Jan Eik

Nach Verdun


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Stiller? Wohl nicht.» Kappe überlegte. «Irgendwann hat mir Trampe auch mal was von einem Stiller erzählt, und der hieß …» Er brauchte ein paar Sekunden, bis er es hatte: «Alfred.»

      Laut Adressbuch gab es einen Maler namens Alfred Stiller mit einem Atelier am Blücherplatz 2, und da es von der Nostizstraße bis dorthin nur ein Katzensprung war, beschlossen sie, zuerst ihn nach Bergmann zu fragen.

      Als sie die Wohnung Alfred Stillers betraten, war auf einen Blick zu erkennen, wo dieser politisch stand, denn überall lagen Entwürfe mit roten Fahnen herum, dazu Plakate und Flugblätter, auf denen dazu aufgerufen wurde, am 1. Mai um acht Uhr abends auf dem Potsdamer Platz zu erscheinen:

       Auf zur Maifeier! Am 1. Mai reichen wir über alle Grenzsperren und Schlachtfelder hinweg die Bruderhand dem Volke in Frankreich, in Belgien, in Rußland, in England, in Serbien, in der ganzen Welt! Am 1. Mai rufen wir vieltausendstimmig: Fort mit den ruchlosen Verbrechern des Völkermordes! Nieder mit den verantwortlichen Machern, Hetzern und Nutznießern! Unsere Feinde sind nicht das französische, russische oder englische Volk, das sind deutsche Junker, deutsche Kapitalisten und ihr geschäftsführender Ausschuß: die deutsche Regierung!

      Kappe teilte grundsätzlich diese Meinung, wenn er es auch als Beamter mit starker Neigung zur Sozialdemokratie nie so krass formuliert hätte, während Galgenberg die Galle hochkam, wenn er so etwas las. Die Obrigkeit war von Gott, so wie es im Paulus-Brief an die Römer stand und wie er es bei den Konfirmanden gelernt hatte:

       Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet. Wer sich nun der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt Gottes Ordnung; die aber widerstreben, werden ein Urteil über sich empfangen.

      Kappe wartete, bis Alfred Stiller, der gerade über eine Lithographie gebeugt stand, zu ihm aufsah. «Entschuldigen Sie bitte … Wir suchen den Genossen Bergmann, Ernst Bergmann.»

      «Den könnt ihr lange suchen. Raus hier!»

      Zu einer Hausdurchsuchung reichten die Fakten nicht, und so blieb ihnen nichts weiter übrig, als abzuziehen und es bei Karl Liebknecht zu versuchen. Am schnellsten wären sie mit der neuen UBahn, der sogenannten Nord-Süd-Bahn, am Ziel gewesen. Doch die fuhr noch nicht. Zwar hatte man schon am 2. Dezember 1912 mit dem Bau begonnen, aber auch hier waren die Bauarbeiten kurz nach Beginn des Krieges wieder eingestellt worden. Also blieb ihnen wieder nur die langsam durch die Stadt zuckelnde Straßenbahn. Galgenberg als Berliner Urgestein hatte zwar die Linienpläne der vielen konkurrierenden Straßenbahngesellschaften weitgehend im Kopf, brauchte aber bei deren Durcheinander doch einige Zeit, ehe er herausgefunden hatte, wie sie am besten vom Halleschen Tor zur Chausseestraße kamen.

      «Ganz einfach: Mit der Hochbahn zum Kottbusser Tor und dort umsteigen in die 28.»

      Karl Liebknecht war, nachdem er seine Doktorarbeit an der Julius-Maximilians-Universität in Würzburg mit einem magna cum laude abgeschlossen hatte, nach Berlin gekommen und hatte hier 1899 zusammen mit Oskar Cohn und seinem Bruder Theodor ein Anwaltsbureau eröffnet.

      Als Kappe und Galgenberg dort eintraten und frohgemut nach Ernst Bergmann fragten, schlug ihnen dieselbe eisige Ablehnung entgegen wie schon bei Alfred Stiller. Ein Anwaltsgehilfe gab ihnen einen höhnischen Rat mit auf den Weg: «Kommen Sie doch am 1. Mai auf den Potsdamer Platz, da finden Sie ihn ganz bestimmt.»

      Galgenberg lüftete seinen Hut. «Danke sehr, der Herr, machen wir.»

      Der 1. Mai fiel im Jahre 1916 auf einen Montag, und Kappe nutzte den Sonntag davor, um auf andere Gedanken zu kommen. Das gelang ihm am besten, wenn er Fußball spielte. Schon lange war er ja Mitglied bei Viktoria 89. Vor dem Krieg hatte es bei ihm nie zur ersten Mannschaft gereicht, dazu erschien er den Übungsleitern doch zu ungelenk und schläfrig, aber nun, da die besten Kicker alle im Felde standen, war man froh, mit ihm die Mannschaft auffüllen zu können, und stellte ihn auf. Wenn auch nur als Linksaußen, weil er dort am wenigsten Schaden anrichten konnte.

      Auf dem «Gelände an der einsamen Pappel» an der Schönholzer Allee, einem ehemaligen Exerzierplatz und darum im Volksmund «Exer» genannt, ging es gegen Alemannia 90, im selben Jahr wie Viktoria als «Jugendlust» gegründet.

      Es dauerte eine Weile, bis sie herausbekamen, auf welchem der vielen Plätze sie heute spielen sollten. Als sie es erfahren hatten, bemerkten sie, dass im Vorspiel die Latte zerbrochen war. Nach einigen Mühen war aber ein Zimmermann gefunden, der das gute Stück reparierte.

      Die beiden Mannschaften nahmen Aufstellung. Vor dem Torwart gab es den rechten und den linken Verteidiger, dann kamen die Läufer: rechter Läufer, Mittelläufer und linker Läufer, vor ihnen die Stürmer: der Halbrechte und der Halblinke sowie Rechtsaußen, Mittelstürmer und Linksaußen. Das größte Prestige hatten der Mittelläufer und der Mittelstürmer sowie der Spielmacher auf halbrechts oder halblinks, immer balltechnisch beschlagen und mit dem strategischen Überblick eines Feldherrn.

      Anpfiff. Als der ertönte, musste Kappe unwillkürlich an Galgenberg denken, der sofort gerufen hätte: «Nicht doch, Anpfiffe kriege ick schon im Dienst jenuch!»

      Es war schwer, einmal abzuschalten. Schon gar nicht gelang ihm dies, als ihr Mittelstürmer einen gewaltigen Schuss aufs Tor abgefeuert hatte.

      «Mann, war det ’ne Granate!», rief einer der Zuschauer. Kappe zuckte zusammen, denn er hatte sofort wieder ihren Misserfolg bei der Ergreifung des Handgranatenmörders vor Augen.

      Noch mehr erschrak er aber, als er Klara unter den Zuschauern erblickte. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Sie trat an die Barriere und winkte ihn heran. Er ließ sich Zeit.

      Neben ihm schrie ihr Halblinker auf. Er hatte einen Schuss in den Unterleib abbekommen und wand sich am Boden.

      «Mach hier nicht den sterbenden Schwan!», kam es von den Rängen. «Wir sind nich vor Verdun!»

      «Mann, hab da nich so!», schrie ein anderer. «Det war nur ’n Ball und keen Schrapnell!»

      Ein Dritter gab sich als Sanitäter. «Reib dir den Sack, aber kräftig - und gleich pinkeln gehen, sonst kriegste keene Kinda mehr.» Kappe nutzte die Spielunterbrechung, um zu Klara zu gehen und sie mit einem kurzen Kuss auf die Wange zu begrüßen.

      «Das ist ja lieb von dir, dass du dich mal sehen lässt, wenn ich spiele …»

      «Wir müssen nachher unbedingt noch über unsere Hochzeit reden.»

      Kappe überlegte lange, wie er dem entgehen konnte. Eine Gelegenheit dazu bot sich erst kurz vor dem Halbzeitpfiff. Da stieg er zu einem Kopfball hoch und stieß dabei so unglücklich mit einem Gegenspieler zusammen, dass seine Augenbraue aufplatzte. Das war nicht schlimm, er blutete aber, so sollte es der Schiedsrichter später im Spielbericht vermerken, wie ein angestochenes Schwein und musste ins Krankenhaus, um genäht zu werden.

      Als das erledigt war, sah er den Arzt so treuherzig an, wie er eben konnte. «Ob Sie meiner Braut nicht sagen können, ich hätte eine Gehirnerschütterung und müsste noch zur Beobachtung hierbleiben? Sie möge aber bitte schon nach Hause gehen.»

      «Muss Liebe schön sein», murmelte der Doktor und tat ihm den Gefallen.

      Am nächsten Nachmittag war alles vergessen, nur ein dickes Pflaster klebte noch auf seiner rechten Augenbraue. Kappe hatte sich mit Theodor Trampe in der Waldemarstraße vor der Haustür getroffen, um mit ihm zur großen Maikundgebung auf dem Potsdamer Platz zu fahren. Galgenberg stieß am Kottbusser Tor zu ihnen.

      «Wohl dem, der eine Gehirnerschütterung hat», sagte Galgenberg, als er von Kappes Malheur erfuhr. «Weeß man wenichstens, det da wat is, wat erschüttert werden kann. Bei manch eenem Zeitjenossen wär ick mir da nich so sicher.»

      Während Trampe rein privat zum Potsdamer Platz fuhr, um Karl Liebknecht zu lauschen, waren Kappe und Galgenberg dienstlich unterwegs, wobei Kappe gern das Private mit dem Nützlichen verband, Galgenberg hingegen linke Sozis wie Karl Liebknecht nicht ausstehen konnte.

      «Klar, die Welt muss vabessert werden, aba nich von