Adriana Stern

Hannah und die Anderen


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loswerden, stimmt’s? Ich wachse dir irgendwie über den Kopf, wie es die Erwachsenen immer so schön ausdrücken.«

      »Nein«, sagte Janne, »das ist es nicht. Ich hole mir einen Tee aus der Küche. Willst du auch einen?«

      »Du bist irgendwie sauer auf mich, oder? Stimmt doch! Ich kann auch gehen. Du brauchst es nur zu sagen, dann bin ich in drei Sekunden weg.«

      »Hannah, lass uns doch bitte gleich zusammen überlegen, wie es weitergehen kann, okay? Ich freue mich, dass du heute mein Besuch bist, und ich möchte wirklich gerne wissen, was du weiter machen willst.« Janne schien zu überlegen, dann sagte sie: »Ich will nicht, dass du ziellos durch die Straßen ziehst. Es gibt andere und viel bessere Möglichkeiten. Aber um darüber zu reden, brauche ich einen Tee und eine Zigarette. Das ist alles. Kannst du mir das glauben?«

      »Ja, ja, ist schon okay. Ich will auch einen Tee und vielleicht sogar eine Zigarette und irgendwie habe ich immer noch Hunger.«

      »Du hast auch fast gar nichts gegessen. Ich mache das Essen noch mal warm und bringe es dann mit. Dauert nur ein paar Minuten.«

      »Ist gut, ich lese solange das Buch weiter, das du mir geschenkt hast.«

      Hannah fand ihren Rucksack in dem kleinen Gästezimmer und setzte sich aufs Bett. Verdammt, was war in der Zwischenzeit geschehen? Wie war sie von der Küche ins Wohnzimmer geraten? Mit einem Buch auf den Knien, in eine Decke gewickelt, zusammen mit einem Plüschtier? Das ist doch total verrückt, dachte sie.

      Sie hatte so sehr gehofft, dass ihr das nie wieder passieren würde, wenn sie erst von zu Hause weg war. Stattdessen war es sogar noch schlimmer geworden. Warum konnte sie mit niemandem darüber reden, dass immer wieder Zeit verging, ohne dass sie es merkte? Und warum sprach sonst niemand über dieses Phänomen? Vielleicht hatte ihre Mutter doch Recht damit, dass sie vollkommen durchgeknallt und verhaltensgestört war. Also lieber nicht nachfragen!

      Seufzend nahm sie das Buch und ging zurück ins Wohnzimmer. Sie hörte Janne in der Küche rumoren, und trotz ihrer plötzlichen Unsicherheit und einem schleichenden Gefühl von Angst fühlte sie sich geborgen und sicher in dem kleinen alten Häuschen.

       Liebes Tagebuch

       Donnerstag, den 24. November 1994

      Liebe Klara,

      heute habe ich es mal geschafft, sofort daran zu denken, mein Tagebuch an dich zu schreiben. Ist doch auch schon ein Fortschritt, oder?

      Es gibt total viel zu berichten, so dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll. Das Wichtigste ist, glaube ich, dass ich mich mit jedem Tag total viel verändere. Ich weiß nicht so richtig, wie ich dir das in Worten beschreiben kann. Vor allem, weil es mir manchmal unheimlich ist, aber manchmal finde ich es auch toll.

      Manchmal bin ich neuerdings in der Schule plötzlich so richtig offen und erzähle dann ganz viel von mir.

      Mein Klassenlehrer hat letzte Woche in der Pause zu mir gesagt: »Mensch, Hannelore, du taust ja richtig auf. Geht es dir besser?« Wieso besser? Ich wusste gar nicht, dass es mir so schlecht ging. Na ja, da war dieses Gespräch mit der Vertrauenslehrerin. Wer weiß, vielleicht hat sie ja meinem Klassenlehrer was weitererzählt, obwohl ich das ehrlich gesagt nicht in Ordnung finde.

      Mit dem vielen Reden, das ist mir oft schon richtig peinlich. Weißt du, die Worte kommen einfach so aus mir herausgepurzelt, ohne dass ich richtig darüber nachgedacht habe. Ich höre mich dann reden und bin selber über meine Gedanken erstaunt. Manchmal sind die sehr philosophisch, echt so richtig tiefgründig. Wusste gar nicht, dass ich so denken kann.

      Und manchmal, da mache ich richtig gute Witze, so dass in der Klasse alle lachen, und echt scharfsinnige und witzige Kommentare, vor allem, wenn die Jungs blöde Sprüche über Mädchen machen.

      Aber ich selbst sozusagen bin eigentlich gar nicht besonders schlagfertig oder witzig oder so etwas. Und ironisch, wie ich jetzt manchmal auch bin, bin ich schon gar nicht – von meiner Natur her würde ich mich eher als ruhigen, ernsten und traurigen Menschen beschreiben. Schon klug – also dumm kann man mich wirklich nicht nennen –, aber eigentlich total verschlossen, in mich selbst eingegraben. Richtig erzählen tue ich nur dir hier im Tagebuch, nur dir vertraue ich richtig. Und sage dir auch Sachen, die mir sehr, sehr schwer fallen und wegen denen ich mich auch schäme.

      Ich finde, das muss sich wirklich ändern, diese Verschwiegenheit ist ja nicht zum Aushalten. Und das Leben ist doch viel zu kurz, um sich in seine eigene kleine Welt zurückzuziehen. Ich habe bloß so lange nichts gesagt, weil ich ganz genau weiß, dass Papa nicht will, dass wir was von zu Hause erzählen. Und wieso will er das nicht? Na, ist doch logisch. Aus Angst, was andere Menschen, zum Beispiel Frau Liesban oder unser Klassenlehrer Herr Kuck, wohl über die saubere Familie Merkum herausfinden könnten.

      Ich finde, wir dürfen nicht schweigen! Wir müssen weg von zu Hause. Wieso freundet sich die blöde Miriam nicht endlich mit der Neuen an. Stephanie oder wie sie noch mal heißt. Ich trau mich das irgendwie nicht so richtig, weil sie doch ein Mädchen ist und so. Ich komme einfach besser mit Jungs klar. Zum Beispiel den Stephan, den finde ich echt superklasse. Endlich mal nicht so ein Hohlkopf, der nur an Mädchenärgern, Fußball und Rumprahlen denkt. Und Gitarre spielt der Typ – echt zum Verlieben! Aber das lass ich wohl lieber mal bleiben. Jedenfalls ist es spitzenmäßig, dass wir jetzt mit ihm zusammen in der Schülerzeitungsredaktion arbeiten. Das war die beste Idee des Jahrhunderts – ehrlich.

      Und diese Jugendgruppe, die für ein unabhängiges Jugendzentrum kämpft, die finde ich wirklich cool. Okay, die Leute sind nicht vom Gymnasium, sondern von der Hauptschule, und Vater meint, diese Leute wären ja wohl nicht so ganz unser Niveau, aber ich finde Vater sowieso in vielerlei Hinsicht reichlich reaktionär, wollte ich bei dieser Gelegenheit mal vermerkt haben.

      Mit Vater über Politik zu streiten mag ja bis zu einem gewissen Grad tatsächlich Spaß machen, aber teilweise hat der Typ dermaßen rückständige Überzeugungen, dass man sich wirklich schämt, sein Kind zu sein.

      Letztens zum Beispiel behauptet er doch glatt, nur Arbeitslose und Sozialschwache und Alkoholiker würden ihren Kindern Gewalt antun. Er hat sogar auf einem Kongress, wo es um Gewalt in der Familie geht, ein Referat gehalten, wo er das wissenschaftlich, man stelle sich vor: wissenschaftlich nachgewiesen hat, dass Gewalt an Kindern in Mittel- und Oberschichtsfamilien nur einen geringen Bruchteil ausmacht.

      Vorher hat er Miriam das Referat zum Lesen gegeben – und jetzt halte dich fest, Klara – Miriam hat doch glatt gesagt: »Mensch, Papa, bin ich froh, dass ich nicht solche Eltern habe.« Also, tut mir Leid, aber da hat es mir dann gereicht. Ich sie also weggeschubst und dann mit Vater mal ein paar ernste Worte gewechselt – von wegen keine Gewalt in Mittelschichts- und Oberschichtsfamilien.

      Dann ist Vater ziemlich wütend geworden. Also, bei ihm sieht das ja so aus, dass man das nicht an seiner Lautstärke merkt oder so. Er wird im Gegenteil dann immer total ruhig – so dass einem himmelangst wird – wie vor einem tierischen Sturm, wo dann die Vögel aufhören zu singen und die Luft vor Spannung zu knistern beginnt und die Leute auf der Straße ganz still werden und wirklich jegliche Unterhaltung einstellen. Ja, also Vater wird dann genau so, dass einem angst und bange wird. Dann färbt sich sein Gesicht langsam rot und er schiebt im Zeitlupentempo seine Brille von der Nase hoch auf die Stirn. Seine Stimme wird dann gefährlich leise und er sagt: »Wer bist du eigentlich, dass du so mit deinem Vater sprichst?« Dann fasst er mich voll brutal an den Schultern und schüttelt mich, dass mir echt ganz anders wird – von wegen keine Gewalt gegen Kinder in Mittelschichtsfamilien.

      »Wer bist du«, hat er dann geflüstert, »dass du es wagst, derart mit deinem Vater zu sprechen?«

      »Jurek«, habe ich geantwortet, und er sagt: »Aha, dann zieh dich schon mal aus, ich hole inzwischen ein paar Dinge, damit du eine Ahnung davon bekommst, was Gewalt ist und wovon wir hier gerade reden. Und danach schreibst du einen Aufsatz darüber, haben wir uns verstanden?« Ich hab bloß genickt, und kaum ist der Typ zum Zimmer raus, habe ich gemacht, dass ich wegkomme.