Murmelaugenfrau bringen würde. Weg von diesem stickigen, heißen, gefährlichen Ort.

      Aber Hannah wollte ihr nicht glauben, und auch John sah sie wütend an und sagte »du Traumtänzerin« zu ihr, und plötzlich wusste Sascha nicht mehr, ob sie vielleicht doch alles nur geträumt hatte und John Recht hatte und sie in Wirklichkeit überhaupt nicht auf einem gemütlichen Sofa saß mit einem Märchenbuch auf den Knien und einem lustigen blauen Drachen im Arm und einer Murmelaugenfrau in der Nähe, die eine Fee und keine Hexe war und gerade für ihren kleinen Drachen ein Feuer machte, weil er sich das so sehr gewünscht hatte.

      Entsetzt fuhr sie auf. Das Buch fiel krachend zu Boden und die Frau drehte sich erschrocken um.

      »Entschuldigung«, sagte Hannah, »ich hab gar nicht mitbekommen, dass ein Buch auf meinen Knien lag.«

      »Das macht doch nichts«, sagte Janne und sah sie forschend an.

      »Ist irgendwas?«, wollte Hannah wissen, die Jannes Blick nicht einordnen konnte. Sie überlegte fieberhaft, was eigentlich gerade passiert war. Hatten sie nicht eben noch in der Küche gesessen und leckere Spaghetti gegessen? Aber dann? Irgendetwas war passiert, aber sie wusste nicht, was. Jetzt jedenfalls saß sie im Wohnzimmer und Janne fachte offensichtlich gerade den Kamin an. Verwirrt und wie gelähmt beobachtete Hannah sie dabei. Sie hatte Janne doch gesagt, dass sie kein Kaminfeuer mochte!

      Das Feuer brannte schon und Hannah versuchte panisch, woanders hinzusehen und das würgende Gefühl im Hals loszuwerden. Ihre Beine waren eingeschlafen und kribbelten unangenehm. Beim Strecken fiel etwas Blaues auf den Boden und sie bückte sich, um es aufzuheben. Als sie sah, was es war, vergaß sie für einen Augenblick ihre Angst.

      »Och, der ist ja süß. Ist das deiner?«

      Janne nickte. »Hannah, was ist los? Du siehst plötzlich so blass aus.«

      Sie folgte Hannahs Blick, der wie gelähmt im Kamin festhing. Bevor Hannah ihre Panik in Worte fassen konnte, ging Janne zum Kamin und begann das Feuer zu ersticken.

      »Oh, tut mir Leid, Hannah. Ich hatte vergessen, dass du Feuer nicht magst. Es ist gleich vorbei. Dauert nur einen Moment.«

      Janne sah sie immer noch an, als hätte sie sie nie zuvor gesehen. Hannah zog sich misstrauisch in sich selbst zurück. Irgendetwas stimmte hier doch nicht. Verdammt, wieso kam sie nicht drauf? Sie spürte, dass sie etwas sagen musste. Sie wusste nur nicht,