Johannes Czwalina

Das Schweigen redet


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erlebt haben, die jedoch einen großen Teil ihrer Gefühle und Identität bestimmt. Das Gefühl, nur halb zu der Gesellschaft zu gehören, die deutlich anders empfindet, belastet sie. So leben sie permanent in zwei Kulturen und wollen um jeden Preis aus diesem Dilemma ausbrechen.4

      Geschwiegen haben nicht nur die Täter, sondern genauso die überlebenden Opfer, und nicht zu vergessen die vielen Mitläufer, die keine Gelegenheit auslassen, ihre Hände in Unschuld zu waschen. Geschwiegen haben die Kirchen. Geschwiegen hat damals die Welt – jedenfalls viel zu lange. Hat auch Gott geschwiegen?

      Die Geschehnisse der NS-Zeit führten zu Schuld, Mitschuld und Schuldgefühlen, die niemanden unbeteiligt ließen. Da aber in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg Schuld nur in einem spezifisch juristischen Sinn aufgearbeitet wurde, blieb sie in vielen anderen Formen erhalten: Moralische, psychologische und kollektive Formen von Schuld lassen sich nicht vor Gericht verurteilen. Um ein funktionierendes Leben führen zu können, schwieg man sich aus – schuldig waren schließlich Leute wie Eichmann, und für die gab es große Prozesse. Nicht vor den eigenen Kindern, in vielen Fällen nicht einmal vor sich selbst, gestand die große Masse der Mitläufer und Profiteure ihre Mitschuld ein: Alle schwiegen.

      Die zahlreichen Publikationen, die sich auf die Suche nach der Familienvergangenheit machen, versuchen, dieses Schweigen zu brechen. Sie lassen sich als Ausdruck einer diffus empfundenen Belastung deuten – ein Erbe der unmittelbar betroffenen Generation.

      So tragen viele, oft auch unbewusst, ein transgenerationelles Erbe mit sich. Dieses Erbe hat die bewussten Erlebnisse der Täter- und Opfergeneration in ein unbewusstes Dilemma der nächsten Generationen verwandelt. Das Erbe wird als Last empfunden, aber es fehlt die Orientierung, damit umzugehen. Es ist bisweilen schwerer zu verkraften als das, was die Eltern oder Großeltern auf der bewussten Ebene erlebten.

      Der erste Teil dieses Buches dokumentiert, auf welche Weise diese unbewusste kollektive Schuld (denn wie sich zeigen wird, leiden auch die Opfer und ihre Nachkommen an subjektiv empfundenen Schuldgefühlen) sich in Einzelschicksalen als psychische Belastung auswirkt.

      Hermann Hesse formulierte den tiefgehenden Satz: „Es kommt alles wieder, was nicht bis zu Ende gelitten und gelöst ist.“ Vergangenheit, die nicht durch Aufarbeitung geklärt wurde, kommt wieder. Schweigen, das sich durch Aufarbeitung nicht aufgelöst hat, hält das Verborgene am Leben. Angenommen, Hesses Behauptung stimmt und wir würden uns eingestehen, dass in der deutschen Vergangenheit Aufarbeitung durch das Schweigen der Täter und Mitläufer unzureichend stattgefunden hat; müssten wir dann nicht genauer analysieren, was wiedergekommen ist und was am Leben bleiben konnte, obwohl es für tot erklärt wurde?

      Wir müssen uns der Frage stellen, was anders gelaufen wäre, wenn die Großväter und Väter schonungslos, betroffen und vorbehaltlos das Schweigen gebrochen und sich wahrhaftiger zu ihrer Schuld bekannt hätten.

      Konnten sich gar bestimmte gesellschaftliche und politische Strömungen in Deutschlands Nachkriegszeit erst dadurch entwickeln, dass schweigende Mitläufer vor den kritischen Fragen ihrer Kinder in den Konsum und die Karriere geflüchtet sind? So lange, bis die junge Generation ihre Fragen einstellte und ihre aufgestaute Frustration auf die Straße hinaustrug und radikale Gruppierungen bildete, die auch vor Attentaten nicht zurückschreckten? Diese Kinder wollten von ihren Eltern erfahren, warum sie in der Zeit des Nationalsozialismus nicht widersprochen hatten, warum sie nicht nachgefragt oder protestiert hatten, als Juden in ihrer Nachbarschaft abtransportiert wurden. Mit dem Durchbrechen ihres Schweigens hätten sie bei den jungen Menschen Achtung gewonnen. Durch ihr Schweigen oder Verschweigen aber haben sie eine doppelte Hypothek auf sie gelegt.

      Könnte also das wütende und verzweifelte Aufbegehren der 68er-Generation mit dem hartnäckigen Schweigen ihrer dem materiellen Wohlstand nachjagenden Eltern zusammenhängen? Wären wir von dem RAF-Terror verschont geblieben, der Deutschland ein Jahrzehnt lang erschütterte?

      Die Täter und Mitläufer folgten in der Nachkriegszeit dem Pfad ihrer Furcht. Es war die Angst, dass irgendetwas offenbar werden könnte, das ihrem Image und ihrer Karriere schaden könnte. Dadurch haben sie aber ihren Kindern am meisten geschadet. Der Psychologe Tilmann Moser spricht von einer „Scheinheilung“ dieser Generation, die dazu geführt habe, dass den Nachgeborenen „ganze Container voller Probleme“ aufgeladen wurden.5

      Ähnlich lief es nach dem Zusammenbruch der DDR ab. Außer dem ehemaligen Staatsratsvorsitzenden Egon Krenz, der sich in einigen Gesprächen mit mir bewusst auch nach der Wende als überzeugter Kommunist zu erkennen gab, bin ich praktisch niemandem begegnet, der sich als ehemaliger Funktionär bekannt hatte. Immer waren es die Nachbarn oder die Leute im Wohnblock gegenüber gewesen. Tiefergehende, selbstkritische Aufarbeitungsbereitschaft fehlte auch nach der Wende. So, wie es nach dem Ende des 2. Weltkriegs plötzlich nirgendwo mehr Nazis gab, verschwanden nach dem Zusammenbruch der DDR auch alle Kommunisten.

      Der zweite Teil dieses Buchs hält die verstörende Beobachtung fest, dass Verschwiegenes in späteren Generationen wiederkehrt, sowohl innerhalb von Familien als auch der gesamten Gesellschaft. Sogar in der scheinbar harmlosen Arbeitswelt lässt sich so etwas wie eine Arier-Ideologie feststellen. Können etwa auch die von der RAF ausgeführten Mordtaten und das eiserne Schweigen der beteiligten Täter als Nachwirkung des Dritten Reiches gedeutet werden? Was kann uns davor bewahren, dass sich Unaufgearbeitetes über Generationen weitervererbt? Eine Lösungsmöglichkeit zeigt uns die Geschichte Südafrikas.

      In Südafrika konnte mit Hilfe eines strukturierten Versöhnungsprozesses, auf den in diesem Buch näher eingegangen wird, ein mörderisches System überwunden werden. Allen Erwartungen zum Trotz wurde eine Annäherung von verfeindeten Gesellschaftsschichten eingeleitet, die trotz Rückfällen als Erfolg zu bewerten ist. Unüberwindbare Barrieren zwischen Opfern und Tätern wurden durch Offenheit, Reue und Vergebung – einer neuartigen und nichtjuristischen Versöhnungspraxis – abgebaut.

      Versöhnung als Gegenmittel wider das Vergessen und Verschweigen?

      Was wäre in Deutschland nach 1945 oder nach 1989 anders gelaufen, wenn wir über ein Versöhnungsmodell verfügt hätten, wie es in Südafrika angewandt wurde? Welche Chancen haben wir persönlich, gesellschaftlich und politisch noch nicht genutzt?

      Sind tiefgreifende Versöhnung und Vergebung möglich? Sind sie überhaupt gewollt? Diesen Fragen möchte ich im dritten Teil dieses Buches nachgehen und dabei konkrete Vorschläge machen, wie mit der generationenübergreifenden Schuld – nicht zu verwechseln mit den Vergehen von Einzelpersonen – umgegangen werden kann. Diese Schuld muss nicht nur juristisch und historisch, sondern auch individuell-psychisch oder im persönlichen Dialog aufgearbeitet werden.

      Ich bin der Überzeugung, dass das symptomatische Phänomen des Schweigens ganzer Generationen letztlich einen stummen Schrei nach Versöhnung darstellt. Deswegen sollten wir keine Mühe scheuen, alles zu unternehmen, dass in dieser komplex und undurchschaubar gewordenen Welt voller Hass funktionierende Versöhnungspraktiken gefunden und angewandt werden können. Es liegt auf der Hand, dass der Weg der Versöhnung nicht leichtfertig beschritten werden kann. Gerade zu Beginn dieses Prozesses werden der Schmerz der Opfer und die Schuld der Täter wieder neu spürbar und präsent.

      Ich halte mit diesem Buch Ausschau nach einer Kultur, die mehr erreichen will als die Verurteilung der Täter, um nur auf diesem Weg bestenfalls eine kleine Genugtuung der Opfer zu erreichen. Ich suche nach einer Kultur, die Lebensqualität und Versöhnung im Auge hat, die bereit ist, dem Verzeihen eine Chance zu geben, und das alles nicht nur im privaten Bereich, sondern auch auf gesellschaftlicher und politischer Ebene.

Erster Teil: Das Schweigen redet:

       Wie können wir Worte sagen, die das Undenkbare fassen könnten?6

      Prof. Dr. Albert H. Friedländer

      Den Biographien derer, die diesen Krieg weder anzettelten noch führten, ihn aber mit ihrer Gesundheit und dem Leben bezahlen mussten, widmet man sich in letzter Zeit häufiger. Im Osten durften die Schicksale dieser Menschen gar nicht erst erwähnt werden. Und auch im Westen wollte man die düsteren Erzählungen