Land gezogen ist, sind alte Klosterbücher und Chroniken kaum noch vorhanden. Andreas hat deshalb weiter nördlich und südlich der alten Salzstraße geforscht da, wo er meinte, das könne interessant sein, hat er Teile von Seiten fotografiert. Die liegen ihm jetzt in Vergrößerung vor. Er sortiert, nimmt seine Schreibmaschine und beginnt mit der ersten Übersetzung.
Als er aufblickt, erkennt er, dass Anna von G. ihm interessiert zuschaut. „Du müsstest mir helfen können. Das ist deine Zeit“, spricht er grinsend hoch zu dem Bild.
In ihrem Antlitz erscheint eine leichte Bewegung. Kann das sein? Weil er’s für ein Spiel hält, spricht er weiter: „Reizend von dir, aber lesen kannst du ja nicht, geschweige Latein.“
Er starrt weiter auf Anna, schaut sehr bewusst hin und ist sich jetzt sicher, dass sich ihr Mund zu einem spöttischen Lächeln verändert.
„Du bist ein Wunder“, flüstert er. „Du bist mein Wunder! Verstehst du Latein?“
Das Lächeln verändert sich wieder, wird zu einem wissenden Lächeln während sich ihre Augen im Blick auf seine Schreibarbeit senken. Er empfindet den Blick nun als Aufforderung, fragt deshalb erstaunend: „Willst du mir helfen?“
Die Andeutung einer Zustimmung antwortet. Dann senkt sich ihr Blick wie zu einem Befehl. Andreas nimmt diesen Befehl an und arbeitet weiter. Die Übersetzung geht jetzt rascher voran als bisher. Schon während des Lesens kann er den deutschen Text in die Maschine tippen. Die Freude wächst mit der Arbeit. Erst kurz nach Mitternacht wird er müde. Da ist sehr vieles geschafft. Er liest, was er schrieb und ist erstaunt über die Formulierungen. Die entsprechen der damaligen Zeit und sind doch ins Heute perfekt übersetzt. Er blickt zum Bild wieder auf, erkennt Müdigkeit in den schönen Augen, bedankt sich für ihre Hilfe und wünscht ›eine gute Nacht‹.
Andreas schläft heute schnell ein. Als der Tiefschlaf vorbei ist, träumt er von Anna. Die wandert in langem Gewand durch die Oberburg, rafft ihren Rock bei den zwei Stufen, die sie in die Kapelle führen. Da betet sie, beichtet, lernt aber auch Latein in einem kleinen Nebenraum, in dem der Kaplan sonst allein seine Bibel studiert.
„Ich helfe dir nur, wenn du schweigst“, sagt sie dann direkt zu Andreas Beschwörend drückt sie eine Hand auf den Mund und verschwindet.
Das Läuten des Telefons reißt ihn aus dem Schlaf. Andreas tastet zum Nachttisch, greift daneben, hat es nach weiterem Tasten endlich am Ohr. Seine Freundin wünscht ihm einen guten Morgen. Die Uhr zeigt bereit kurz nach 10. Ilse wähnte ihn längst bei der Arbeit.
„Du wolltest doch fleißig sein. Ist wohl nix“, meint sie kichernd.
„Doch“, sagt er drauf, „ich habe bis tief nach Mitternacht gesammelte Texte übersetzt und bin weit gekommen.“
„Lob, Lob“, antwortet sie und erzählt, dass sie noch eine Woche zu Hause bleiben muss, weil es ihrer Oma sehr schlecht geht und ihre Mutter die Pflege kaum schafft. Das tut ihm sehr leid. Er verspricht ihr, die Zeit allein gut zu nützen, damit sie bei ihrer Rückkehr dann umso mehr voneinander haben.
„Okay, das ist gut. Ich werde wieder anrufen. Küsschen!“ Dann legt Ilse auf.
Andreas erhebt sich, eilt ins Bad, wäscht sich, zieht sich an und grüßt, als er zur Küche eilt, winkend das Bildnis. Ihre Antwort könnte ein Lächeln sein. Sicher ist Andreas sich nicht.
Gut gestärkt setzt er sich wieder zum Schreibtisch, blickt zu ihr auf und sagt: „Ich habe deine Botschaft verstanden. Ich werde schweigen. Sei dessen gewiss.“
Jetzt lächelt sie deutlich und senkt den Blick wieder nach unten wie einen Befehl. Die Arbeit geht weiter im gleichen Tempo wie gestern. Jetzt weiß er, dass Anna Latein wie ihre Muttersprache beherrscht. Für eine Dame des Mittelalters kaum vorstellbar. Selbst viele Fürsten konnten nicht lesen und schreiben, schickten ihre Söhne zu Mönchen, die ihnen das beibrachten.
Gegen 14 Uhr Pause. Der Befehl von oben drückt deutlich auf seine Hände. Die lässt er sinken, schaut Anna an und bedankt sich. Ihr Blick wirkt verschleiert.
„Wir brauchen eine Ruhepause“, sagt er zu ihr. „Ich habe eine Dose mit Spargelsuppe im Schrank. Die Suppe werde ich zu einem Toastbrot genießen, mich auch etwas ausruhen und dann zusammenstellen, was ich aus den Übersetzungen gebrauchen kann.
Andreas setzt sich dann zum Ordnen seiner Übersetzungen auf die Couch, streicht an, was ihm wirklich ganz neu erscheint und nummeriert diese Angaben. Als er sie zusammenfügend aufschreiben will, wird sein Blick wie zwanghaft nach oben gelenkt. Annas jetzt wache Augen blicken nach links, wo die noch nicht übersetzten lateinischen Auszüge liegen. Also geht die Arbeit jetzt weiter. Am Abend sind alle Übersetzungen in erstaunlichem Tempo geschafft. Gut, dass Andreas die vorher geordneten Auszüge noch nicht zusammengeschrieben hat. Einiges Neue passt jetzt dazwischen.
„Ich danke dir, Anna!“, ruft er und wirft einen Handkuss zum Bild. „Warum tust du das alles für mich?“
Ihr Lächeln verstärkt sich ein wenig und ihre Augen erscheinen feucht. Dann schließt sie die wie zum Schlafen und öffnet sie wieder mit einem andeutenden Kopfnicken. Nur dem Schlafenden wird sie antworten. Er lächelt zurück. Jetzt möchte er müde sein, ist aber nach allem mehr angeregt als erschöpft. Er isst in der Küche etwas, trinkt Apfelsaft und verspürt Lust auf einen Spaziergang.
Der Abend ist kühl und mild. Andreas wandert durch die angrenzen Straßen der Saale zu, genießt die Aussicht über den Fluss, geht die steilen Stufen nach unten und wandert am Ufer entlang. Als jenseits der Brücke auf dem Felsen Giebichenstein in Sicht kommt, bleibt er stehen. Die restaurierten Reste der Oberburg sieht er jetzt als Zeugnis eines Schicksals, das ihm immer noch rätselhaft ist, aber längst menschliche Nähe annimmt.
Andreas steht da, bis die ersten Sterne erscheinen. Dann eilt er zurück, duscht sich und geht zu Bett. Vieles geht ihm durch den Kopf, bis ihn endlich der Schlaf einholt – und nach dem ersten Tiefschlaf der Traum, in dem das Bildnis der Frau wieder Wirklichkeit wird.
Ich bin Anna aus Giebichenstein, nicht von G., bin die älteste Tochter eines verarmten Landedelmannes aus der Siedlung Giebichenstein, nahe der Stadt Halle gelegen. Mein Vater hatte fünf Töchter, bis ihm seine Frau endlich den Sohn gebar. Ich wollte als Kind schon ins Kloster, aber da nahm man mich nicht, weil ich keine Mitgift mitbringen konnte. Da sah mich dreizehnjährig der Herr von der Oberburg, Ritter Robert der Alte. Der war eben zum dritten Mal kinderlos Witwer geworden. Er kaufte mich meinem Vater für gutes Geld ab, schenkte ihm noch ein Stück Land dazu und nahm mich zur Frau. Ich sehe noch die Tränen meiner Mutter, als er mich holte. Er war ein elender Bock von Ende der vierzig, hatte nur ein Auge und einen mächtigen Bauch. Ich ekelte mich entsetzlich vor ihm, durfte das aber nicht zeigen, weil es ja nun meine eheliche Pflicht war, ihm ständig zu Willen zu sein – und er wollte es ständig. Er schlug mich sogar, wenn ich einmal zurückzuckte. Nach fast zwei Jahren der Qual gelang es mir endlich, meinen Körper gefühllos zu machen indem ich intensiv betete, wenn er seine Lust an mir ausließ. Die täglichen Morgenandachten in der Kapelle spendeten Trost. Ich floh in den Beichtstuhl, wollte wissen, wie sündig meine Abwehr gegen diesen Bock von Ehemann war. Der Priester nahm mich an, wie ich sprach, führte mich in die Heilige Schrift ein, zeigte mir andere Pflichten und zusätzlich noch, selber vergeben zu lernen.
So verlor ich meine kindliche Angst und wurde zur Frau, die auch Nöte anderer erkannte und zu der Hilfe, die in meinen bescheidenen Kräften lag, immer bereit war. Dem Vogt, der das Gesinde beherrschte, wies ich nach, dass er zum eigenen Vorteil wirtschaftete, Lügen verbreite, sich selber voll fraß und den anderen oft weniger als das Notwendigste gönnte. Der Alte warf ihn raus. Ich erhielt die Schlüssel für Küche und Speicher. Der erfahrenste Knecht teilte nun die Arbeiten vom Gesinde ein. Die Leute dankten es mir.
Der Alte kümmerte sich wenig um meine Arbeit. Ich ordnete an, überprüfte und sorgte mich um die Ernährung, wie ich es bei meiner Mutter gelernt hatte. Die Burg verließ ich nie, durfte sie ja nur zusammen mit meinem Herrn verlassen. Diese Begleitung wollte ich nicht. So drängte es mich auch nicht, obwohl ich an manchem Tag gern meine Mutter gesehen hätte. Nur zufällig erfuhr ich von ihrem Tod, weinte und betete zehn Ave-Maria für sie.