erreichte die Merseburger Straße. Eggebrecht ging langsamer, um sie nicht einzuholen. Sie stand an der Fahrbahn und wartete. Auf der Merseburger Straße fuhren Lastwagen mit Waren für das Umland, auch Personenwagen donnerten die Straße entlang. Eggebrecht blieb an einer Haustür stehen. Die schwarze Frau schaute auf die Straße. Was er von ihrem Profil sah, sprach nicht für die zerknitterte Tüte. Sie drehte sich allerdings nicht so weit herum, dass Eggebrecht ihre Gesichtszüge hätte erkennen können.
Zwischen zwei Lastwagen schlüpfte sie auf die andere Straßenseite. Eggebrecht folgte ihr, so schnell der Verkehr es zuließ. Als er die andere Straßenseite erreichte, sah er die schwarze Frau bereits nach rechts in die Cranachstraße biegen. Zwischen den Mietshäusern wirkte sie in ihrer eleganten schwarzen Kleidung wie ein Fremdkörper, so als hätte sich ein Reh in eine Wüstenei verlaufen.
Sie verschwand aus seinem Blickfeld. Er wusste, dass ihr nur ein paar Meter bis zur nächsten Straßenecke blieben, also sputete er sich. Dabei merkte er, wie ihm der Spaziergang guttat. Der Müßiggang gab ihm Ruhe. Er tat einfach ein paar Tage nichts. Er zog keine Aufträge an Land, führte keine Telephonate mit Redaktionen, sondern lief eine Weile durch die Stadt und schaute eleganten Damen hinterher …
Eggebrecht erreichte die Straßenecke – die Frau war verschwunden. Die Mietskasernen warfen lange Schatten. Sie schienen müde zu sein von den kurzen Tagen. Die Märzsonne kämpfte gegen das Leipziger Wintergrau, noch mit spärlichem Erfolg. Bäume oder gar Knospen gab es hier nicht. Wohnte die schwarze Dame hier? Das Reh in einer Oase im zweiten oder dritten Stock?
Was soll’s, dachte Eggebrecht. Für Frauen interessierte er sich zurzeit wie für Rennautomobile: Er sah ihnen gern nach, brauchte sie aber nicht. Die letzte Liaison mit einer dieser Künstlerinnen in Berlin war gerade erst zu Ende gegangen. Er konnte nicht einmal sagen, woran das lag oder wer von beiden die Trennung ausgesprochen hatte. In den letzten Jahren traf er immer auf die falschen Frauen. Davon brauchte er erst mal eine Auszeit.
Er schaute die Straße hinunter. An der Ecke zur Reuterstraße stand ein Lastwagen vor einer Baustelle. Zwei Arbeiter verschlossen die Laderampe, offenbar nahte der Feierabend. Bei dem Wagen handelte es sich augenscheinlich um ein älteres Modell, denn einer der beiden begann, mittels einer Kurbel den Motor in Gang zu setzen. Die Maschine brüllte kurz auf und tuckerte dann vor sich hin. Der Mann mit der Kurbel sprang ins Fahrerhaus, und der Wagen rollte los. Vor dem Eckhaus wurden Stapel von Pflastersteinen sichtbar. Eine Plane verdeckte vermutlich weitere Baustoffe.
Hinter den Baumaterialien stand ein Bär von einem Mann. Er trug eine dicke Arbeitsjacke und wandte Eggebrecht den Rücken zu. Eggebrecht kamen die Bewegungen des Kopfes unter der Prinz-Heinrich-Mütze bekannt vor. Er sah trotz des Gegenlichtes, dass der Mann sich unterhielt – mit wem, blieb ihm verborgen. Der Mann schritt zur Straßenecke. Diesen Gang, den kannte Eggebrecht genau. Aus dem Schatten trat eine Frau an die Seite des Mannes – die schwarze Frau. An der Ecke wandten die beiden sich stadteinwärts. Eggebrecht sah das Profil der Frau. Sie hatte sich bei dem Mann untergehakt. Sie sah älter aus, als er erwartet hatte. Aber sonst: Charakterwangen, Stupsnase, Lidstrich.
Auch auf das Gesicht des Mannes fiel ein Strahl der tiefstehenden Abendsonne. Eggebrecht zuckte zusammen, als er ihn erkannte: Die Frau lief Arm in Arm mit seinem Vater.
Konrad Katzmann schaltete das Radio ein, er brauchte Ablenkung. Das Orchester spielte die spanische Rhapsodie von Ravel. Wie jeden Wochentag sendete die Mitteldeutsche Rundfunkgesellschaft nach Wetterdienst, Presseschau und Börsennachrichten Musik von Schallplatten. Katzmann hatte die Ansage verpasst, so wusste er nicht, welches Orchester auf der Platte zu hören war, die gerade gespielt wurde. Es war ihm auch nicht wichtig. Die Papiere auf dem Tisch zeigten das Arbeitspensum für den Nachmittag an: ein Stapel Blätter, den er normalerweise in einer halben Stunde gesichtet hätte. Nur sausten seine Gedanken immer noch umher wie ein Schwarm Fliegen.
Katzmann sah die Papiere durch. Sie behandelten einen Überfall auf den Genossen Kutscher. Der SPD-Landtagsabgeordnete war bei einer Veranstaltung von einer rechten Schlägerbande angegriffen worden und musste im Krankenhaus behandelt werden. Leistner wollte ein Porträt des Genossen im Blatt haben, so schnell wie möglich. Und nun lagen die Dokumente auf dem Tisch in Katzmanns Souterrain-Bude: eine Abschrift von Kutschers Aussage bei der Polizei, eine Reihe von stichpunktartig hingekritzelten Augenzeugenberichten, ganz obenauf zwei kurze Artikel aus der LVZ.
Natürlich lehnte Katzmann jeden gewaltsamen Überfall ab, auf einen Sozialdemokraten erst recht. Nur befürchtete er, dass Leistner einen Propaganda-Artikel erwartete. Der Chefredakteur selbst war nicht zu sprechen gewesen und hatte den Kollegen Krause von der Politik mit den Unterlagen geschickt. Katzmann fragte sich, warum Krause den Text nicht gleich selbst verfasste – die von der Politik wussten sowieso immer alles besser.
Ob seine persönliche Beziehung zu Kutscher in der Redaktion bekannt war? Die längst vergangene Affäre mit der heutigen Liesbeth Kutscher? Das konnte er sich nicht vorstellen. Dennoch kam ihm die Sache komisch vor.
Er nahm den ersten Artikel zur Hand.
Gemeiner Überfall
Am Wochenende ist eine Veranstaltung der SPD im Nordpol in Wiederitzsch brutal überfallen worden. Eine Horde von einem Dutzend Stahlhelm-Schergen ging mit Knüppeln auf die friedliche Versammlung los. Den Arbeitern gelang es, die braune Bande zurückzuschlagen. Allerdings wurde der Gastredner Wolfram Kutscher, Landtagsabgeordneter der SPD, von den Verbrechern am Kopf verletzt. Er musste im Hospital behandelt werden. Dem Vernehmen nach geht es Kutscher den Umständen entsprechend gut.
Katzmann schaute auf den Zeitungsausriss. Nachdem er das Datum vom Montag der vergangenen Woche registriert hatte, legte er das Blatt beiseite. Der nächste Ausriss war auf den vergangenen Freitag datiert.
Abgeordneter Kutscher aus Hospital entlassen
Der bei einem hinterhältigen Überfall verletzte SPD-Politiker Wolfram Kutscher nimmt seine politische Arbeit wieder auf. Seine Kopfverletzung sei zufriedenstellend verheilt, sagte Kutscher unserer Zeitung. Von rechten Verbrechern werde er sich nicht einschüchtern lassen. Wann Kutscher wieder an Landtagssitzungen teilnehmen kann, ließ er vorerst offen. Kutscher war bei einem Überfall von Stahlhelm-Schergen auf eine Parteiveranstaltung in Wiederitzsch mit einem Knüppel niedergeschlagen worden.
Das war’s. Mehr LVZ-Artikel fand er nicht in den Papieren. Nur diese knappen Worte – und nun sollte Katzmann das Pamphlet dazu schreiben … Warum kamen sie damit zu ihm?
Im Radio fiedelte das Orchester, und Katzmanns Gedanken schwärmten wieder aus – geradewegs zu Liesbeth Kutscher. In seinen ersten Leipziger Wochen war er ihr sehr nahe gekommen. Seinerzeit hieß sie mit Nachnamen noch Weymann. Zehn Jahre lag das zurück … Ob er Liesbeth treffen würde, wenn er mit Kutscher sprach? Und würde sie ihn wiedererkennen?
Katzmann dachte an sein Spiegelbild und an alte Photographien von ihm. Da gab es erhebliche Unterschiede. Nein, er hatte keinen Bauch bekommen wie viele seiner Kollegen, und abgesehen von den Geheimratsecken gab es auf seinem Kopf auch noch etwas zu kämmen. Nur sah er jetzt eben aus wie ein Mann und nicht mehr wie ein Junge im Anzug. Hatte Liesbeth sich stärker verändert als er?
Das bekam er nur heraus, wenn er sie traf. Er nahm die Blätter und suchte nach einer Adresse … Die Kutschers wohnten in der Bismarckstraße 21. Vornehme Gegend für einen Sozi, dachte Katzmann. Oder gab es da zwischen den Villen auch bescheidenere Bauten?
Katzmann überlegte. Wenn er zu Eggebrecht nach Lindenau fuhr, konnte er den Weg über die Bismarckstraße nehmen. Er schaute auf seine Taschenuhr: zehn nach sechs. Noch ein bisschen zu früh, um in den Leipziger Westen zu fahren. Andererseits, wenn er gleich startete, konnte er sich in Ruhe ein Bild von Kutschers Wohnumfeld machen.
Als Katzmann das Radio ausschaltete, klang es, als habe jemand mit einer riesigen Fliegenklatsche auf die Musiker gehauen: Ein Klack, und es herrschte Ruhe in der Kiste.
Katzmann nahm den Motorradmantel und den Helm vom Haken. Er faltete das Blatt mit der Adresse, steckte es ein und verließ die Wohnung.
Das Motorrad musste bald wieder zur Reparatur. Katzmann hörte im Tuckern des Motors schon wieder ein Geräusch, das nicht dahin gehörte. In