Jan Eik

Nach Verdun


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und Galgenberg fragte, ob jemand den Täter gesehen habe.

      «Nee, wir ham nur jehört, wie et jeknallt hat.»

      Eine Portiersfrau aus dem Nachbarhaus platzte damit heraus, dass Erich Röddelin ein ziemlicher Schubiak gewesen sei. «Der hatte mehr Feinde als Haare uff ’m Kopp, weila die Leute beim Abwiegen imma beschissen hat. Harthertzig wara ooch, nie hatta anschreim lassen, da konnten die Leute vahungan.»

      «Ja, so isset jewesen, det kann ick uff mein Eid nehm!», rief der Mann, der neben ihr stand.

      «Und was ist mit Röddelins Frau?», fragte Kappe.

      «Die hat ’n Nervenzusammenbruch jehabt und liegt im Krankenhaus.»

      «Da wird sie auch noch morgen liegen», murmelte Kappe.

      «Mir geht’s nicht gut, ich will nach Hause.»

      Dr. Kniehase fühlte sich bei der «Morgenandacht» in den Räumen der Mordkommission in seinem Element, war wieder ganz der Dozent, der er jahrelang an der Artillerie- und Ingenieurschule gewesen war. In der Nacht hatte er kaum Schlaf gefunden, dennoch war ihm keine Müdigkeit anzumerken.

      «Wie gesagt, die Explosion einer Handgranate in einem geschlossenen Raum ist zumeist für alle sich im Wirkungsbereich befindlichen Personen tödlich. Wir können im Falle Erich Röddelin davon ausgehen, dass der Täter die Handgranate von der Straße aus durch die offene Tür in den Laden geworfen hat, sozusagen um die Ecke, um sich dann fluchtartig zu entfernen. Genug Zeit hatte er … Wir unterscheiden grundsätzlich zwischen offensiven Granaten und defensiven Splittergranaten. Offensive Granaten haben einen vergleichsweise kleinen, unterhalb der Wurfweite liegenden Gefahrenbereich, was es dem Anwender ermöglicht, sie ohne eigene Deckung einzusetzen. Sie werden für das Eindringen in feindliche Stellungen verwandt und wirken vor allem durch die Druckwelle ihrer Sprengladung. Wir unterscheiden ferner zwischen aufschlagzündenden und zeitzündenden Werkzeugen.»

      «Werkzeuge», murmelte Kappe. Es war schon pervers, Handgranaten als Werkzeuge zu bezeichnen: Werkzeuge zum Töten.

      «Aufschlagzündende Handgranaten haben den Vorteil, dass der Gegner der Waffe nicht ausweichen und sie nicht zurückschleudern kann. Bei den Engländern haben wir Handgranaten gefunden, da war aufgedruckt: Pull the ring and throw …, und handschriftlich war hinzugefügt: … it to your comrade

      «Diese Sprache möchte ich in unseren Räumen nicht hören», sagte Waldemar von Canow.

      «Pardon.»

      «Und Französisch auch nicht, Herr Dr. Kniehase.»

      Kappe wusste nicht, ob sein Vorgesetzter das ironisch gemeint hatte, es schien ihm aber nicht so.

      Dr. Kniehase jedenfalls achtete nun auf die Reinheit seiner Sprache. «Geworfen worden ist im Falle Röddelin keine Eierhandgranate, sondern eine Stielhandgranate, im Volke Kartoffelstampfer genannt, wie sie von unserer Industrie millionenfach hergestellt wird. Bei dieser Handgranate ist der Sprengkopf an einen breiten Holzstiel angeschraubt. Dieser wirkt wie ein Hebel und verstärkt die Kraft des Wurfarms, so dass größere Wurfweiten als bei der Eierhandgranate erzielt werden. Der Zeitzünder ist im Stiel untergebracht. Wir gehen von einer Verzögerung von acht bis zehn Sekunden aus. Am unteren Ende des Stiels befindet sich, normalerweise durch eine abschraubbare Kappe geschützt, die Abreißschnur für den Reibungszünder mit der daran befestigten Perle.»

      «Lassen Sie’s damit gut sein», mahnte von Canow.

      «Sehr wohl … Sich eine solche Stielhandgranate widerrechtlich anzueignen, in einer Kaserne, auf dem Schlachtfeld oder in der Fabrik, dürfte für den Täter in diesen Zeiten nicht schwer gewesen sein.»

      «Sie machen uns ja Mut!», rief von Canow. «Das ist geradezu defätistisch.»

      «Diesen Ausdruck aus dem Französischen weise ich mit Nachdruck zurück!», rief Dr. Kniehase.

      «Ende der Besprechung», sagte von Canow. «An die Arbeit, meine Herren!»

      Das taten Hermann Kappe und Gustav Galgenberg dann auch und machten sich auf den Weg zu Dorothea Röddelin. Die war inzwischen, wie man am Telefon erfahren hatte, aus dem Krankenhaus entlassen worden und hatte erst einmal bei ihrer Schwester, einer gewissen Amanda Nieswandt, Quartier genommen. Deren Adresse war schnell in Erfahrung gebracht, da sie einen Seifenladen auf der Neuköllner Seite des Kottbusser Damms betrieb.

      Wieder setzten sich die beiden Kriminalbeamten in die Straßenbahn, denn die U-Bahn zwischen dem Gesundbrunnen, dem Alexanderplatz und der Stadt Neukölln, ehemals Rixdorf, existierte bislang nur auf dem Reißbrett. Zwar hatte man, das heißt die AEG, schon 1913 mit ihrem Bau begonnen, nach Beginn des Krieges aber waren die Arbeiten eingestellt worden.

      Als sie im Seifenladen ankamen, lag Dorothea Röddelin dort hinten im Wohnzimmer auf einer Chaiselongue und hatte einen mit kaltem Wasser getränkten Waschlappen auf der Stirn liegen. Galgenberg, der so etwas wie kein Zweiter konnte, sprach ihr das tiefempfundene Beileid aller Kriminalbeamten aus und versprach ihr, dass man alle Kraft aufwenden würde, um den Mörder ihres Mannes zu finden.

      Obwohl ihre Tränen ihn anrührten, hielt sich Kappes Mitleid mit Dorothea Röddelin in Grenzen, denn zu unsympathisch wirkte sie auf ihn. In der Waldemarstraße nannte man Frauen wie sie eine «fette Wachtel». Sicherlich war sie in der Glatzer Straße nicht eben beliebt. Kappe konnte sich lebhaft vorstellen, was die Leute über sie sagten: «Die ist volljefressen, und wir hungan.» –

      «Klar, die frisst uns allet weg, die kriegt den Schlund ja nie voll jenug.» - «Ihr Oller bescheißt uns beim Abwiegen und zweigt von allet, watta jeliefert bekommt, für seine Olle wat ab, damit die dick und fett wird.»

      Aber beim Gespräch mit ihr durfte er sich auf keinen Fall von seinen Gefühlen leiten lassen, und um dem entgegenzusteuern, war er besonders freundlich.

      «Wir können Ihren Schmerz verstehen, Frau Röddelin, und wollen nicht alles wieder aufrühren, was gestern passiert ist, aber vielleicht haben Sie etwas gesehen, was uns weiterbringt … wer der Täter gewesen sein könnte?»

      «Wer es war?» Die Röddelin richtete sich auf und nahm den Waschlappen von der Stirn. «Na, sicher dieser Lork, der vorher durchs Schaufenster reingeguckt hat.»

      «Lork», wiederholte Kappe und schrieb das in sein Notizbuch. «Und kennen Sie auch seinen Vornamen?»

      Dorothea Röddelin sah ihn böse an. «Sie kommen wohl nicht aus Schlesien, wie?»

      «Nein, aus der Mark Brandenburg.»

      «Ein Lork ist ein Miststück», belehrte ihn die Röddelin keuchend. «Also … Ich gehe in den Laden, um meinem Mann zu sagen, dass gleich Feierabend ist. Da sehe ich draußen einen Kerl stehen und reingucken. Ganz neugierig, die Nase fast an die Scheibe gepresst. Als er mich sieht, geht er weiter. So eine Visage, wie der gehabt hat … So richtig wie ein Neandertaler hat er ausgesehen. Und in der Hand hat er auch was gehalten. Ich habe gedacht, das ist ein Ball oder ein großer Apfel, aber das muss die Handgranate gewesen sein. Ich bin dann in die Küche, um Kließla zu machen, weil mein Mann ganz nerrsch nach Klößen ist, da knallt es draußen und …» Wieder brach sie in Tränen aus.

      Kappe ließ ihr Zeit, sich wieder zu fangen. «Dieser Mann, der kurz vor Ladenschluss vor Ihrem Schaufenster gestanden hat, den kennen Sie also?»

      «Ja, das ist einer vonne Kommunisten, die uns alle abschaffen wollen, ein ganz übler Bursche. Den hätten Sie schon längst ins Gefängnis stecken sollen!»

      «Den Namen kennen Sie aber nicht?», fragte Galgenberg.

      «Doch, natürlich kenne ich den: Ernst Bergmann heißt der. Der hat schon letzten Oktober Morddrohungen gegen meinen Mann ausgestoßen, ich kann Ihnen sagen!»

      Kappe erinnerte sich an die sogenannten Lichtenberger Butterkrawalle, die sich am 16. Oktober 1915 bis zum Wochenmarkt am Boxhagener Platz ausgebreitet hatten. Was die Frau sagte, klang also plausibel.

      Gott sei Dank, sie hatten eine heiße Spur.