Susanne Zeitz

Sturmzeit auf Island


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geht es gut. Sie besitzen eigenes Land, Schafe, Pferde und ein paar Milchkühe. Käse, Milch, Haferbrei und frisch gebackene Brötchen kommen jeden Tag auf den Tisch und im Vorratsraum hängt Trockenfisch für den langen Winter. Sogar ein paar Säcke Weizen lagern dort. Sie sind nicht so arm wie die Fischer, die mit ihren kleinen Booten auf dem rauen Meer ihr Brot verdienen müssen. Oft ein gefährliches Unterfangen. Kristin kennt einige Familien, in denen der Vater, Bruder oder Onkel nicht mehr zurückgekommen ist. Sie hat Angst vor der grauen, tobenden See, die sich mit hohen, schäumenden Wellen an die Klippen wirft und diejenigen in die Tiefe reißt, die ihr nicht den nötigen Respekt zollen. Kristin weiß, dass sie nicht allein am Strand oder gar auf den Klippen spielen darf. Saga hat ihr vom großen Wassergeist erzählt, der nur darauf warte, ungehorsame Kinder in sein grünes Muschelschloss auf dem tiefen Grund des Meeres zu verschleppen.

      Als der große Küchentisch abgeräumt ist, Magnus und die Knechte wieder ihrer Arbeit nachgehen, rücken die Frauen ihre Stühle näher an das Herdfeuer und beginnen mit ihren Handarbeiten. Socken und Hemden müssen geflickt und schwere, dicke Pullover für die Männer bis Weihnachten fertiggestrickt werden.

      Kristins Mutter arbeitet emsig an einem Babyjäckchen, während ihre Tochter an einer wollenen Überdecke strickt, die ein Geschenk für das Geschwisterchen werden soll.

      Draußen tobt der Sturm ums Haus und treibt Schneewolken vor sich her. So kalt, dunkel und unwirtlich es draußen ist, so heimelig und hell ist es in der Küche. Kristin fühlt sich geborgen und sicher. Erwartungsvoll schaut sie zu Saga hinüber.

      „Oma, bitte erzähl uns etwas von den Trollen oder noch besser von der Elfenkönigin, die in der Alfaborg lebt. Sag, gibt es wirklich gute und böse Elfen?“

      Saga scheint sie nicht gehört zu haben. Sie sitzt zusammengesunken auf ihrem Stuhl, die Wolldecke über die Beine gebreitet und starrt in das lodernde Herdfeuer. Ihre sonst so emsigen Hände liegen gefaltet in ihrem Schoß. Zerfurcht und verrunzelt erinnern sie Kristin an braune Lavasteine. Sie weiß nicht, was ihr mehr Unbehagen bereitet, der starre Blick oder die untätigen Hände. Sie schaut hilfesuchend zu ihrer Mutter. „Was ist mit Oma?“, flüstert sie.

      „Sie wird müde sein. Lass sie in Ruhe.“ Ihre Mutter scheint die Schwere, die plötzlich über dem niedrigen Raum schwebt, nicht zu spüren. Sie stemmt sich mit beiden Händen am Tisch ab und erhebt sich schwerfällig. „Ich lege mich eine Weile aufs Bett. Ich bin so müde“, entschuldigt sie sich, hüllt ihre Strickarbeit feinsäuberlich in ein Stofftuch, legt sie ins Regal und stapft mit schweren Schritten die Treppe hinauf.

      „Saga, was siehst du?“, fragt nun die Magd und blickt bang zu der alten Frau, auf deren faltigem Gesicht die Flammen unruhige Schatten zeichnen.

      „Nichts Gutes. Es kommt Unglück über uns! In der Nacht sind Elfen an unserem Haus vorbeigezogen. Sie haben ein trauriges Lied gesungen.“ Saga spricht leise und hält ihren Blick weiter auf die Flammen gerichtet. „Sie haben mit ihren langen Armen auf unser Haus gezeigt.“ Jetzt zittert sie am ganzen Körper. Kristin springt auf und greift nach ihren Händen. Wie kalt sie sind! Wie aus der Trance erwacht, schaut die Alte ihre Enkelin an. Ihre Augen scheinen das Kind jedoch nicht wahrzunehmen, ihr Blick geht durch sie hindurch. Tief und dunkel.

      „Unglück kommt“, murmelt sie vor sich hin. „Ein schweres Unglück.“

      „Was wird passieren?“, fragt die Magd ängstlich.

      „Ich weiß es nicht“, antwortet Saga, schüttelt sich und richtet sich auf. „Lasst uns mit der Arbeit fortfahren, sonst werden wir bis Weihnachten nicht fertig.“

      Der Dezember bringt viel Schnee. Der Sturm tobt und heult weiterhin mit unverminderter Kraft ums Haus. Die Tage vergehen langsam in der nicht enden wollenden Dunkelheit.

      Kristin zählt voll angstvoller Ungeduld die Tage bis Weihnachten. Wenn erst das Christkind da ist, dann kann ihnen das Unheil nichts mehr anhaben.

      Der Tag vor dem zweiten Advent beginnt mit einer schicksalsträchtigen Unruhe. Während Kristin sich in ihrer Kammer ankleidet, hört sie aufgeregte Schritte auf der Treppe. Hinauf und hinunter. Vertraute und fremde Stimmen, immer wieder werden Türen geöffnet und geschlossen. Alles mündet im Zimmer ihrer Mutter, wie große Wellen, die auf das Land zulaufen. Kristin öffnet vorsichtig die Tür, linst durch den Spalt auf den schmalen Flur und spitzt die Ohren. Seufzen und Stöhnen, ab und zu kleine, spitze Schreie. Ihr Herz schlägt unruhig. Was hat das alles zu bedeuten? Plötzlich eilt eine fremde Frau in das Zimmer ihrer Mutter. Kristin erstarrt. So rote Haare hat sie noch nie gesehen. Das kann nur eine Elfe sein. Mit einem Schrei rennt sie die Treppe hinunter und landet direkt in den Armen der Großmutter.

      „Eine Elfenfrau ist in Mutters Kammer verschwunden“, weint sie, steckt ihren Kopf in Sagas Rock und umschlingt mit beiden Armen ihre rundliche Taille.

      „Kind, ich habe jetzt keine Zeit für dich. Die Hebamme ist gerade gekommen. Ich muss zu deiner Mutter. In der Küche steht Haferbrei für dich.“ Ungeduldig schüttelt sie das Kind ab und stürzt die Treppe hinauf.

      Kristin bleibt vor der offenen Küchentür stehen. Die Puppe an sich gepresst, die Augen vor Schreck weit geöffnet und am ganzen Leib zitternd. So findet sie die Magd.

      „Kindchen, musst keine Angst haben. Wird schon alles gut. Das Brüderchen kommt heute auf die Welt und das tut der Mama halt Schmerzen machen.“ Mit diesen Worten, die aber nicht zu ihrem aufgeregten, ängstlichen Gehabe passen, schiebt sie Kristin in die Küche, drückt sie auf den Stuhl und stellt eine Schüssel Brei vor sie auf den Tisch. Lustlos stochert Kristin darin herum. Irgendetwas Ungutes liegt in der Luft. Sie spürt es genau. Ängstlich faltet sie ihre Hände. „Lieber Gott. Bitte hilf der Mama.“

      Zum Mittagessen treffen sie sich in der Küche. Auf dem großen Holztisch steht ein dampfender Topf mit Suppe. Leise betreten nach und nach die Knechte die Küche. Mit ernstem Gesicht kommt der Vater an den Tisch. Mechanisch streicht er Kristin über die Haare.

      „Wir müssen beten“, murmelt er, „wir müssen beten!“

      Nach einer Weile betritt Saga die Küche, im Schlepptau die rothaarige Frau. Kristin greift nach der Hand des Vaters. Ihr kleines Herz pocht ängstlich. Verstohlen mustert sie die Elfenfrau, die sich schwer auf den Stuhl fallen lässt. Leuchtend rote Haare und grüne Augen, die ihr gütig zublinzeln. Kristin schaut schnell weg. Was hat Saga vor kurzem gesagt? „Du darfst einer Elfe nie in die Augen schauen, sonst gibt es ein Unglück.“ Und jetzt sitzt eine Elfe sogar an ihrem Tisch und lächelt ihr zu. Kristin versteht das alles nicht. Hilfesuchend schaut sie zu ihrer Oma, doch diese flüstert mit der Magd und schenkt Kristin keine Beachtung.

      „Du solltest den Arzt rufen. Da genügt die Hebamme allein nicht mehr“, sagt die Frau leise zu Magnus. Dem Kind wirft sie einen mitleidigen Blick zu.

      Am Abend, als Kristin zu Bett geht, darf sie ihrer Mutter einen kurzen Besuch abstatten.

      „Mama?“ Kristin blickt scheu in das wachsweiße, aufgedunsene Gesicht einer Fremden.

      „Komm zu mir, mein Schatz“, flüstert Hekla und streckt ihrem Kind die Hand hin. „Jetzt kommt bald das Brüderchen und dann geht es mir bald wieder besser.“ Ihre Stimme klingt kraftlos, wie die Hand, mit der sie ihrer Tochter über den Arm streichelt. Der Hauch eines Schmetterlings. Kristin erschaudert und eine undefinierbare Angst erfüllt sie.

      „Geh nun ins Bett, mein Liebling, und Gott segne und behüte dich.“

      Kristin erwacht von einem markerschütternden Schrei. Danach Stille. Mit einem Ruck setzt sie sich im Bett auf und knipst das Nachttischlämpchen an. Ihr Herz pocht und das Blut rauscht in ihren Ohren. Angstvoll presst sie ihre Puppe an sich. Schritte eilen die Treppe hinauf und hinunter. Laute, aufgeregte Stimmen, dazwischen Schluchzen und Weinen.

      Kristin springt aus dem Bett, öffnet ihre Tür und linst vorsichtig um die Ecke. Niemand zu sehen. Leise schleicht sie über den Flur. Gleich ist sie bei der Mama.

      „Kristin, nicht!“ Ihr Vater eilt mit großen Schritten auf sie zu und zieht sie von der Tür weg. „Du kannst jetzt nicht hinein. Geh auf dein Zimmer und sei ein braves Mädchen.“