den Süden. Irgendwo hin, wo die Winter nicht so hart, nicht so ewig lang, dunkel und kalt sind.
In der Stadtbücherei hat sie ein Buch über Italien mit nachhause genommen und es zusammen mit ihrer Tochter Elin angeschaut. Sonnengeflutete Plätze, warmes, blaues Meer, Blumen in allen Farben, dazu Zitronenbäume und Zypressen. Sie seufzt noch einmal, als sie an die Bilder denkt. Ihr Traum. Einmal im Leben dorthin. Sie schüttelt den Kopf. Schluss jetzt mit der Träumerei. Immerhin hat sie ein Dach über dem Kopf, wenngleich ein undichtes, und eine Arbeit, die es ihr und ihrer Tochter ermöglicht, unabhängig zu leben. Zwar nicht im Wohlstand, doch sie hungern nicht und das ist schon viel, sehr viel wert.
Sie blickt zu ihrer kleinen Tochter hinüber. Ihre Haare leuchten in der Sonne feuerrot. Das grüne, selbstgenähte Kleidchen ist schon bald wieder zu klein. Wie schnell die Zeit vergeht, denkt sie ein bisschen wehmütig. Noch vor kurzem war sie ihr Baby, morgen feiert sie bereits ihren vierten Geburtstag.
„Elin, komm zu mir. Ich muss dir was sagen“, ruft sie ihre Tochter.
Elin kommt freudig zu ihr gelaufen, wie immer mit einem Lächeln auf dem zarten Gesicht, das ihre grünen Augen wie Sterne strahlen lässt.
Steinunn fängt sie auf und dreht sich mit ihr im Kreis, bis Elin laut jauchzt.
„Du bekommst einen neuen Papa, eine ältere Schwester und ein ganz kleines Brüderchen. Im Herbst ziehen wir zu ihnen. Es wird dir dort gefallen. Es gibt Schafe, Kühe und Pferde. Du wirst sehen, es ist sehr schön dort.“
Sie hofft, dass sie mit Magnus die richtige Wahl getroffen hat. Sie braucht einen Mann und einen Vater für Elin. Allein kommt sie kaum mehr über die Runden. Als Hebamme hat sie keine regelmäßigen Einnahmen, auch die kunstvoll gestrickten Wollpullover und Socken, die sie in der Stadt verkauft, bringen nicht genügend Geld ein. Das karge, regelmäßige Einkommen muss sie sich mit Waschen und Bügeln verdienen. Sie wünscht sich mehr, vor allem für Elin. Nach der Schule ein Studium, vielleicht sogar im Ausland. Das alles ging ihr durch den Kopf, als Magnus Olafson ihr einen Heiratsantrag machte. Ein liebenswürdiger Mann, der sich in ihre roten Haare verliebt hat und der ihr und ihrem Kind ein Zuhause schenken möchte.
„Eine neue Schwester und ein Brüderchen?“ Elin tanzt vor Freude und hüpft von einem Bein auf das andere. „Oh ja und viele Tiere. Darf ich die alle streicheln?“
Die Mutter nickt und streicht ihr die widerspenstigen Löckchen aus dem verschwitzten Gesicht.
Elin hüpft zurück zu ihrer Puppe. „Ich bekomm ein Brüderchen. Ich bekomm ein Schwesterchen“, singt sie.
Steinunn ist beruhigt. Ihr kleines Sonnenkind wird sich sicher sehr schnell in die neue Familie einfügen.
Staunend steht die kleine Elin neben ihrer Mutter vor ihrem neuen Zuhause. Es ist so groß, dass ihr kleines Holzhaus viermal hineinpassen würde. Verzagt greift sie nach der Hand ihrer Mutter. Gemeinsam treten sie durch die Holztür.
Vor dem neuen Vater ist ihr ein bisschen bange. Er ist groß und lacht laut. Aber er ist nett, kneift sie in die Wange und streicht ihr über das rote Köpfchen. Elin ist in einem Frauenhaushalt aufgewachsen, daher muss sie sich erst an den großen Mann gewöhnen. Sie vermisst die Oma, die vor einem Jahr gestorben ist und die mit Mama und ihr in dem schiefen Haus wohnte. Aber sie hat der Mama versprochen, eine brave Tochter zu sein und alle im Haus liebzuhaben und das möchte sie auch.
Die erste Begegnung findet in der Küche statt. Magnus öffnet die Tür und lässt die beiden eintreten.
Um einen großen Holztisch sitzen die Knechte und die Magd, die sich sogleich erheben und mit neugierigen Blicken die neue Frau und das kleine Mädchen mustern. Sie haben sie vor einem Jahr schon einmal gesehen, als Steinunn als Hebamme der verstorbenen Bäuerin beistand. Dass sie jetzt allerdings als Hausfrau hier einzieht, ist für alle ein wenig fragwürdig. Dazu das fremdartige Aussehen. Beide diese leuchtend roten Haare, die grünen Augen und die zarten Gesichter. Elfenfrau und Trollenkind hat die alte Saga gesagt und die muss es ja wissen.
Elin spürt kein Wohlwollen, keine Wärme, als sie brav ihren Knicks vor der alten Frau macht, die vor dem Herdfeuer sitzt. Auch die jüngere Frau, die am Herd steht und sich langsam umdreht, hat kein Lächeln übrig. Elin weicht erschrocken zurück und versteckt sich hinter dem Rock der Mutter. „Ich will zum Brüderchen und zum Schwesterchen“, bettelt sie leise und versucht, ihre Mutter aus dieser eisigen Atmosphäre zu ziehen.
Da öffnet sich die Tür und Magnus schiebt ein Mädchen in den Raum. Elin linst neugierig hinter dem Rücken der Mutter vor. Das muss die neue Schwester sein. Ein offenes Lächeln überzieht ihr kleines Gesicht.
„Schau Kristin, das ist Elin, deine neue Schwester und das ist deine neue Mutter.“
Das Mädchen wirft ihnen einen bösen Blick zu. „Ich will keine neue Mutter und keine neue Schwester“, ruft sie, dreht sich um und stürmt mit lauten Schritten die Treppe hinauf.
Elin, die ein paar Schritte auf das Mädchen zugegangen ist, greift schnell wieder nach der Hand der Mutter und steckt den Kopf in ihren Rock. Unsichtbar werden, nicht mehr hier sein, das wünscht sie sich und kämpft mit den Tränen. Auf Elins Sonnenwesen legen sich erste Schatten.
Elin fährt sich über die Augen. Wie lebendig und überaus deutlich die Bilder der Vergangenheit waren.
Michael blickt gedankenverloren in die Flammen.
„Können wir morgen weiterreden?“, fragt sie leise. „Ich fühle mich so unendlich müde.“
Michael steht auf und setzt sich vor Elin auf den Teppich. „Es tut mir leid, dass ich so aufgebracht war. Doch ich trage die Enttäuschung schon so lange mit mir herum. Jetzt hat sie sich halt einen Ausgang gesucht. Vielleicht ist es auch gut so, denn jetzt können wir endlich alles Trennende aus dem Weg räumen.“ Er berührt leicht ihre Hände. „Du bist ja ganz heiß. Hast du Fieber?“ Er fühlt ihre Stirn. „Du hast tatsächlich Fieber.“
„Liebst du mich noch?“, fragt sie leise. Ihre Augen sind riesengroß und dunkel.
„Natürlich, was denkst du denn“, erwidert er betroffen über die Verzweiflung, die mitschwingt.
„Dann ist es ja gut.“ Sie schließt die Augen. Michael trägt sie die Treppe hinauf, legt sie behutsam aufs Bett und deckt sie zu.
Draußen tobt der Sturm um das kleine Holzhaus. Drückt und presst sich mit sirrendem Geheul dagegen. Er rüttelt an den Fensterläden, als wolle er hereinkommen, um ihr das mühsam aufgebaute Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit zu rauben. Elin kauert sich tiefer in den breiten Ohrensessel und zieht sich die Wolldecke bis ans Kinn.
Sie ist ihnen ausgeliefert. Sie kann nichts anderes tun, als zu warten. Sie werden kommen, das spürte sie bereits am Morgen, als der Schnee mit harmlosen Flocken das karge, braune Vulkanland mit einem funkelnden, weißen Teppich bedeckte.
Plötzlich flackert das kleine Gaslicht, gebärdet sich in seinem Glasgehäuse wie wild, zuckt noch ein paarmal wie im Todeskampf, dann gibt es auf und erlischt. Dunkelheit erfüllt den kleinen Raum. Elin schreit leise auf, doch sie bleibt wie gelähmt sitzen und harrt der Dinge, die nun kommen, zwangsläufig kommen müssen.
Der Wind nimmt an Kraft zu, drückt so stark gegen den dünnen Holzladen, dass dieser mit Ächzen und Knarzen nachgibt und bricht. Holzteile bohren sich durch das Fenster. Glas klirrt und gibt den Weg frei für die eisigen Böen mit ihrer Schneelast.
In kürzester Zeit sind der braune Holzfußboden und der runde, fadenscheinige Teppich von einer Puderzuckerschicht bestäubt.
Das Herdfeuer gibt nun auch den Kampf auf. Kälte breitet sich aus, kriecht unter Elins Wolldecke, hüllt sie ein.
Plötzlich liegt ein Singen in der Luft. Hohe Töne, schrill schwingend, dringen durch das offene Fenster zu ihr herein.
Elin zieht die Beine auf den Sessel und stülpt sich die Decke über den Kopf.
Die Elfen aus Hafnarfjördur. Jetzt ist die Zeit der Abrechnung gekommen!
Elin schreit gellend auf.