Jan Eik

Nach Verdun


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hatte neben sich ein Bündel aus sieben Handgranatenköpfen, die Sprengkapseln in den Öffnungen mit Hölzchen festgeklemmt und mit Draht um einen weiteren Kopf herumgebunden. Man musste nur den Stiel mit der Sprengkapsel einschrauben und abreißen - und nach fünfeinhalb Sekunden würde die achtfache Ladung krepieren.

      Rechts neben Pietsch war das Gelände ein wenig abschüssig, wie er im Feuerschein einer einschlagenden Granate bemerkte. Er griff nach der Ladung und stellte sie wie ein Rad auf. Beinahe von selbst kullerte sie den sanften Hang hinunter. Im Lärm der Feuerstöße, die jetzt hinter ihnen erwidert wurden, hörte er nicht, ob das Bündel irgendwo an einem Baum oder im Draht hängenblieb.

      «Wir müssen hier weg!», sagte er rau.

      Der Kamerad, an dessen Namen sich Pietsch nicht erinnerte, kroch heran. «Der Clement ist schwer verwundet», keuchte er.

      Clement, ein falscher Fuffziger, wie ihn Pietsch insgeheim nannte, seit der ihn einmal beim Spieß verpfiffen hatte, lag nur wenige Schritte entfernt und stöhnte. «Wir bringen dich zurück», versprach ihm Schimaniak. Leise rief er nach Böwert, der auch antwortete.

      Wieder setzte das MG ein.

      «Lass das Scheißding hier liegen», zischte Pietsch zu Schimaniak, der noch immer die geballte Ladung schleppte. «Da braucht nur …»

      Ja, es brauchte nur ein Fünkchen oder eine Kugel, um eine der Sprengkapseln zur Explosion zu bringen. Was genau es war, erfuhr niemand. Ein Feuerschlag flammte auf und hinterließ Tod und Verderben.

      ES GING auf Feierabend zu. In dem schmalen Laden in der Seitenstraße war es schon fast dunkel. Dennoch trödelten noch immer zwei Kundinnen im schummrigen Licht herum, obwohl Erich Röddelin schon zweimal vernehmlich geäußert hatte, die Warenvorräte seien für heute erschöpft - bis auf Kaffee-Ersatz, Rübenmarmelade und saure Gurken, die in ihrem Fass vor sich hin stanken.

      Das bisschen, was sonst noch vorhanden war, gedachte er nicht mehr heute Abend und schon gar nicht an solche Figuren zu verkaufen wie die beiden ärmlich gekleideten Weibsen. Solche Gestalten kannte er zur Genüge. Die hofften jedes Mal, was Besonderes zu erhaschen - und versuchten am Ende, auch noch anschreiben zu lassen.

      Kredit is nich - der’s tot, hatte Erich mal über einer Wirtshaustheke gelesen. Der Spruch hatte ihm gefallen. Dabei war Erich Röddelin ein guter Mensch. Jedenfalls hielt er sich dafür, und selten hatte ihm jemand widersprochen - von seiner Thea mal abgesehen, aber auf deren Urteil gab er noch weniger als auf das fremder Leute. Und mit fremden und fast immer unangenehmen Leuten hatte er es den lieben langen Tag zu tun, von der morgendlichen Warenbeschaffung, die immer schwieriger wurde, bis zum späten Ladenschluss. Selbst danach hämmerten sie noch an die Jalousie oder belästigten einen sogar an der Wohnungstür mit ihren einfältigen Wünschen, als gäbe es für einen deutschen Kolonialwarenhändler keinen Feierabend. In Friedenszeiten hatten Thea und er sich das notgedrungen gefallen lassen, da zählte jeder Pfennig.

      Nun war seit fast zwanzig Monaten Krieg, und der entwickelte sich nicht ganz so, wie sich Erich Röddelin das in seinen treudeutschen Träumen vorgestellt hatte. Mit den anfänglichen Siegen war es längst vorbei, und den ganzen Winter über hatte es ausgesehen, als stecke der Karren ziemlich tief im Dreck. Erst jetzt ging es wieder vorwärts, wie es sich für ein deutsches Heer gehörte. In den nächsten Wochen musste dieses verfluchte Verdun fallen. Dann war der Weg nach Paris endlich frei.

      Darauf wartete Erich Röddelin sehnsüchtig. Seiner Ansicht nach kam alles Übel nur von den Juden und davon, dass der gutmütige Kaiser das linke Sozialistenpack viel zu lange toleriert, ja in den Reichstag hatte einsickern lassen, wo es einzelne von den Kerlen tatsächlich wagten, den notwendigen Kriegskrediten ihre Zustimmung zu verweigern und damit Deutschlands Sieg zu gefährden. Wenn Erich Röddelin dergleichen des späten Abends im Preußischen Staatsanzeiger las, überkam ihn jedes Mal eine solche Wut, dass seine Thea sich vorsichtshalber ins Bett begab, um ihm nicht in die Quere zu kommen.

      Manchmal war Röddelin nach solchen Nachrichten - es reichte schon ein verlorenes Gefecht oder ein kurzzeitiger Rückzug an der Front - aus dem Haus und in die nächste Kneipe gestürmt, um seinen gerechten Zorn im Kreise Gleichgesinnter herunterzuspülen. An denen hatte es zu Kriegsbeginn nicht gemangelt. Inzwischen jedoch glich das Bier verdünnter Pferdepisse, und selbst in der Eckkneipe war man nicht mehr sicher vor aufrührerischem Gesindel, das immer lauter aufmuckte, je länger der Krieg andauerte. Und je knapper die Lebensmittel und nötigsten Gebrauchsartikel wurden. Von Bier bis hin zu Mehl und Zimt bestand alles nur noch aus Ersatz. Und alle taten sie, als wäre er daran schuld und nicht das feindliche Ausland mit seiner Blockadepolitik!

      «Jewisse Heringsbändja fressen sich dick und duhn», rief da beispielsweise einer von der Theke zum Stammtisch hinüber, «und unsaeins kann sehn, det die Würmer wat zwischen de Kiemen kriejen.»

      «Denn musste erst mal die Olle dazu sehn», ergänzte ein anderer halblaut, aber Erich Röddelin hatte gute Ohren und verstand genau, worauf das abzielte. Als hätte er die aufquellende Figur seiner Thea nicht selber Tag für Tag vor Augen. Sie war nicht schlank gewesen, als er sie vor nunmehr 26 Jahren nach langem Werben geehelicht hatte, und jung auch nicht mehr. Aber was machte das schon? Er stammte vom Lande und war eher für was Handfestes zu haben als für Hungerhaken, die sich hinterm Besenstiel verstecken konnten. Sie schielte ein bisschen, na schön, und war ein paar Zentimeter größer als er, und ihre Stimme klang unüberhörbar in dem Grünkramkeller, den sie vom Vater Nieswandt übernommen hatte.

      «Wenn die sich mal umdrehn will, muss eena rausjehn», hatten die Kundinnen in der Füsilierstraße schon damals hinter vorgehaltener Hand gelästert. Erich hatte es nicht gestört. Er war froh gewesen, nach all den Jahren in Pferdeställen und als Schlafbursche in stinkigen Furzmulden doch noch ein Auskommen gefunden zu haben in dieser unwirtlichen Stadt. Behaglich schmiegte er sich des Abends an das Fleischgebirge neben sich und schlief gewöhnlich schnell und traumlos ein.

      Im Übrigen war Theas Korpulenz, der weder mit Hungerkur noch mit Korsett beizukommen war, keineswegs der einzige Grund gewesen, den verlotterten Grünkramkeller in der Nähe des Schönhauser Tors aufzugeben und hier, weit draußen in den Neubauten des Ostens, von vorn zu beginnen. Wäre es nach Thea gegangen, so hätte es ein Feinkostgeschäft mindestens in der Frankfurter Allee sein müssen. Doch Erich konnte rechnen. Selbst mit dem Erbteil des zur rechten Zeit dahingegangenen Schwiegervaters Nieswandt reichte es nur zu dem kleinen Laden in einer ruhigen Seitenstraße von Alt-Boxhagen, immerhin eine Stufe hoch vom Trottoir, wie das hier hieß, und nicht mehr neun runter in den dumpfen Kellermief wie in der Füsilierstraße. Kein Asyl für obdachlose Frauen gegenüber und kein jüdischer Fischgroßhändler an der Ecke. Die miesen Häuser im Scheunenviertel, in denen nicht mal mehr die ärmsten Juden wohnen wollten, waren inzwischen abgerissen. Eine weite Freifläche erstreckte sich dort, wie Erich bei einer morgendlichen Tour zur Zentralmarkthalle festgestellt hatte, der sogenannte Babelsberger Platz, dem man schließlich doch noch eine vaterländische Benennung hatte zukommen lassen. Bülowplatz hieß er jetzt und - da war sich Erich Röddelin sicher - für alle Zeiten.

      Gleich rechts hinter der Kuhbrücke lag der Viehmarkt, und dahinter konnte man vom Ufer des Rummelsburger Sees hinüber nach Stralau gucken. Das war fast so etwas wie Heimat für Erich. Nur Thea musste gelegentlich an den steilen Abstieg in das Kellerloch und den feuchten Schimmel in allen Ecken erinnert werden, wenn sie der Vergangenheit allzu sehr nachjammerte. Er hingegen, Erich Röddelin aus Bismark in Vorpommern, war ein Mann des Fortschritts, der sich im nahen Aboli-Kino von Herzen an den Bildern deutscher Geschütze und deutscher U-Boote erfreuen konnte. Von den siegreichen deutschen Truppen hatte er allerdings eigentlich mehr erwartet. Sein eigener Militärdienst bei den Pasewalker Ulanen lag beinahe vierzig Jahre zurück, und weit hatte er es dabei nicht gebracht. Aber die Erinnerungen der Offiziere und Feldwebel an die siegreichen Kriege anno 1864, 1866 und 1970/71, an Alsen, Düppel und Sedan, waren da noch lebendig gewesen und hatten sich ihm eingeprägt. Stundenlang hatte er den Berichten gelauscht. Bald wusste er, wie man eine Attacke zu reiten und eine Schlacht zu schlagen hatte. Obwohl er nur der Pferdebursche war. Er stammte eben vom Lande und verstand, mit Tieren umzugehen.

      Besser, als